Dr. iur. Nina Franziska Marx
Gesetzestext
Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist.
A. Normzweck.
Rn 1
§ 189 liegt das Prinzip der Zweckerreichung zugrunde (BGHZ 204, 268 Rz 17 = NJW 15, 1760; BGH NJW 17, 2472 Rz 38). Entscheidend für die Wirksamkeit einer Zustellung soll sein, dass der Adressat oder sein Vertreter (§§ 170–172) Kenntnis von dem Schriftstück erhalten hat. Ist dies der Fall, soll es auf Formalitäten nicht ankommen und die Zustellung wird fingiert. Voraussetzung ist aber stets das Vorhandensein eines Zustellungswillens (vgl Rn 5). Ein Nachweis der Zustellung ist nicht Voraussetzung ihrer Wirksamkeit; daher führt § 189 insoweit nicht zu einer Fiktion der Zustellung, sondern hat lediglich Bedeutung für die Bestimmung des maßgeblichen Zustellungszeitpunkts.
B. Anwendungsbereich.
Rn 2
§ 189 ist weit auszulegen und gilt für alle Zustellungen (BGH aaO mN), auch wenn dadurch Notfristen in Gang gesetzt werden (Karlsr WM 15, 1816, 1819; BAG NZA 15, 1331 [BAG 05.05.2015 - 1 AZR 763/13] Rz 22; anders § 187 S 2 aF; s zu laufenden Verfahren BGH DGVZ 13, 20 Rz 12). Heilung ist auch bei Zustellung im Parteibetrieb möglich (Dresd NJW-RR 03, 1721 [OLG Dresden 13.05.2003 - 11 W 586/03]), ebenso bei Auslandszustellungen, soweit Völkerrecht nicht entgegensteht. Im Anwendungsbereich des HZÜ sind Verstöße gegen Formvorschriften des Verfahrensrechts des Zustellungsstaats nach § 189 heilbar; dies gilt allerdings nicht, soweit bei der Zustellung Bestimmungen des HZÜ verletzt worden sind (s BGHZ 191, 59 Rz 24 ff = NJW 11, 3581; BAG NZA-RR 14, 32 Rz 34). Das Fehlen einer im Fall der Auslandszustellung erforderlichen Fristsetzung gem § 339 II kann nicht geheilt werden (BGH NJW 11, 2218 [BGH 11.05.2011 - VIII ZR 114/10] Rz 14f). Der Heilung nach § 189 können alle Mängel des Zustellungsverfahrens, die zur Unwirksamkeit der Zustellung führen, zugänglich sein. Mängel des Zustellungsgegenstandes können dagegen grds nicht gem § 189 geheilt werden (vgl BGHZ 100, 234, 238 = NJW 87, 2868; 130, 71, 74 = NJW 95, 2217 MüKoZPO/Häublein/Müller Rz 9–12 mwN). Allerdings wird die fehlende Beglaubigung durch Zugang einer (inhaltlich mit der Urschrift übereinstimmenden) einfachen Abschrift geheilt (BGH NJW 19, 1374 Rz 13; BGHZ 208, 255 Rz 14 ff = NJW 16, 1517; BGHZ 212, 264 Rz 21 ff = WM 16, 2307; NJW 17, 3721 Rz 17; BVerwG Beschl v 6.7.07 – 8 PKH 2/07; vgl auch MüKo/Häublein/Müller Rz 12; aA Karlsr WM 15, 1816, 1818 f [OLG Karlsruhe 11.12.2014 - 9 U 87/13] mwN). Zu Abweichungen der zugestellten Abschrift von der Urschrift s § 169 Rn 4. Eine fehlende Unterschrift unter einer Entscheidung führt zur Unwirksamkeit, wenn die Zustellung Wirksamkeitsvoraussetzung der Entscheidung ist (§ 310 III, § 329).
Rn 3
Weitere Heilungsmöglichkeiten sind die rückwirkende Genehmigung des Zustellungsadressaten, wenn an eine falsche Person zugestellt worden ist, und ein Rügeverzicht gem § 295, soweit die Verfügungsmacht der Parteien reicht (vgl BGH NJW 92, 2099, 2100 [BGH 13.04.1992 - II ZR 105/91]). Der Rügeverzicht wirkt allerdings bei (Klage-)Zustellungsmängeln grds nur ex nunc (vgl BGH NJW 96, 1531f). Außerdem kann die Berufung auf eine fehlerhafte Zustellung rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Zustellungsempfänger die Heilung des Zustellungsmangels bewusst verhindert hat. Schließlich kann die Zustellung erneut (mit Wirkung ex nunc) vorgenommen werden.
C. Tatbestandsvoraussetzungen.
I. Zugang.
Rn 4
Das Schriftstück muss auf irgendeine Weise derart in den Herrschaftsbereich (›in die Hand‹) des Zustellungsadressaten oder seines Vertreters (§§ 170–172) gelangt sein, dass er es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen kann (vgl BGH MDR 20, 750 Rz 21 mwN; NZFam 20, 1031 Rz 9; NZG 20, 70 [BGH 12.09.2019 - IX ZR 262/18] Rz 31; BFHE 244, 536 Rz 65 ff = NJW 14, 2524 [BFH 06.05.2014 - GrS 2/13]).
Tatsächliche Kenntnisnahme ist nicht erforderlich (BFH, Beschl v 21.2.13 – II B 113/12 Rz 11). Ist ein ProzBev bestellt, kann nur an diesen zugestellt werden (vgl § 172 I 1; vgl auch BGH DGVZ 13, 20 Rz 11). Es genügt aber, dass er an dem Schriftstück zeitgleich mit seiner Bestellung oder sogar bereits zuvor Besitz erlangt hat (BGH NJW-RR 11, 417 [BGH 07.12.2010 - VI ZR 48/10] Rz 11; Frankf Urt v 30.12.13 – 21 U 23/11 Rz 48; s.a. KG GRUR-RR 11, 287 u Karlsr DGVZ 14, 127 zur Heilung im Fall einer Zustellung zum Zweck der Vollziehung einer einstw Vfg gem § 929). Wird gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, genügt zudem nicht der Zugang, zusätzlich ist Empfangsbereitschaft (vgl § 174 Rn 2) erforderlich (BGH NJW-RR 15, 953 [BGH 13.01.2015 - VIII ZB 55/14] Rz 7, 12; s.a. BVerwG NJW 15, 3386 [BVerwG 27.07.2015 - BVerwG 9 B 33.15] Rz 5). Der Zugang bei einer Ersatzperson gem § 178 genügt nicht, weil diese nicht Zustellungsadressat ist.
Rn 4a
Für den tatsächlichen Zugang als Voraussetzung der Heilung eine...