Rn 3

Abs 1 S 1 normiert einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch sui generis, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind (BTDrs 17/3802, S 15; BGH 7.11.19 – III ZR 17/19, MDR 20, 96). Maßstab ist der Anspruch auf Entscheidung des Verfahrens in angemessener Zeit aus Art 19 IV, 20 III GG, 6 I EMRK. Sowohl der Entstehungsgeschichte als auch der Gesetzesbezeichnung und Überschrift des siebzehnten Titels des GVG ist zu entnehmen, dass die Bestimmungen der Verhinderung überlanger, gegen die EMRK verstoßender Verfahrenslaufzeiten dienen. Schlichte Verzögerungen führen nicht ohne Weiteres zu einer unangemessenen Dauer. Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt (BGH NJW 14, 220 [BGH 14.11.2013 - III ZR 376/12]).

 

Rn 4

Allgemeingültige Zeitvorgaben für die Erledigung von gerichtlichen Verfahren gibt es nicht. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (BVerfG 13.8.12 – 1 BvR 1098/11). Dabei sind Schwierigkeit, Umfang, Komplexität des Falles und das Verhalten des Anspruchstellers unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung zu berücksichtigen.

 

Rn 5

Soweit die Rspr teilweise eine Entschädigungspflicht für ›Zeiten gerichtlicher Inaktivität‹ unter Abzug einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit annimmt, schießt sie über das Ziel hinaus (zB Zubilligung einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten und Entschädigung für eine Verzögerung von einem Monat in einer Bagatellsache, LSG Berlin-Brandenburg 30.10.19 – L 37 SF 38/19 EK AS). Immer wieder vorkommende, aber nicht bedenkliche Liegezeiten stellen keine menschenrechtswidrige Verzögerung nach dem Maßstab des Art 6 Abs 1 EMRK dar, die zu einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR geführt hätte.

 

Rn 6

Schon aufgrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit muss dem Gericht eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Dies erfordert einen Gestaltungsspielraum, der es ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit des Falles ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind (BGH NJW 14, 220 [BGH 14.11.2013 - III ZR 376/12]). Die besonders intensive Befassung mit einem in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht schwierig erscheinenden Verfahren führt zwangsläufig dazu, dass während dieser Zeit die Förderung anderer diesem Richter zugewiesener Verfahren vorübergehend zurückstehen muss. Der Anspruch auf Erlangung einer gerichtlichen Entscheidung in angemessener Zeit kann bei der Ausübung des Ermessens ausreichend berücksichtigt werden. Das Ermessen kann sich im Verlauf eines Verfahrens zu einer Pflicht verdichten, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (BVerfG NJW 13, 3630 [BVerfG 22.08.2013 - 1 BvR 1067/12]). Im nachfolgenden Entschädigungsprozess wird die Verfahrensführung des Richters nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Im Rahmen des Gestaltungsspielraums liegt es auch, bei Massenverfahren einzelne ›Musterverfahren‹ als vordringlich zu behandeln und andere Verfahren zurückzustellen, auch wenn die Voraussetzungen des § 248 ZPO nicht vorliegen (BGHZ 204, 184 = NJW 15, 1312).

 

Rn 7

Verzögerungen Dritter sind dem Gericht zuzurechnen, wenn das Gericht Möglichkeiten zur Vermeidung hat, aber nicht nutzt. Ein pflichtwidriges Verhalten ist nicht Voraussetzung. Umstände, die innerhalb des staatlichen Einflussbereichs liegen, entlasten den Staat nicht. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Die Länder haben für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen und müssen dabei gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch geeignete Maßnahmen reagieren (BVerfG aaO).

 

Rn 8

Der zu ersetzende Nachteil muss durch die Verfahrensdauer verursacht worden sein. Dafür ist es irrelevant, ob das Begehren im Ausgangsverfahren Aussicht auf Erfolg hatte (BGH, Urt v 13.4.17 – III ZR 277/16). Der Ersatz für materielle Nachteile ist beschränkt auf eine ›angemessene‹ Entschädigung, die anders als der Schadensersatz nach den §§ 249 ff BGB keinen entgangenen Gewinn einschließt.

 

Rn 9

Abs 2 S 1 enthält eine widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung eines immateriellen Nachteils durch übe...

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