Dr. iur. Nina Franziska Marx
Rn 2
Neben den allgemeinen Zustellungsvoraussetzungen (s § 166 Rn 6 ff) erfordert § 174, dass der Zustellungsadressat das zuzustellende Schriftstück persönlich entgegennimmt mit der Bereitschaft, dieses als zugestellt anzunehmen (BGH NJW 06, 1206, 1207 [BGH 18.01.2006 - VIII ZR 114/05]; NJW 12, 2117 [BGH 19.04.2012 - IX ZB 303/11] Rz 6; NJW-RR 15, 953 Rz 7). Eine Ersatzzustellung ist nicht möglich. Entgegengenommen hat der Zustellungsadressat das Dokument, wenn er daran derart Gewahrsam erlangt hat, dass er von seinem Inhalt Kenntnis nehmen kann. Es genügt nicht, dass ein RA das Schriftstück tatsächlich erhalten oder hiervon Kenntnis genommen hat (BGH NJW 89, 1154 [BGH 22.11.1988 - VI ZR 226/87]). Vielmehr muss er empfangsbereit sein, was er durch seine Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis dokumentiert (BVerfG NJW 01, 1563, 1564 [BVerfG 27.03.2001 - 2 BvR 2211/97]; BGH NJW 07, 600, 601 [BGH 20.07.2006 - I ZB 39/05]; NJW-RR 15, 953 Rz 7). Hat er das Schriftstück in dieser Weise entgegengenommen, ist es unerheblich, ob er tatsächlich Kenntnis von seinem Inhalt genommen hat (vgl BGH MDR 20, 1393 Rz 7). Ein RA ist nicht verfahrensrechtlich, sondern allenfalls standesrechtlich zur Entgegennahme verpflichtet (BGHZ 30, 299, 305 f; AnwG Köln BRAK-Mitt 14, 82; nach BGH NJW 15, 3672 Rz 6 ff und AnwG Ddorf BRAK-Mitt 14, 204 auch keine standesrechtliche Pflicht). Fehlende Empfangsbereitschaft kann nicht nach § 189 geheilt werden (vgl BGH NJW-RR 15, 953 [BGH 13.01.2015 - VIII ZB 55/14] Rz 7, 12 mN; BVerwG NJW 15, 3386 [BVerwG 27.07.2015 - BVerwG 9 B 33.15] Rz 5).
Rn 3
Der Zustellungswille wird idR durch die Übersendung des vorbereiteten Empfangsbekenntnisses oder die Bitte um Übersendung eines solchen zum Ausdruck gebracht (BGHZ 14, 342, 344).
Rn 4
Das Empfangsbekenntnis ist auch nach neuem Recht Wirksamkeitsvoraussetzung der Zustellung (BTDrs 14/4554, 18; BGH MDR 20, 1393 [BGH 15.09.2020 - VI ZR 544/19] Rz 7; NJW 05, 3216, 3217; Eyinck MDR 11, 1389, 1390). Es muss (auf Kosten des Zustellungsadressaten) in der Form des Abs 4 vom Zustellungsadressaten persönlich (oder seinem amtlich bestellten Vertreter, nicht aber vom Büropersonal, vgl BSG NJW 10, 317, 318 [BSG 23.04.2009 - B 9 VG 22/08 B]) erteilt und zurückgesandt werden. Ein schriftliches oder als Telekopie übermitteltes Empfangsbekenntnis muss von dem Zustellungsadressaten eigenhändig und handschriftlich unterschrieben sein (BGH NJW-RR 92, 1150). Das Empfangsbekenntnis kann auch als elektronisches Dokument (§ 130a) zurückgesandt werden (Abs 4 S 2). Es sollte in nahem zeitlichem Zusammenhang mit der Zustellung ausgestellt werden; dies ist aber nicht Wirksamkeitsvoraussetzung. Erforderlich ist lediglich, dass der Empfänger sich bewusst ist, noch an einem Zustellungsvorgang mitzuwirken (BGH NJW-RR 15, 953 [BGH 13.01.2015 - VIII ZB 55/14] Rz 7). Anfechtung und Widerruf des Empfangsbekenntnisses sind ausgeschlossen, wenn es erteilt, dh der Geschäftsstelle zugegangen, ist (vgl BGH MDR 17, 1318 Rz 14). Wird das unterschriebene Empfangsbekenntnis von einer Bürokraft weisungswidrig an das Gericht zurückgesandt, steht dies der Wirksamkeit der Zustellung zu dem in dem Empfangsbekenntnis angegebenen Datum nicht entgegen (BGH NJW 07, 600, 601 [BGH 20.07.2006 - I ZB 39/05]). Die Verwendung eines bestimmten Formulars für das Empfangsbekenntnis ist nicht erforderlich (BGH NJW 87, 2679 [BGH 11.03.1987 - VIII ZR 160/86] zu § 212a aF; Hamm NJW 10, 3380, 3381 [OLG Hamm 12.01.2010 - 4 U 193/09]). Genügend ist die Bezugnahme auf das empfangene Schriftstück in einem Schriftsatz (BTDrs 14/4554, 18; BGH NJW 89, 1154 [BGH 22.11.1988 - VI ZR 226/87]; MDR 17, 1318 Rz 12). Bekundet der Anwalt in der Berufungsschrift, dass ihm das Urteil zugestellt worden sei, reicht dies, neben der Kenntnis von der Zustellungsabsicht der Geschäftsstelle des Gerichts, für den Vollzug der Zustellung an ihn aus (BGH NJW-RR 18, 60 [BGH 12.09.2017 - XI ZB 2/17] Rz 12). Inhaltlich genügen die Bezeichnung des zugestellten Schriftstücks und die Bestätigung der Zustellung. Die Angabe des Datums der Zustellung ist – wenn auch sehr sinnvoll – nicht Wirksamkeitsvoraussetzung (BGH NJW 05, 3216, 3217; str). Gleiches gilt für eine falsche Datumsangabe (BGH NJW-RR 92, 1150, 1151 [BGH 13.05.1992 - VIII ZR 190/91]).
Rn 5
Das Empfangsbekenntnis begründet als Privaturkunde (vgl BGH NJW 90, 2125; 12, 2117 Rz 6; FamRZ 95, 799; Zweibr, Beschl v 2.1.14 – 2 WF 236/13 Rz 3; aA BGH NJW 87, 1335; 07, 600 Rz 7; BSG NJW-RR 02, 1652 [BSG 08.07.2002 - B 3 P 3/02 R]; BVerwG NJW 94, 535: öffentliche Urkunde iSd § 418; s.a. § 418 Rn 12) vollen Beweis für die Zustellung (Abs 4 S 1). Der Beweis des Gegenteils ist zulässig (BGH NJW 06, 1206; NJW 12, 2117 Rz 8; BFH, Beschl v 22.9.15 – V B 20/15 Rz 8; OVG Lüneburg NJW 05, 3802 [OVG Niedersachsen 28.09.2005 - 9 LA 166/05]); an ihn sind strenge Anforderungen zu stellen (BVerfG NJW 01, 1563, 1564 [BVerfG 27.03.2001 - 2 BvR 2211/97]; BGH NJW 96, 2514 zu § 212 aF; NJW 06, 1206, 1207 [BGH 18.01.2006 - VIII ZR...