Gesetzestext
(1) Das Gericht kann, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen.
(2) 1Das Gericht hat die Verhandlung auf Antrag einer Partei fortzusetzen, wenn seit der Aussetzung ein Jahr vergangen ist. 2Dies gilt nicht, wenn gewichtige Gründe für die Aufrechterhaltung der Aussetzung sprechen.
A. Verdacht einer strafbaren Handlung.
Rn 1
Die Vorschrift ermöglicht die ermessensgebundene Aussetzung, wenn sich im Laufe des Rechtsstreits der Verdacht einer strafbaren Handlung ergibt, deren Ermittlung voraussichtlich Tatsachen offenlegt, die für die Entscheidung des Zivilverfahrens von Bedeutung sind. Die strafbare Handlung muss nicht notwendigerweise von Prozessbeteiligten begangen worden sein. Auch ein gegen einen Dritten gerichtetes Ermittlungsverfahren kann Tatsachen aufdecken, die Entscheidungsrelevanz besitzen. Ein hinreichender Tatverdacht iSd § 203 StPO ist nicht erforderlich; es genügt, wenn ›zureichende tatsächliche Anhaltspunkte‹ iSd § 152 II StPO ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft verlangen (St/J/Roth Rz 3). Auch Ordnungswidrigkeitenverfahren, insb im Verkehrsunfallprozess (vgl B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 3), nicht aber ehrengerichtliche Verfahren, dienstrechtliche Disziplinar- und parlamentarische Untersuchungsverfahren, können eine Aussetzung rechtfertigen (St/J/Roth Rz 6; Wieczorek/Schütze/Smid Rz 3; KG GWR 11, 359 [KG Berlin 16.06.2011 - 19 U 116/10]). Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss sich der Verdacht ›im Laufe des Rechtsstreits‹ ergeben. Diese zeitliche Einschränkung ist nicht sachgerecht: Es steht mit dem gesetzgeberischen Zweck in Einklang, auch einem bereits vor Beginn des Zivilverfahrens entstandenen Verdacht nachzugehen (BGH MDR 18, 1337 [BGH 24.04.2018 - VI ZB 52/16]).
B. Entscheidungsrelevanz.
Rn 2
Die Vorschrift verlässt den strengen Rahmen des § 148 und erlaubt die Aussetzung bereits dann, wenn das Ergebnis der Ermittlungen die tatsächliche Grundlage des Zivilurteils und mithin den Ausgang des Zivilverfahrens beeinflusst. Hierbei steht die Identität der rechtlichen Prüfung einer Aussetzung nicht entgegen (BGH MDR 18, 1337 [BGH 24.04.2018 - VI ZB 52/16]). So kann das Zivilgericht zB die auf § 823 II BGB, § 263 StGB gestützte Schadensersatzklage mit Blick auf ein Strafverfahren aussetzen, das den Betrugsvorwurf zum Gegenstand hat. Eine Aussetzung kommt demgegenüber nicht in Betracht, wenn das Zivilgericht bei feststehendem Sachverhalt die Einschätzung des Strafgerichts zu einer Rechtsfrage abwarten will (Ddorf MDR 85, 239): Die Wahrung der einheitlichen Rechtsprechung ist dem BGH, ggf dem GrS (§ 132 II GVG) vorbehalten. Auch darf die Aussetzung nicht dazu dienen, einer zu früh erhobenen Restitutionsklage zum Erfolg zu verhelfen: Die vor der erforderlichen strafrechtlichen Verurteilung erhobene Klage (§ 581 I) ist als unzulässig abzuweisen (vgl § 581 Rn 2). Die Aussicht, dass der Abschluss eines Strafverfahrens rechtliche oder tatsächliche Hindernisse einer Zeugenvernehmung auszuräumen vermag, ermöglicht die Aussetzung nicht (KG MDR 83, 139: keine Aussetzung mit Blick auf den Wegfall eines Zeugnisverweigerungsrechts).
C. Ermessensbindung.
Rn 3
Der zu erwartende Erkenntnisgewinn aus der Verwertung der strafrechtlichen Ermittlungen und die Nachteile, die den Prozessbeteiligten aus einer Verzögerung des Zivilverfahrens drohen, sind gegeneinander abzuwägen. Ist ein zeitnaher Abschluss des Strafverfahrens innerhalb eines Jahres nicht zu erwarten, scheidet eine Aussetzung idR aus (Zö/Greger Rz 2). In Arzthaftungssachen kommt eine Aussetzung bis zum Abschluss eines gegen den Arzt anhängigen Strafverfahrens regelmäßig aufgrund der abweichenden Rechts- und Beweislage im Arzthaftungsprozess nicht in Betracht (Dresd NJW-RR 20, 1037 [OLG Dresden 25.06.2020 - 4 W 426/20]). Auch im Kündigungsschutzprozess scheidet eine Aussetzung im Allgemeinen aus, da die kündigungsrechtliche Beurteilung einer Pflichtverletzung für die strafrechtliche Bewertung nicht maßgeblich ist (LAG Köln, Beschl. v 12.4.19 – 9 Ta 41/19; BAGE 143, 244 [BAG 25.10.2012 - 2 AZR 700/11] Rz 15).
I. Paralleler Zeugenbeweis.
Rn 4
Das Zivilgericht ist an die Tatsachenfeststellung des Strafgerichts nicht gebunden (KGR 06, 329; Saarbr OLGR 03, 80). Auch nach der Aussetzung muss sich das Zivilgericht am Maßstab der §§ 286, 287 seine eigene Überzeugung bilden. Eine Aussetzung erscheint daher im Regelfall nicht sachgerecht, wenn die im Zivil- und Strafverfahren relevanten Beweisfragen durch Zeugenbeweis aufzuklären sind: Bereits aufgrund der oft unzureichenden Protokollierung von Zeugenaussagen im Strafverfahren – gem § 273 II StPO enthält das Protokoll im Regelfall nur die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen – wird eine Wiederholung des Zeugenbeweises kaum zu vermeiden sein. Nicht selten nehmen Parteien eine vermeintliche Falschaussage im Zivilverfahren zum Anlass, parallel zu dem noch nicht abgeschlossenen Zivilverfahren Strafanzeige wegen eines Aussagedelikts zu stellen. Auch hier wird das Zivilger...