Gesetzestext
(1) Nach Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses gemäß § 6 Absatz 4 erweitert das Oberlandesgericht auf Antrag eines Beteiligten das Musterverfahren durch Beschluss um weitere Feststellungsziele, soweit
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die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits von den weiteren Feststellungszielen abhängt, |
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die Feststellungsziele den gleichen Lebenssachverhalt betreffen, der dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt, und |
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das Oberlandesgericht die Erweiterung für sachdienlich erachtet. |
Der Antrag ist beim Oberlandesgericht unter Angabe der Feststellungsziele und der öffentlichen Kapitalmarktinformationen zu stellen.
(2) Das Oberlandesgericht macht die Erweiterung des Musterverfahrens im Klageregister öffentlich bekannt.
A. Zweck.
Rn 1
Werden im Laufe des Musterverfahrens neue Tatsachen vorgetragen, so können diese berücksichtigt werden, soweit sie sich unter die im Vorlagebeschluss bereits formulierten Feststellungsziele einordnen lassen. Insoweit gelten die allgemeinen verfahrensrechtlichen Regeln wie zB die Präklusionsvorschriften (s § 11 KapMuG Rn 14). Ist dies nicht möglich, weil es sich um Tatsachen handelt, die nicht die im Vorlagebeschluss genannten Feststellungsziele betreffen, so können solche Tatsachen im Musterverfahren wegen der Bindung an den Vorlagebeschluss (§ 6 I KapMuG) nicht berücksichtigt werden. Zugleich ist aber die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens gem § 7 KapMuG unzulässig. Die Vorschrift des § 15 KapMuG löst dieses Problem dadurch, dass der Gegenstand des Musterverfahrens auf Antrag eines Beteiligten erweitert werden kann.
B. Zulässige Erweiterungen.
I. Umfang.
Rn 2
Das neue KapMuG gibt auch hier den früher für Verwirrung sorgenden Begriff der ›Streitpunkte‹ auf und erlaubt nunmehr ausdrücklich die Erweiterung des Verfahrensgegenstands um neue Feststellungsziele. Es gilt die Definition des § 2 I 1 KapMuG, dh es kommen sowohl neue tatsächliche Feststellungen wie auch die Klärung zusätzlicher Rechtsfragen in Betracht.
II. Voraussetzungen.
1. Abhängigkeit des zugrunde liegenden Rechtsstreits von den weiteren Feststellungszielen (Abs 1 Nr 1).
Rn 3
Bezüglich dieser Voraussetzung gilt der Maßstab des § 8 I KapMuG, da derselbe Begriff (›abhängt‹) verwendet wird. Die Abhängigkeit muss auf das konkrete Ausgangsverfahren des Antragstellers bezogen werden, ggf sind die Akten jenes Verfahrens beizuziehen.
2. Gleicher Lebenssachverhalt wie Vorlagebeschluss (Abs 1 Nr 2).
Rn 4
Der im Vorlagebeschluss beschriebene Lebenssachverhalt Markiert die äußerste Grenze der zulässigen Erweiterung. Ein auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützter Anspruch stellt einen anderen Streitgegenstand dar, so dass für ihn eine weitere Klage zulässig wäre, die weder von der Aussetzung gem § 8 KapMuG noch von der Sperrwirkung des § 7 KapMuG betroffen wäre.
3. Sachdienlichkeit (Abs 1 Nr 3).
Rn 5
Die beantragte Erweiterung ist sachdienlich, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass das neue Feststellungsziel für eine Vielzahl gleichgelagerter Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Musterverfahrens Bedeutung hat (Vorwerk/Wolf/Kotschy Rz 8). Im übrigen gilt der Begriff der Sachdienlichkeit des § 263 ZPO entsprechend (Söhner ZIP 13, 7, 11).
C. Verfahren.
Rn 6
Abweichend vom früheren Recht hat nun das OLG die Herrschaft über inhaltliche Erweiterungen des Musterverfahrens. Dies ist zweckmäßig, weil damit die früher auftretenden Verzögerungen im Verfahrensablauf vermieden werden. Andererseits entsteht das Problem, dass das OLG beurteilen muss, ob der vor dem erstinstanzlichen Gericht geführte Ausgangsrechtsstreit des Antragstellers von dem zusätzlichen Feststellungsziel ›abhängt‹; derartige Schwierigkeiten sind aber im zweistufigen Modell des KapMuG unvermeidbar (vgl Bussian/Schmidt PHI 12, 42, 45). Spätester Zeitpunkt für den Antrag auf Erweiterung des Musterverfahrens ist der Schluss der mündlichen Verhandlung im Musterverfahren (Liebscher/Steinbrück ZIP 16, 893). Danach ist ein solcher Antrag nur beachtlich, wenn das OLG die mündliche Verhandlung gem § 156 ZPO wieder eröffnet (BTDrs 17/8799, 23; ebenso zu § 13 KapMuG aF BGH NJW 15, 2188 [BGH 20.01.2015 - II ZB 11/14]). Eine Anfechtung des Beschlusses gem § 15 I KapMuG ist nicht möglich, und zwar weder unmittelbar gegen den Beschluss noch in einem ggf später stattfindenen Rechtsbeschwerdeverfahren (BGH ZIP 18, 2307; BGH ZIP 19, 2405).