Rn 37
Die Überlastung oder ungenügende Auslastung wird grds zu Recht daran gemessen, ob und inwieweit der Geschäftsanfall – das sind die Eingänge, nicht die unerledigten Bestände – für den Richter oder den Spruchkörper ober- oder unterhalb des rechnerischen Solls liegt. Das rechnerische Soll ergibt sich aus den ›Pensenschlüsseln‹, mit denen die Ministerialbürokratie beim Haushaltsgesetzgeber den Bedarf an Richterstellen transparent macht und einwirbt. Überwiegend gilt gegenwärtig das analytisch/mathematische Modell PEBB§Y, bei dem der durchschnittliche Zeitbedarf für die richterliche Bearbeitung eines Falls aus einer bestimmten Rechtsmaterie (etwa: Wohnungsmietsachen) in Minuten pro Fall (›Fallpauschale‹) ermittelt und auf die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Richter in Minuten umgerechnet wird, sodass die Anzahl der jährlich im Soll befindlichen Verfahren dieser Art anhand der verfügbaren Jahresarbeitszeit berechenbar ist und anhand der Eingangszahlen – dazu krit BbgVerfG NVwZ 10, 378 f [VerfG Brandenburg 17.12.2009 - VfGBbg 30/09] – in einen Richterbedarf umgesetzt werden kann. Unabhängig von diesem allein rechnerischen Ansatz liegt eine Überlastung des Spruchkörpers vor, wenn über einen längeren Zeitraum die Eingänge die Erledigungen so sehr übersteigen, dass mit deren Erledigung innerhalb angemessener Zeit nicht mehr zu rechnen ist (BGH Beschl v 25.3.15 – 5 StR 70/15 – Rz 8) und ein Ausgleich nach Abs 3 S 1 nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres zurückgestellt werden kann, ohne die Effizienz des Geschäftsablaufs durch Justizgewährung in angemessener Zeit erheblich zu gefährden (BGH Beschl v 10.7.13 – 2 StR 116/13 – Rz 18).
Die Überlastung (Überbeanspruchung) eines Richters verstößt nicht gegen Art 101 I 2 GG, weil sie den Richter nicht zwingt, das überobligatorische Pensum zu erfüllen (BVerfGK NJW 12, 2334 Rz 16). Der Richter ist nicht verpflichtet, die ihm nach dem GVP zugewiesenen Aufgaben in vollem Umfang und ohne Beschränkung seines zeitlichen Einsatzes zu erledigen. Die sich aus Art 97 I GG ergebende Freiheit der Arbeitszeitgestaltung bedeutet nicht, dass der Richter zeitlich unbeschränkt zur Erledigung verpflichtet ist. Die von ihm zu erbringende Arbeitsleistung orientiert sich vielmehr pauschalierend an dem Arbeitspensum, das ein durchschnittlicher Richter vergleichbarer Position in der für Beamte geltenden regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bewältigt (BVerfGK NJW 12, 2334 Rz 17). Die richterliche Unabhängigkeit lässt ihm die Freiheit, die Überlastung durch überobligatorischen zeitlichen Einsatz zu tragen, oder – nach Anzeige der Überlastung zur Meidung dienstaufsichtlicher Maßnahmen – deren Erledigung nach pflichtgemäßer Auswahl unter sachlichen Gesichtspunkten auf das durchschnittliche Pensum zu beschränken und darüber hinausgehend zurückzustellen (BVerfGK NJW 12, 2334 [BVerfG 23.05.2012 - 2 BvR 610/12; 2 BvR 625/12] Rz 18).
Rn 38
Die sich rechnerisch ergebende Überlastung oder ungenügende Auslastung eines Richters oder Spruchkörpers – die durch Verringerung oder Verstärkung der Besetzung eintreten kann (BGH ZIP 09, 91 Rz 8) – muss zu einer erheblichen Abweichung vom Durchschnitt führen, um die Notwendigkeit der Änderung des Geschäftsverteilungsplans zu rechtfertigen. Eine gleichförmige Über- oder Unterlastung aller Richter bzw Spruchkörper lässt diese Notwendigkeit entfallen (MüKoZPO/Zimmermann § 21e GVG Rz 31). Die Notwendigkeit der Änderung muss für das Präsidium nachvollziehbar und später auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren darlegbar sein, weil anderenfalls der Änderungsbeschluss des Präsidiums zur Entziehung des vormals zuständigen gesetzlichen Richters führt, wenn diesem die Sache ohne Notwendigkeit im Geschäftsjahr entzogen und einem anderen Richter zugewiesen wird (BVerfG NJW 05, 2689 [BVerfG 16.02.2005 - 2 BvR 581/03]; BGH Beschl v 10.7.13 – 2 StR 116/13 – Rz 25).
Rn 39
Welche Ursachen für die Überlastung/Unterlastung bestehen, ist grds ohne Belang (Kissel/Mayer § 21e Rz 112; MüKoZPO/Zimmermann § 21e GVG Rz 31). In Betracht dieser analytisch-mathematisierten Belastungsmessung ist eine Geschäftsverteilung nach dem Rotationsprinzip zumindest dann vorzugswürdig, wenn eine formelle Gleichbelastung aller Richter bzw Spruchkörper im Gericht nach Maßgabe der Eingänge, aber ohne Rücksicht auf die individuellen Leistungsunterschiede der Richter und deren Konsequenzen angestrebt wird. Rückstände, übernommene Bestände und deren Ursachen fließen in diese Betrachtung grds nicht ein. Den Nachteil einer formellen Gleichbelastung bei tatsächlichem Ungleichgewicht kann das Präsidium aber auch im Rahmen des Rotationsprinzips vermeiden, indem es zusätzliche generell-abstrakte Ausgleichsfaktoren implementiert, oder kann ihn nachträglich durch Änderung des Rotationssystems kontrolliert ausgleichen.
Andere Verteilungssysteme verhindern Über- oder Unterbelastungen nur unter Berücksichtigung individueller Leistungsstärken bzw -schwächen der zu verteilenden Richter, auch in ihrem Zusammenwirken inner...