Rn 9
Wiedereinsetzung setzt begrifflich Fristversäumung voraus, so dass vorrangig zu prüfen ist, ob die Prozesshandlung rechtzeitig und wirksam vorgenommen wurde (BGH NJW 03, 2460 [BGH 27.05.2003 - VI ZB 77/02]).
1. Begriff.
Rn 10
Versäumt ist eine Prozesshandlung, wenn sie überhaupt nicht, nicht rechtzeitig oder nicht formgerecht (Berufungseinlegung durch einen nicht postulationsfähigen Anwalt oder die Partei selbst) oder beim unzuständigen Gericht vorgenommen wurde. Der Zeitpunkt des Eingangs einer Rechtsmittelschrift wird regelmäßig durch den Eingangsstempel des Gerichts belegt, § 418. Der Gegenbeweis ist jedoch zulässig (§ 418 II), auch mittels Freibeweises (BGH NJW-RR 06, 354 [BGH 27.10.2005 - III ZB 76/05]). Dass einzelne Seiten einer Berufungsbegründung handschriftlich abgefasst sind, steht der rechtzeitigen Rechtsmitteleinlegung selbstverständlich auch dann nicht entgegen, wenn eine Leseabschrift erst nach Fristablauf eingereicht wird (BGH WuM 10, 694 [BGH 21.09.2010 - VIII ZB 9/10]). Das Ende einer Frist wird durch einen allgemeinen Feiertag nur dann hinausgeschoben, wenn dieser am Ort der Rechtsmitteleinlegung gilt (BGH MDR 12, 301).
2. Amtsprüfung.
Rn 11
Die Frage der Rechtzeitigkeit hat das Gericht vAw zu klären, selbst wenn die Fristversäumung unstr ist (zur Fristwahrung durch Einreichung einer handschriftlich beglaubigten Kopie eines fristgebundenen Schriftsatzes BGH NJW 12, 1738 [BGH 26.03.2012 - II ZB 23/11]; bei Unterzeichnung ›i.V.‹ BGH MDR 12, 796 [BGH 26.04.2012 - VII ZB 83/10]; bei Unterzeichnung durch einen RA nach nicht rechtskräftigem Widerruf der Zulassung BGH NJW 12, 2592 oder mit dem auf einen anderen RA hinweisenden Zusatz ›nach Diktat außer Haus‹ BGH MDR 12, 114). Stellt sich heraus, dass die Frist entgegen der Annahme der Parteien gewahrt ist, ist der Wiedereinsetzungsantrag ohne weiteres gegenstandslos und über ihn nicht zu entscheiden (BGHZ 165, 318, 324). Das Gericht ist bei dieser Prüfung nicht an die förmlichen Beweismittel der ZPO gebunden, es gilt – wie allgemein bei Amtsprüfung – das Freibeweisverfahren. Hieran hat auch § 284 S 2 nichts geändert, denn diese Vorschrift erweitert lediglich – für den Fall des Einverständnisses beider Parteien – den Anwendungsbereich des Freibeweises auf die der Parteidisposition unterliegende Beweisaufnahme (anders Zö/Greger § 284 Rz 1: Freibeweis generell nur noch im Einverständnis der Parteien zulässig). Auch eine von der Partei vorgelegte eidesstattliche Versicherung kann mithin bei der Frage der rechtzeitigen Vornahme einer fristgebundenen Handlung berücksichtigt werden. Allerdings muss der volle Beweis für die rechtzeitige Handlung erbracht werden, dh wenn dem Gericht die eidesstattliche Versicherung nicht ausreicht, hat es die Partei darauf hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu weiterem Beweisantritt, etwa Benennung von Zeugen zu geben (BGH NJW 00, 814 [BGH 07.12.1999 - VI ZB 30/99]). Macht die Partei geltend, den Schriftsatz rechtzeitig in den Nachtbriefkasten geworfen zu haben, hat das Gericht dienstliche Äußerungen der für die Leerung des Briefkastens zuständigen Beamten über seine Funktionstüchtigkeit einzuholen (BGH WuM 11, 176). Jedenfalls darf das Gericht nicht Wiedereinsetzung ablehnen, ohne die Frage der Fristversäumung zuvor zu klären. Umgekehrt kann das Gericht von einer Beweisaufnahme über die Rechtzeitigkeit Abstand nehmen und aus Gründen der Verfahrensvereinfachung sogleich Wiedereinsetzung gewähren, wenn deren Voraussetzungen offenbar gegeben sind (BGH NJW-RR 02, 1070, 1071 [BGH 27.02.2002 - I ZB 23/01]). Zu den Besonderheiten bei gemeinsamer Faxannahmestelle mehrerer Gerichte vgl BGH NJW-RR 13, 830 [BGH 23.04.2013 - VI ZB 27/12].
a) Unvollständiges Rechtsmittel.
Rn 12
Trotz Wahrung der Rechtsmittelbegründungsfrist kommt Wiedereinsetzung ausnahmsweise in Betracht, wenn eine Rechtmittelbegründungsschrift ohne Verschulden des Rechtsmittelführers nicht vollständig übermittelt wurde (BGH NJW 00, 364 [BGH 18.11.1999 - III ZR 87/99]: Fehlen einzelner Seiten aufgrund eines Versehens einer bisher zuverlässigen Bürokraft); iÜ kann Wiedereinsetzung aber grds nicht zur Ergänzung einer wirksam (fristgerecht) eingereichten, jedoch inhaltlich tw unzureichenden Begründung gewährt werden (etwa zur Nachholung von Verfahrensrügen BGH NJW 97, 1309 [BGH 13.02.1997 - III ZR 285/95], aA Zö/Greger Rz 9).
b) Prüfungsumfang des Gerichts.
Rn 13
Das Gericht darf sich nicht mit der Feststellung begnügen, dass ein fristgebundener Schriftsatz nicht zu den Akten gelangt ist, denn die Frist ist bereits dann gewahrt, wenn der Schriftsatz rechtzeitig in den Empfangsbereich des Gerichts gelangt ist, also vor Fristablauf in den Briefkasten des Gerichts geworfen wurde. Kann dies festgestellt werden, so ist die Frist gewahrt, auf einen anschließenden – im Einzelfall durchaus möglichen – Verlust im Geschäftsgang kommt es nicht mehr an. Rechtzeitig eingegangen ist ein fristgebundener Schriftsatz auch dann, wenn er in den Abendstunden am Tag des Fristablaufs nicht in einen Nachtbriefkasten, sondern in einen sonstigen Briefkasten des Gerichts eingeworfen wir...