Gesetzestext
(1) Die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift kann nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste.
(2) Die vorstehende Bestimmung ist nicht anzuwenden, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann.
A. Zweck.
Rn 1
Auf die Einhaltung einer verzichtbaren (Rn 5–7) Verfahrens-, insb Formvorschrift (Rn 3), kann die Partei, in deren Interesse sie liegt, durch Verzicht (Rn 9) oder durch rügelose Einlassung (Rn 10) verzichten. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität hat eine Partei alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur eines Verfahrensverstoßes zu erwirken (BGH 21.1.20 – VI ZR 410/17, NJW-RR 20, 312). Erkennt sie einen Verfahrensverstoß und äußert sie sich trotz der Möglichkeit hierzu schuldhaft nicht, ist der Verstoß geheilt (BGH 28.3.19 – IX ZR 147/18 Rz 4). Diese Heilungswirkung (Rn 14) durch wenigstens fahrlässige (Rn 12) rügelose Einlassung hält die betroffene Partei an, einen Verfahrensfehler alsbald zu rügen (BGH v. 26.9.17 – VI ZR 81/17). Sie dient insoweit der Rechtssicherheit. Die Rüge im Nachhinein soll das Verfahrensergebnis nicht mehr in Frage stellen können. Zudem müssen nach einem Verzicht oder einer rügelosen Einlassung fehlerhafte und damit an sich unwirksame (Bewirkungshandlungen) oder unzulässige (Einwirkungshandlungen) Verfahrenshandlungen nicht prozessunökonomisch wiederholt werden. Eine Heilung wirkt in den Instanzen fort (§§ 534, 556; Rn 14).
Rn 2
§ 295 gilt über Verweise auch für andere Verfahrensordnungen, zB iVm § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren (BSG 13.8.18 – B 13 R 397/16 B Rz 11; NJW 11, 107 [BSG 27.04.2010 - B 2 U 344/09 B]); iVm § 155 FGO – dazu und zur Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 I FGO) und zur unterlassenen Beweisaufnahme als (verzichtbaren) Verfahrensmangel (§ 115 II Nr 3 FGO) S 25.6.18 – IX B 138/17 Rz 8; BFH/NV 09, 1665 [BFH 12.06.2009 - II B 26/09]; ferner 20.9.07 – IX B 54/07 (NV); 12.7.07 – III B 138/06 (NV); 29.12.06 – IX B 139/05 (NV); iVm § 173 VwGO (BVerwGE 107, 128, 131 f; NVwZ 08, 563, 568; 18.7.19 – 2 B 7.19 Rz 9). Zur entspr Anwendbarkeit des § 295 im Verfahren nach § 111 BNotO vgl BGH NJW-RR 00, 1664 f [BGH 20.03.2000 - NotZ 20/99]; im FamFG-Verfahren Celle NJW-RR 06, 1076, 1077 (zum Fehlen eines förmlichen Übertragungsbeschlusses nach § 526 iVm § 30 I 3 FGG [s § 68 V FamRG]); Karlsr FGPrax 10, 239, 241 (Erbscheinsverfahren); zur analogen Anwendung im Spruchverfahren s Karlsr 8.11.04 – 12 W 53/04.
B. Verzichtbarer Verfahrensverstoß.
Rn 3
Erfasst sind Verfahrenshandlungen, die entweder die geforderte Form, die Voraussetzungen, die Zeit oder den Ort einer Prozesshandlung des Gerichts oder der Parteien missachten, zB §§ 253, 166 ff, 271, 274, 283, 311 ff, 355 ff. Unter § 295 fallen nicht Bestimmungen, die den Inhalt der Prozesshandlung betreffen, wie zB §§ 139, 286, 287, 308 (§ 308 Rn 11).
Rn 4
Eine Heilung ist nur bei verzichtbaren Rügen möglich (Abs 2). Das ist idR bei Vorschriften der Fall, die das Parteiinteresse schützen wollen. Insoweit besteht Parteiherrschaft (Wieczorek/Schütze/Assmann Rz 3, 10). Dagegen bleiben Mängel, über deren Heilung die Parteien nicht disponieren können, unabhängig von einer Rüge mittels Berufung und Revision angreifbar (§§ 520 II 2 Nr 2, 538 II Nr 1, 546, 547): Nicht heilbar sind insb Verstöße gegen Verfahrensvorschriften, die dem öffentlichen Interesse oder dem Schutz der anderen Partei dienen und daher idR vAw zu beachten sind (§ 282 Rn 15; BVerwG 18.7.19 – 2 B 7.19 Rz 11 f; Wieczorek/Schütze/Assmann Rz 22), zB die Zulässigkeit des Rechtsweges, die Partei- (§ 50 Rn 11), Prozess- (§§ 51 ff) und Postulationsfähigkeit (§ 78 Rn 2 – zu den Sachurteilsvoraussetzungen s § 50 Rn 11, § 56 Rn 2), der Eintritt der Rechtshängigkeit (§ 261 III), die ausschließliche Zuständigkeit (§ 40 II; BGH NJW 06, 1660, 1661 [BGH 31.01.2006 - VI ZR 135/04]), die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 I 2 GG, § 16 GVG; BGH NJW 09, 1351, 1352 f [BGH 16.10.2008 - IX ZR 183/06]; 15.10.13 – II ZR 112/11 Rz 7; § 41 Rn 15), mithin die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts (BVerwG NJW 97, 674 [BVerwG 23.08.1996 - BVerwG 8 C 19.95]; BSG NJW 11, 107 [BSG 27.04.2010 - B 2 U 344/09 B]; 30.7.19 – B 1 KR 92/18 B Rz 9; vgl §§ 22, 75, 122, 132, 139, 192 GVG), ua die Zuständigkeitsverteilung zwischen Einzelrichter und Kammer (BGH NJW 01, 1357; 93, 600, 601 [BGH 19.10.1992 - II ZR 171/91]), der Öffentlichkeitsgrundsatz, soweit nicht ein schriftliches Verfahren angeordnet ist (BAG NJW 16, 3611 Rz 18f), oder umgekehrt das Gebot, nicht öffentlich zu verhandeln (Köln NJW-RR 86, 560 f; Wieczorek/Schütze/Assmann Rz 26; aA Zö/Greger Rz 5), Formmä...