Rn 6
Bei schwierigen Beweislagen greift die Rspr in vielfältiger Weise und mit völlig uneinheitlichen Rechtsfolgen auf sog tatsächliche Vermutungen zurück. Die bekannteste ist wohl die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Privaturkunde, die nach Auffassung des BGH als Beweislastregel anzusehen ist und zu einer Umkehr der objektiven Beweislast führen soll (BGH NJW 02, 3164, 3165 [BGH 05.07.2002 - V ZR 143/01]; NJW 17, 175, 176 [BGH 10.06.2016 - V ZR 295/14] Rz 6). Die gleiche Rechtsfolge wird im Wettbewerbsrecht bei der tatsächlichen Vermutung für die Wiederholung eines Wettbewerbsverstoßes angenommen, so dass der Beklagte den Nachweis der fehlenden Wiederholungsgefahr erbringen muss (BGH GRUR 01, 453, 455). Zu einer Beweislastumkehr soll auch die sog GEMA Vermutung für deren Wahrnehmungsbefugnis führen (BGHZ 95, 274, 276 = NJW 86, 1244). Das Gleiche gilt, wenn DIN-Normen nicht beachtet worden sind. Es soll dann eine zur Beweislastumkehr führende widerlegbare Vermutung dafür bestehen, dass ein Schaden bzw ein Mangel auf dieser Verletzung beruht. Der jeweilige Beklagte hat dann zu beweisen, dass der Schaden bzw der Mangel nicht auf der Verletzung der DIN-Normen zurückzuführen ist (BGH NJW 91, 2021, 2022; Brandb NJW-RR 09, 1468f). Schließlich soll nach Auffassung des BGH (zuletzt NJW 12, 2427, 2429 f; BGHZ 196, 233, 237 Rz 19 = NJW 13, 1801, 1803 mwN; NJW-RR 16, 1187, 1188 Rz 17; krit dazu ua Piekenbrock WM 12, 429, 434 ff; ders ZZP 131, 413 ff; Bassler WM 13, 544, 547 ff) bei Aufklärungs- und Beratungspflichtverletzungen eines Anlageberaters eine zur Beweislastumkehr führende tatsächliche Vermutung dafür bestehen, dass der Geschädigte sich einem Rat oder Hinweis bei sachgemäßer Aufklärung nicht verschlossen hätte (s dazu bereits oben § 286 Rn 81).
Rn 7
Demgegenüber gibt es aber auch Entscheidungen, die eine beweislastverändernde Wirkung der tatsächlichen Vermutung verneinen. Besteht etwa bei einem gegenseitigen Vertrag ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, greift iRd Frage der Sittenwidrigkeit des Vertrages eine tatsächliche Vermutung für ein verwerfliches Handeln des Vertragspartners ein (vgl zulezt BGH NJW-RR 17, 1261, 1263 [BGH 14.06.2017 - III ZR 487/16] Rz 20; s dazu näher Baumgärtel/Kessen Bd 2 § 138 Rz 7 ff). In diesen Fällen ordnet der BGH die tatsächliche Vermutung als bloße Beweiserleichterung ausschließlich dem Bereich der Beweiswürdigung zu, wobei er es offen lässt, ob es sich um einen Anscheinsbeweis handelt oder der Vermutung lediglich die Bedeutung als Indiz zukommt (BGHZ 146, 298, 305 = NJW 01, 1127, 1128; BGH NJW 04, 2671, 2673; 10, 363, 364 = MDR 10, 135; vgl aber auch BGH NJW-RR 17, 241, 243 Rz 20, wo von der Widerlegung der tatsächlichen Vermutung die Rede ist). Die bei der Haftung von Anwälten, Steuerberatern und Notaren bestehende tatsächliche Vermutung des aufklärungsrichtigen Verhaltens begründet der BGH demgegenüber in ständiger Rspr mit der Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis (für die Anwaltshaftung BGHZ 193, 193, 206 Rz 36 = MDR 12, 1031, 1032; für die Steuerberaterhaftung BGH NJW-RR 07, 857, 859; für die Notarhaftung BGH NJW 00, 2110, 2111 [BGH 13.04.2000 - IX ZR 432/98]; weitere Beispiele von tatsächlichen Vermutungen bei Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 19 Rz 3 ff).
Rn 8
Tatsächliche Vermutungen beruhen regelmäßig auf der Verwertung von Erfahrungswissen. Bei der Heranziehung von Sätzen der Lebenserfahrung geht es aber nicht um die Veränderung der beweisrechtlichen Risikoverteilung, sondern um die – tatsächliche – Beurteilung eines Lebenssachverhalts (vgl Prütting S 55; Musielak JA 10, 561, 562f). Derartige Erfahrungssätze gehören deshalb – unabhängig von ihrer Stärke – ausschließlich in den Bereich der Beweiswürdigung und sind nicht geeignet, die Verteilung der objektiven Beweislast zu beeinflussen (BGH NJW 10, 363, 364 [BGH 09.10.2009 - V ZR 178/08]; Jäckel Rz 425; Tolani JZ 18, 652, 654; Piekenbrock ZZP 131, 412, 452). Es geht deshalb nicht an, mit Hilfe einer tatsächlichen Vermutung in die gesetzlich vorgegebene Beweislastverteilung einzugreifen. Dies gilt auch und gerade für die angeführten Beispiele aus der Rspr des BGH (s dazu näher Laumen MDR 15, 1, 4 ff). Für eine derartige Rechtsfortbildung contra legem besteht auch keine Notwendigkeit. Soweit die den tatsächlichen Vermutungen zugrunde liegenden Erfahrungssätze stark genug sind, können die Regeln über den Anscheinsbeweis herangezogen werden mit der Folge einer Umkehr der konkreten Beweisführungslast (§ 286 Rn 31), dh der Hauptbeweis für eine bestimmte Tatsache kann mit Hilfe der tatsächlichen Vermutung als geführt angesehen werden, so dass der Gegner den Gegenbeweis – und nicht etwa den Beweis des Gegenteils – zu erbringen hat. Dies gilt zB für die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Privaturkunde (s dazu näher Baumgärtel/Kessen Bd 2 § 125 Rz 5 ff; wie hier auch Jäckel Rz 658), die Vermutung des aufklärungsrichtigen Verhaltens bei der Haftung von rechtlic...