Rn 46
Nach stRspr des BGH kommt ein Anscheinsbeweis für individuelle Willensentschlüsse nicht in Betracht, weil sie von jedem Menschen nach verschiedenen, ihm eigenen Gesichtspunkten gefasst würden, so dass es an der erforderlichen Typizität des Geschehensablaufs fehle. Dies hat er mehrfach für die Absicht zur Selbsttötung (BGHZ 100, 214, 216 = NJW 1987, 1944) und für den Vorsatz zur Brandstiftung entschieden (BGHZ 104, 256, 261 = NJW 88, 2040, 2041), ferner etwa für den Entschluss zur Scheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt (BGH LM Nr 11 [C]), für eine arglistige Täuschung (BGHZ 31, 351, 357 = NJW 60, 818), für die Fahruntüchtigkeit bei einem unter der absoluten Grenze liegenden Alkoholisierungsgrad (BGH NJW 88, 1846 [BGH 24.02.1988 - IVa ZR 193/86]) oder für die Beachtung des Beurkundungsgesetzes (BGH NJW-RR 03, 1432, 1434 [BGH 18.07.2003 - V ZR 431/02]). Daran ist sicher richtig, dass es im Bereich individueller Willensmomente vielfach an Erfahrungssätzen fehlen wird, die eine Anwendung des Anscheinsbeweises ermöglichen. Auf der anderen Seite sind auch das Wissen, die Entschlüsse oder die Gefühle einer Person häufig ›typisch‹. Die nach dem ersten Anschein begründete Annahme eines bestimmten äußeren Handlungsablaufs schließt oft die Feststellung innerer Vorgänge mit ein (vgl Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 17 Rz 56 mwN). Es sind deshalb durchaus Erfahrungssätze denkbar, die typischerweise auf bestimmte subjektive Willensentscheidungen schließen lassen. Dem trägt auch die Rspr des BGH Rechnung, indem er im Einzelfall doch einen Anscheinsbeweis für individuelle Willensentscheidungen zulässt. So nimmt er bei der Haftung von Anwälten, Notaren, Steuer- und Anlageberatern wegen der Verletzung der Aufklärungs- und Beratungspflicht in inzwischen stRspr im Wege des Anscheinsbeweises eine Vermutung des aufklärungsrichtigen Verhaltens an (für die Anwaltshaftung BGHZ 123, 311, 314 ff = NJW 93, 3259; NJW 12, 2435, 2439; NJW 15, 3447, 3448 Rz 23; für die Notarhaftung BGH NJW 00, 664, 667 [BGH 18.11.1999 - IX ZR 402/97]; für die Steuerberaterhaftung BGH NJW 14, 2795 [BGH 15.05.2014 - IX ZR 267/12] Rz 2; NJW-RR 19, 375, 376 [BGH 06.12.2018 - IX ZR 176/16] Rz 23; für die Prospekthaftung bei Anlageberatung BGH NJW-RR 10, 952, 953 [BGH 22.03.2010 - II ZR 66/08]). Bei kaufmännischen Umsatzgeschäften besteht ein Anscheinsbeweis für den Ursachenzusammenhang zwischen einer arglistigen Täuschung des Verkäufers und dem Kaufentschluss des Käufers (BGH NJW 58, 177). Aber auch ansonsten kann davon ausgegangen werden, dass die Täuschung über einen wirtschaftlich wichtigen Faktor nach der Lebenserfahrung geeignet ist, die Kaufvertragserklärung zumindest mit zu beeinflussen. Befindet sich ein Warnhinweis auf einem Produkt, besteht ein Anscheinsbeweis dafür, dass Verbraucher diesem Hinweis auch Folge leisten (BGH NJW 92, 560, 562 [BGH 12.11.1991 - VI ZR 7/91]). Begehrt ein Mieter Schadensersatz wegen Vortäuschung des Eigenbedarfs, spricht der erste Anschein für eine Vortäuschungsabsicht, wenn der Mieter die freigemachte Wohnung nicht selbst bezogen hat (LG Aachen WuM 95, 164 [LG Aachen 03.12.1993 - 5 S 232/93]; LG Mannheim WuM 95, 710 [LG Mannheim 08.11.1995 - 4 S 163/94]; offengelassen von BGH NJW 05, 2395 ff = BGHReport 05, 1161 ff [BGH 26.04.2005 - X ZR 166/04] mit Anm Laumen; anders jetzt BGH NJW-RR 17, 75, 77 [BGH 11.10.2016 - VIII ZR 300/15] Rz 25 lediglich Verdacht; vgl dazu auch BVerfG NJW 97, 2377 [BVerfG 30.05.1997 - 1 BvR 1797/95]). Die Zugabe von Diäthylenglycol zu Wein begründet schließlich einen Anscheinsbeweis dafür, dass dies in der Absicht erfolgt ist, eine höhere Weinqualität vorzutäuschen (AG Bad Kreuznach MDR 87, 232). Zur Anwendung des Anscheinsbeweises für das Vorliegen der Täuschungsabsicht in Prüfungsverfahren vgl BVerwG NJW 18, 1896 [BVerwG 23.01.2018 - BVerwG 6 B 67.17]; Baumgärtel/Laumen, Bd 1 Kap 17 Rz 499 ff mwN.