Dr. iur. Nina Franziska Marx
Gesetzestext
(1) 1In einem anhängigen Verfahren hat die Zustellung an den für den Rechtszug bestellten Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. 2Das gilt auch für die Prozesshandlungen, die das Verfahren vor diesem Gericht infolge eines Einspruchs, einer Aufhebung des Urteils dieses Gerichts, einer Wiederaufnahme des Verfahrens, einer Rüge nach § 321a oder eines neuen Vorbringens in dem Verfahren der Zwangsvollstreckung betreffen. 3Das Verfahren vor dem Vollstreckungsgericht gehört zum ersten Rechtszug.
(2) 1Ein Schriftsatz, durch den ein Rechtsmittel eingelegt wird, ist dem Prozessbevollmächtigten des Rechtszuges zuzustellen, dessen Entscheidung angefochten wird. 2Wenn bereits ein Prozessbevollmächtigter für den höheren Rechtszug bestellt ist, ist der Schriftsatz diesem zuzustellen. 3Der Partei ist selbst zuzustellen, wenn sie einen Prozessbevollmächtigten nicht bestellt hat.
A. Normzweck und Bedeutung.
Rn 1
Die Prozessführung liegt in der Hand des ProzBev, er soll möglichst schnell und umfassend über alle zuzustellenden Schriftstücke Kenntnis erhalten; daher ist innerhalb des Rechtszugs (s Rn 7 ff) zwingend an ihn als Zustellungsadressaten (vgl § 166 Rn 3) zuzustellen (BGH MDR 11, 121 Rz 10; BVerfG NJW 17, 318 [BVerfG 16.07.2016 - 2 BvR 1614/14] Rz 15). Der Verstoß gegen § 172 macht die Zustellung unwirksam und verletzt grds den Anspruch auf rechtliches Gehör (BVerfG aaO Rz 14, 19); Fristen werden nicht in Lauf gesetzt (BGH FamRZ 16, 1259 Rz 7 mN; BVerfG aaO Rz 19). Heilung gem §§ 189, 295 ist möglich, allerdings nicht durch tatsächlichen Zugang bei der Partei selbst, sondern nur durch späteren Zugang bei dem ProzBev (BGH GRUR-RR 13, 360; BVerfG aaO Rz 20). § 172 ist auf alle Zustellungen anwendbar, auch auf die Parteizustellung (§ 191). Ausnahmen, insb wenn die persönliche Beteiligung der Partei am Verfahren vorgesehen ist, sind in § 141 II 2, § 239 III 1, § 244 II 3, § 246 II, § 273 IV 2, § 278 III 2, § 450 I 3 geregelt. § 172 gilt auch bei formlosen Mitteilungen (RGZ 149, 158, 162). Im Rahmen von § 172 I dient eine zusätzliche Zustellung an den anwaltlich vertretenen Beteiligten regelmäßig lediglich seiner Unterrichtung und bleibt auf die Maßgeblichkeit der Zustellung an seinen Bevollmächtigten ohne Einfluss (BGH NJW-RR 16, 897 [BGH 11.05.2016 - XII ZB 582/15] Rz 7).
B. Tatbestandsvoraussetzungen.
I. Prozessbevollmächtigter.
Rn 2
ProzBev ist, wem die Partei für den anhängigen Rechtsstreit eine Prozessvollmacht (§§ 80 ff) erteilt hat. Eine Vollmacht nur für einzelne Prozesshandlungen genügt nicht (BGHZ 61, 308, 311 = NJW 74, 240, 241). ProzBev kann auch ein AN (insb Justitiar) sein. Nicht ProzBev sind: Verkehrsanwalt (BGH NJW 92, 699 [OLG Koblenz 16.10.1991 - 11 UF 985/91] zu § 176 aF), Untervertreter oder Terminsbevollmächtigter (BGH NJW-RR 07, 356). Sind mehrere ProzBev bestellt, genügt Zustellung an einen (BGHZ 118, 312, 322). Wird an mehrere zugestellt, treten die Zustellungswirkungen daher mit der ersten Zustellung ein (BGHZ 112, 345, 347; BGH FamRZ 04, 865; BVerwG NJW 98, 3582). Für die Wirksamkeit der Zustellung kommt es nicht auf die Wirksamkeit der Vollmachterteilung an; entscheidend ist allein die Bestellung. Hat sich ein Anwalt vollmachtlos bestellt, muss gleichwohl an ihn gem § 172 zugestellt werden, bis er wegen fehlender Vollmacht zurückgewiesen ist (BGH NJW 87, 440 [BGH 22.10.1986 - VIII ZB 40/86]; NJW-RR 11, 417 [BGH 07.12.2010 - VI ZR 48/10] Rz 10). Gibt der Kläger im Rubrum der Klageschrift einen Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigten des Beklagten an, so ist dieser als für den Rechtszug bestellter Prozessbevollmächtigter gem § 172 I 1 anzusehen und hat die Zustellung an ihn zu erfolgen. Das Risiko, dass der vom Kläger als Prozessbevollmächtigter des Beklagten bezeichnete Anwalt keine Prozessvollmacht besitzt und die an diesen bewirkte Zustellung deshalb unwirksam ist, trägt der Kläger (BGH NJW-RR 11, 997 [BGH 06.04.2011 - VIII ZR 22/10] Rz 13–15).
II. Bestellt.
Rn 3
Die Bestellung ist die Kundgabe des Vertretungsverhältnisses durch den ProzBev oder die vertretene Partei ggü dem Gericht oder dem Gegner. Sie kann bereits vorprozessual erfolgen (Hambg NJW-RR 93, 958 zu § 176 aF; zB durch das Einreichen einer Schutzschrift, MüKoZPO/Häublein/Müller Rz 6 mwN). Die Bestellung kann formlos und sogar konkludent erfolgen (zB Auftreten vor Gericht, BGH NJW-RR 92, 699 [BGH 05.02.1992 - XII ZB 6/92] zu § 176 aF; NJW-RR 11, 417 Rz 10). Sie gilt für das jeweilige Verfahren. Die Bestellung für ein PKH-Verfahren kann die Bestellung für das Hauptsacheverfahren beinhalten (BGH NJW 02, 1728, 1729). Ist ein RA bestellt, ist an diesen unabhängig davon zuzustellen, ob eine Prozessvollmacht tatsächlich erteilt war (BGHZ 118, 312, 322 = NJW 92, 3096, 3099; BGH NJW 02, 1728, 1729).
Rn 4
Die Bestellung kann auch durch den Gegner angezeigt werden, zB durch Angabe eines Beklagtenvertreters in der Klageschrift (BGH NJW-RR 11, 997 Rz 13; 00, 444, 445). Voraussetzung ist, dass die vertretene Partei oder ihr Vertreter dem Gegner von dem Bestehen der Prozessvollmacht Kenntnis gegeben hat. Allein der Umstand, dass ein RA vorprozessual tä...