Gesetzestext
Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind (öffentliche Urkunden), begründen, wenn sie über eine vor der Behörde oder der Urkundsperson abgegebene Erklärung errichtet sind, vollen Beweis des durch die Behörde oder die Urkundsperson beurkundeten Vorganges.
(2) Der Beweis, dass der Vorgang unrichtig beurkundet sei, ist zulässig.
A. Urkundenbeweis.
Rn 1
In der ZPO gilt gem § 286 I der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. § 286 II ordnet eine Bindung an feste Beweisregeln nur in den gesetzlich bezeichneten Fällen an. Solche festen Beweisregeln finden sich in den §§ 415 ff für den Urkundenbeweis (aA Britz ZZP 110, 61, 63 ff). ›Urkundenbeweis‹ meint die Verwendung der Urkunde wegen ihres Gedankeninhalts; davon zu unterscheiden ist die Vorlage einer Urkunde als Objekt des Augenscheinsbeweises (St/J/Berger vor § 415 Rz 14). Es soll Beweis geführt werden darüber, dass eine Erklärung, eine amtliche Anordnung, Verfügung oder Entscheidung bestimmten Inhalts erfolgt ist.
I. Begriff der Urkunde.
1. Schriftlichkeit, Verkehrsfähigkeit.
Rn 2
Urkunde iSd Zivilprozessordnung ist jede schriftlich verkörperte Gedankenerklärung (BGHZ 65, 300, 301; 136, 357, 362). Dabei muss eine Schrift verwendet worden sein, die das Gericht versteht oder sich erforderlichenfalls mit Hilfe eines Übersetzers oder eines Sachverständigen verständlich machen kann (Musielak/Voit/Huber § 415 Rz 4; MüKoZPO/Schreiber § 415 Rz 5; aA Britz S 127 zu Zahlenschriften, chiffrierten Schriften etc). Aus welchem Material und auf welche Art und Weise das Schriftstück hergestellt wurde, ist für den Urkundenbegriff unerheblich (Köln NJW 92, 1774 [OLG Köln 09.01.1991 - 2 U 99/90]). Der Schriftträger muss lediglich als solcher geeignet sein, die Lesbarkeit zu ermöglichen. Wenn hierzu besondere technische Hilfsmittel erforderlich sein sollten, fehlt es dem Schriftstück an der für eine Urkunde erforderlichen Verkehrsfähigkeit (MüKoZPO/Schreiber § 415 Rz 7).
Rn 3
Eine Ausdehnung auf Augenscheinsobjekte, die auf andere Art und Weise einen Gedankeninhalt vermitteln können (zB Tonaufnahmen), hat der BGH unter Hinweis auf den Gesamtzusammenhang der Regeln über den Urkundenbeweis zu Recht abgelehnt (BGHZ 65, 300, 301 = NJW 76, 294). Die besondere formelle Beweiskraft kommt den Urkunden iSd ZPO nur zu, wenn sie in ihrer Erscheinungsform von einem bestimmten Aussteller herrühren. Die öffentliche Urkunde muss hierzu von einer Urkundsperson in der vorgeschriebenen Form aufgenommen, die Privaturkunde muss unterschrieben oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet sein. Diese für die Beweiskraft der Urkunde entscheidenden Merkmale können nur schriftliche Erklärungen erfüllen. Gescannte Dokumente, die ohne technische Hilfsmittel nicht gelesen werden können, sind ebenfalls keine Urkunden, sondern Augenscheinsobjekte (Roßnagel/Wilke NJW 06, 2145, 2148; vgl auch Musielak/Voit/Huber § 416 Rz 4 aE). § 371b weist der ›gescannten öffentlichen Urkunde‹, die mit einem Übertragungsvermerk im Sinne dieser Vorschrift versehen ist, die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde zu (s Kommentierung dort). Elektronisch signierte elektronische Dokumente ordnet die Zivilprozessordnung systematisch den Augenscheinsobjekten zu, erklärt jedoch die Regeln über den Urkundenbeweis für entsprechend anwendbar (§ 371a). Gleiches gilt nach Maßgabe des § 371b für gescannte und mit einem Transfervermerk versehene öffentliche Urkunden.
2. Einheitliche Urkunde.
Rn 4
Eine Urkunde kann aus mehreren Blättern bestehen. Es genügt, dass sich die beschriebenen Blätter nach ihrem Erscheinungsbild (zB fortlaufende Nummerierung der Seiten, inhaltliche Gliederung) als einheitliche Urkunde darstellen. Eine körperliche Verbindung der einzelnen Blätter ist nicht erforderlich (BGH NJW 97, 2182, 2183; BGHZ 136, 257 = NJW 98, 58). Das Erfordernis einer festen Verbindung, die nur unter Substanzverletzung aufgehoben werden konnte, hat der BGH in den als ›Auflockerungsrechtsprechung‹ bezeichneten Entscheidungen zur Frage der Einhaltung eines Schriftformerfordernisses mehr und mehr aufgegeben. Besteht eine Urkunde aus mehreren Blättern, ist nur erforderlich, dass der Zusammenhang zweifelsfrei erkennbar ist (Schlesw DNotZ 19, 537, 540 [OLG Schleswig 28.05.2018 - 3 Wx 70/17] [gemeinschaftliches Testament]; im Ergebnis verneint: Karlsr NJW-RR 04, 1497 [OLG Karlsruhe 24.09.2003 - 6 U 52/03]; s.a. LAG Köln 24.4.15 – 4 Sa 774/14 zu § 440 Abs 2). Anlagen zu einer Haupturkunde müssen ebenfalls nicht fest mit dieser verbunden sein, sondern es genügt eine zweifelsfreie Bezugnahme auf die Anlage. Auch eine Rückverweisung in der Anlage auf die Haupturkunde ist nicht erforderlich (BGH NJW 99, 1104, 1105 [BGH 21.01.1999 - VII ZR 93/97]). Mindestanforderungen für die Wahrung der Urkundeneinheit hat der BGH angesichts der Vielfalt möglicher Gestaltungsformen bewusst nicht aufgestellt, sondern allein auf die Bedeutung der zweifelsfreien Bez...