Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
a) Grundlagen.
Rn 49
Über die gesetzlich geregelten Fälle der Rechtskraftdurchbrechung hinaus kann nach gefestigter Rspr der Grundsatz von Treu und Glauben der Berufung auf eine rechtskräftige, aber materiell unrichtige Entscheidung entgegenstehen. Die Rechtskraft muss nach der bereits vom Reichsgericht entwickelten und vom BGH fortgeführten Formel dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelinhaber seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten seines Gegners ausnutzt. In diesen Fällen gewährt die Rspr in sehr engen Grenzen einen auf § 826 BGB gestützten Schadensersatzanspruch, mit dem sich der Schuldner gegen die Vollstreckung aus einem erschlichenen oder sittenwidrig ausgenutzten Titel zur Wehr setzen kann (stRspr zB RGZ 61, 359, 361, BGHZ 26, 391, 396 = NJW 58, 826; 101, 380, 384 = NJW 87, 3256; NJW 05, 2991, 2994; NJW-RR 12, 304 = MDR 12, 368 m Anm Vollkommer). Der Anspruch ist gerichtet auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe des Titels. Eine aufgrund des rechtskräftigen Titels bereits freiwillig erbrachte oder zwangsweise beigetriebene Leistung kann als Schadensersatz in Geld zurückverlangt werden (BGH NJW 86, 1751, 1753). Ziel der Klage nach § 826 BGB ist nicht die Aufhebung der rechtskräftigen Entscheidung. Daher sind die Streitgegenstände der beiden Prozesse weder identisch, noch wird das kontradiktorische Gegenteil der im ersten Prozess ausgesprochenen Rechtsfolge begehrt. Die Rspr hat aus diesem Grund lange Zeit die Ansicht vertreten, dass die Schadensersatzklage nach § 826 BGB das unrichtige Urt in seinem Bestand unberührt lasse und nur den hierdurch entstandenen Schaden ausgleiche (RGZ 78, 389, 393; BGHZ 50, 115, 118 = NJW 68, 1275). Die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils ist aber Voraussetzung für die Bejahung eines Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB. Da die Rechtskraft des Urteils grds eine erneute Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs verbietet, liegt in der Feststellung der materiellen Unrichtigkeit der ergangenen Entscheidung eine Durchbrechung der Rechtskraft dieses Titels (heute allgA BGHZ 151, 316, 327 = NJW 02, 2940; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 220).
b) Kritik und Stellungnahme.
Rn 50
Das Prozessrecht regelt die Abwehr evident unrichtiger Urteile abschließend. Fälle der Rechtskraftdurchbrechung sind in der ZPO enumerativ aufgezählt. Dabei zählt die materielle Unrichtigkeit des Titels für sich gesehen noch nicht zu den Restitutionsgründen des § 580, in denen der Gesetzgeber die Rechtskraft eines Titels nur im Falle eines evidenten Nachweises der Unrichtigkeit beseitigt wissen will. Die Anerkennung einer ohne die strengen Voraussetzungen des Restitutionsrechts gegebenen Möglichkeit der Rechtskraftdurchbrechung negiert diesen gesetzgeberischen Willen. In der Literatur ist daher die Möglichkeit einer Rechtskraftdurchbrechung mit der Klage nach § 826 BGB zu Recht scharf kritisiert worden, da sie die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts unterläuft und zu erheblicher Rechtsunsicherheit führt (Münzberg NJW 86, 361; Prütting/Weth Rz 280 ff, 383; Gaul FS Henckel 95, 235, 265; B/L/H/A/G/Weber Grdz. § 322 Rz 30). In jüngerer Zeit nimmt aber die Zahl der Befürworter der höchstrichterlichen Rspr zu (Zö/G.Vollkommer Vor § 322 Rz 72; St/J/Althammer § 322 Rz 270f). Ein Grund hierfür dürfte in den anerkannten Lücken des Wiederaufnahmerechts liegen, deren Schließung durch den Gesetzgeber nicht als Vorteil ggü der langjährigen richterlichen Rechtsfortbildung iRd Klage nach § 826 BGB gesehen wird (Wieczorek/Schütze/Büscher § 322 Rz 233). Eine flexible Generalklausel wird auch im Prozessrecht für unentbehrlich gehalten, um evidentes Unrecht und Rechtsmissbrauch zu verhindern (MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 221). Bedenklicher erscheinen dagegen Begründungsversuche, welche die Autonomie des Prozessrechts ggü dem materiellen Recht verneinen (Hönn FS Lüke 97, 265). Trotz der fortbestehenden dogmatischen Bedenken gegen die Konstruktion des BGH, muss die Rspr zu § 826 BGB als gesicherte richterliche Rechtsfortbildung beachtet werden (Musielak/Voit/Musielak § 322 Rz 93). Um der Gefahr zu begegnen, dass die Klage nach § 826 BGB zu einem Einfallstor für eine uferlose Billigkeitsrechtsprechung wird, ist eine sachgerechte und maßvolle Anwendung dieses Rechtsinstituts auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle notwendig. Dem ist die Rspr bislang gerecht geworden, da sie nur sehr zurückhaltend von der Rechtskraftdurchbrechung über § 826 BGB Gebrauch gemacht hat (Zur Rechtskraftdurchbrechung bei Titulierung von Doppelleistungen s den Meinungsstand bei Foerste FS Werner 09, 426, 438 f; Vollkommer FS Stürner 13, 581, 6588 ff).
c) Verhältnis zur Restitutionsklage.
Rn 51
Die Klage aus § 826 ist ggü der Restitutionsklage nicht subsidiär, sondern steht selbstständig neben den Wiederaufnahmemöglichkeiten (BGHZ 50, 115, 120 = NJW 68, 1275). Sie kann ungeachtet der im Restitutionsrecht bestehenden Einschränkungen erhoben werden, insb ohne Einhaltung der Klag...