Prof. Dr. Christoph Thole
Rn 4
Gemäß Abs 1 S 1 Nr 2 muss das Gericht den Anspruch der rügeführenden Partei in entscheidungserheblicher Weise verletzt haben. Die Rüge muss sich auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs stützen (Rn 1); sie ist nur begründet, wenn die Verletzung feststeht (näher Rn 16).
1. Persönliche Anforderungen.
Rn 5
Die rügende Partei muss selbst durch eine Missachtung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehörs beschwert sein, die gerade von dem die Entscheidung erlassenden Gericht ausgegangen sein muss (BSG NZA-RR 05, 603 [BSG 07.04.2005 - B 7a AL 38/05 B], LS = NJW 05, 2638 [BAG 01.03.2005 - 9 AZN 29/05]). Die Beschwer ist nach den Maßstäben wie bei § 511 Rn 17 ff zu beurteilen und für jeden Streitgenossen selbstständig zu beurteilen, und zwar auch bei prozessual notwendiger Streitgenossenschaft (anders B/L/H/A/G/Hunke Rz 16: Umstände des Einzelfalls). Bei materiell notwendiger Streitgenossenschaft sind alle Streitgenossen beschwert (sonst müsste schon denklogisch die Entscheidungserheblichkeit wegfallen); die Rüge kann nur gemeinsam erhoben werden. Jede Beschwer reicht aus; ihre Quantifizierung ist nur für ihre Funktion als Rechtsmittelzugang und damit bei der Prüfung der Unanfechtbarkeit der Entscheidung von Bedeutung. Da auch ein Nebenintervenient Träger des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist, kann er ungeachtet des § 67 die Gehörsrüge einlegen (BGH NJW 09, 2679, 2681 [BGH 17.06.2009 - XII ZB 75/07] Tz 23: potenzieller biologischer Vater bei Vaterschaftsanfechtung).
2. Gehörsverletzung.
a) Verletzungen des Art 103 I GG.
Rn 6
Die Gehörsverletzung bestimmt sich nach denselben Maßstäben wie der verfassungsrechtliche Begriff des Art 103 I GG, der sich nach hM in einem Mindestschutz erschöpft und nicht etwa Fälle offensichtlicher Unrichtigkeit von Entscheidungen einbezieht (BGH WRP 08, 956 f [BGH 13.12.2007 - I ZR 47/06] Tz 5; BGH, I ZR 112/17, BeckRS 19, 2252 Rz 4; BFH NJW 06, 861; Musielak/Musielak Rz 6; offenlassend BVerfG NJW-RR 08, 75, 76 [BVerfG 14.05.2007 - 1 BvR 730/07]; aA HK-ZPO/Saenger Rz 5). Danach kann eine für § 321a relevante Rüge nur vorliegen, wenn die Vorgaben des Art 103 I GG nicht gewahrt werden, nicht aber bei jeder Verletzung von Anhörungserfordernissen wie zB §§ 91a II 2, 17a II 1 GVG, § 7 I 3 KapMuG. Der Gesetzgebungsauftrag des BVerfG (Rn 1) bezog sich allein auf Verletzung des rechtlichen Gehörs und sollte offenbar auch nur insoweit umgesetzt worden (BTDrs 15/3606, 14). Diese Engführung entspricht dem Zweck, die Verfassungsbeschwerde zu entlasten, weil einfache prozessuale Fehler nicht rügbar sind, erklärt aber nicht hinreichend, warum andere Grundrechtsverstöße wie zB Verstöße gegen Art 101 I 2 GG (nicht: lediglich prozessuale Fehler) nicht ebenfalls von § 321a erfasst werden. Insoweit ist der Schritt zu einer analogen Anwendung bei Verletzungen anderer Verfahrensgrundrechte nicht mehr weit (dazu unten Rn 18). Wegen anderer Verstöße bleiben allerdings auch nach hM Gegenvorstellungen möglich (näher unten Rn 18; BSG NJW 06, 860 [BSG 28.07.2005 - B 13 RJ 178/05 B]; Zuck NJW 05, 1226, 1227; aA aber tendenziell BVerfG NJW 06, 2906, 2908).
Art 103 I GG statuiert Informationsbefugnisse und Stellungnahmerechte der Parteien sowie Kenntnisnahme- und Würdigungspflichten des Gerichts: Es hilft zu typisieren in Überraschungs- und Hinweisfälle und solche Fällen, in denen das Äußerungsrecht der Parteien verkürzt wird oder das Vorbringen nicht ausreichend gewürdigt wird (ähnl Musielak/Musielak Rz 6). Nicht in jedem Verfahrensfehler liegt aber eine Missachtung dieser Vorgaben, insb ist ein Verstoß gegen die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht (§ 139 Rn 8 ff) und die Zurückweisung von Parteivorbringen nicht zwingend ein Verstoß gegen Art 103 GG (näher Einl Rn 44; BVerfGE 66, 116, 147; 67, 90, 95 f; 84, 188, 190; NJW 94, 848, 849, ausf Zuck NJW 05, 3753), ebenso wenig die fehlerhafte Rechtsanwendung im Allgemeinen oder generell eine ungerechtfertigte Annahme von Präklusion in Verkennung der §§ 296, 530, 531. Darin kann aber jeweils eine Verletzung des Art 103 I GG liegen.
Rn 7
Einzelheiten: So erkennt die verfassungsgerichtliche Rspr ein Verbot von Überraschungsentscheidungen (BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144; 98, 218, 263; 108, 341, 345 = NJW 03, 3687 [BVerfG 07.10.2003 - 1 BvR 10/99]; Zö/Feskorn Rz 10) ebenso an wie das Verbot, ohne vorherigen Hinweis im Urt Anforderungen an die Substantiierung eines Parteivortrags zu stellen (BVerfGE 84, 188, 190 [BVerfG 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90]) oder die Entscheidung auf neue eingeführte, bisher nicht diskutierte rechtliche Gesichtspunkte zu stützen (BVerfGE aaO); keine Verletzung aber, soweit keine Hinweispflicht besteht (BGH 9.7.09 – II ZR 262/07, BeckRS 09, 21887: Kostenentscheidung). Gehörsverletzung liegt vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen eine gewissenhafte und kundige Partei auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (BGH 17.5.18 – V ZR 98/17, Bec...