Rn 3
Nach dem Gegenstand der Vermutung ist zunächst zu unterscheiden zwischen Tatsachen- und Rechtsvermutungen. Bei den Tatsachenvermutungen schließt das Gesetz von einem tatbestandsfremden Umstand auf das Vorliegen eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals, also etwa aus dem Besitz des Pfandes auf dessen Rückgabe durch den Pfandgläubiger (§ 1253 II BGB) oder aus dem Besitz des Hypothekenbriefes auf die Übergabe an den Gläubiger (§ 1117 III BGB). Als Tatsachenvermutung sind zB einzuordnen die §§ 363, 685 II, 938, 1213 II, 1375 II 2, 1377 III, 1625, 2009, 2270 II BGB, § 198 II 1 GVG (BGHZ 204, 185, 197 Rz 40) und § 133 I 2, III 2 InsO. Demgegenüber wird bei Rechtsvermutungen unmittelbar aus dem Vorliegen einer Tatsache auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts oder Rechtsverhältnisses geschlossen, also zB vom Besitz auf das Eigentum (§ 1006 I 1 BGB) oder von der Eintragung im Grundbuch auf das Bestehen des eingetragenen Rechts (§ 891 BGB). Weitere Rechtsvermutungen sind enthalten in den §§ 921, 1138, 1155, 1362, 1380 I 2, 1964 und 2365 BGB.
Rn 4
Die Wirkung einer gesetzlichen Vermutung besteht in der Verschiebung des Beweisthemas. Nicht die vermutete Tatsache oder das vermutete Recht muss bewiesen werden, sondern lediglich die Vermutungsbasis, dh die Ausgangstatsache, an die das Gesetz die Vermutung knüpft. Ist die Vermutungsbasis unstr oder bewiesen, entfällt nicht nur die Beweisbedürftigkeit für die vermutete Tatsache oder das vermutete Recht. Der Inhalt der Vermutung braucht auch nicht behauptet zu werden, denn die Wirkungen einer gesetzlich vorgesehenen Vermutung können nicht davon abhängen, ob die begünstigte Partei die Vermutung kennt oder nicht (Prütting S 46; Rosenberg S 218; aA Musielak JA 10, 561, 564f). Insoweit muss das Gleiche gelten wie bei den offenkundigen Tatsachen (§ 291 Rn 6). Entbehrlich ist deshalb auch ein Vortrag zu den Entstehungstatsachen des vermuteten Rechts (BGH NJW 10, 363, 364 [BGH 09.10.2009 - V ZR 178/08] mwN), soweit nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen der sekundären Behauptungslast vorliegen. Die zT für die Rechtsvermutung des § 1006 BGB vertretene gegenteilige Auffassung (Hamm NJW 14, 1894, 1895 [OLG Hamm 11.10.2013 - 9 U 35/13]; MüKoBGB/Raff § 1006 Rz 49; Medicus FS Baur 81, 63, 77 ff) ist aus den genannten Gründen abzulehnen (wie hier Saarb NJW 14, 1241 [BGH 05.12.2013 - IX ZB 291/11] = MDR 14, 1257, 1258 [OLG Saarbrücken 08.05.2014 - 4 U 393/11-124]; Köln MDR 15, 826 [OLG Köln 22.04.2015 - 11 U 154/14]; Ddorf NJW-RR 18, 1365 Rz 15; Staud/Thole § 1006 Rz 75, 88; s dazu ausf Laumen, MDR 16, 370 ff). Greift die gesetzliche Vermutung ein, kommt es zu einer Umkehr der objektiven Beweislast zum Nachteil des Vermutungsgegners. Dies macht deutlich, dass es sich bei den gesetzlichen Vermutungen des § 292 um Beweislastregeln handelt (St/J/Thole Rz 5). Eine Beweiswürdigung des Gerichts findet nicht statt. Das Gericht muss die vermutete Tatsache oder das vermutete Rechts also auch dann seiner Entscheidung zugrunde legen, wenn es von dessen Vorliegen nicht überzeugt ist.
Rn 5
Der Vermutungsgegner kann sich auf zweierlei Weise gegen das Eingreifen der Vermutung wehren. Zum einen kann er versuchen, mit Hilfe des Gegenbeweises (§ 284 Rn 13) die Vermutungsbasis anzugreifen. Dieser Beweis ist also bereits dann geführt, wenn die Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen der Ausgangstatsache erschüttert ist. Gelingt der Gegenbeweis, entfällt die Vermutungswirkung mit der Folge, dass die beweisbelastete Partei versuchen muss, die vermutete Tatsache oder das vermutete Recht mit den üblichen Beweismitteln nachzuweisen. Zum anderen steht dem Vermutungsgegner die Möglichkeit offen, gegen die Vermutung selbst den Beweis des Gegenteils (§ 284 Rn 14) zu führen. Da es sich der Sache nach um einen Hauptbeweis handelt, ist der volle Beweis des Gegenteils der Vermutung erforderlich (St/J/Thole Rz 21). Es reicht also nicht aus, dass die Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen der gesetzlichen Vermutung lediglich erschüttert wird; vielmehr muss das Gericht davon überzeugt sein, dass die vermutete Tatsache oder das vermutete Recht nicht besteht (BGH NJW 02, 2101, 2102 [BGH 04.02.2002 - II ZR 37/00]; 04, 217, 219 [BGH 16.10.2003 - IX ZR 55/02]). Der Beweis des Gegenteils kann mit allen zulässigen Beweismitteln geführt werden. Dazu gehört – wie § 292 S 2 klarstellt – auch der Antrag auf Parteivernehmung nach § 445. Dem Vermutungsgegner kommen bei der Beweisführung die auch sonst üblichen Beweiserleichterungen zugute, also etwa die Grundsätze über den Anscheinsbeweis (§ 286 Rn 28 ff) oder die der sekundären Behauptungslast (§ 286 Rn 89). So dürfen zB an die Widerlegung der Eigentumsvermutung des § 1006 BGB keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden (vgl BGHZ 160, 90, 109 f = NJW 05, 359). Der Vermutungsgegner kann sich regelmäßig auf die Widerlegung der vom Besitzer vorgetragenen Erwerbsgründe beschränken.