Dr. Bernd Müller-Christmann
Gesetzestext
Auch ohne Antrag einer Partei und ohne Rücksicht auf die Beweislast kann das Gericht, wenn das Ergebnis der Verhandlungen und einer etwaigen Beweisaufnahme nicht ausreicht, um seine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer zu erweisenden Tatsache zu begründen, die Vernehmung einer Partei oder beider Parteien über die Tatsache anordnen.
A. Normzweck.
Rn 1
Die Vorschrift regelt – als Korrektiv zu den restriktiven Bestimmungen der Parteivernehmung auf Antrag (§§ 445–447) – die Parteivernehmung vAw, also ohne Rücksicht auf einen Beweisantrag und die Beweislast. Sie enthält für die Beweisführung eine Ausnahme vom Beibringungsgrundsatz und dient dazu, dem Gericht ein Mittel zur Vervollständigung der Grundlagen für die richterliche Überzeugungsbildung an die Hand zu geben, wenn nach dem Ergebnis der Verhandlung und einer etwaigen Beweisaufnahme eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer bestrittenen Behauptung spricht und weitere Erkenntnisquellen nicht zur Verfügung stehen. Dieser Normzweck rechtfertigt es, an der Notwendigkeit einer Anfangswahrscheinlichkeit (s Rn 3) grds festzuhalten. Um verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung zu tragen, wird man für bestimmte Konstellationen eine begrenzte Ausnahme zulassen müssen (s Rn 6–9).
B. Voraussetzungen.
I. Erhebung aller angebotenen Beweise.
Rn 2
Eine Parteivernehmung darf erst nach Erhebung aller angebotenen zulässigen und erheblichen Beweise erfolgen. Ein Antrag auf Parteivernehmung nach §§ 445, 447 geht deshalb vor (MüKoZPO/Schreiber Rz 2). Vorrangig ist insb der Zeugenbeweis; unterlässt eine Partei diesen ihr möglichen Beweisantritt, ist für die Anwendung des § 448 kein Raum (BGH NJW 20, 776; NJW 97, 1988 [BGH 26.03.1997 - IV ZR 91/96]; Kobl r+s 01, 187). Auch Beweismittel, die das Gericht vAw heranziehen kann (§§ 144, 273 II 2), müssen vorher ausgeschöpft werden (Zö/Greger Rz 3). Dagegen ist es nicht erforderlich, dass die beweisbelastete Partei eine im Lager des Prozessgegners stehende Person als Zeugen benennt. Erst recht muss sie nicht die Parteivernehmung des Gegners beantragen (BGH NJW 20, 776; Laumen MDR 20, 334 [BGH 12.12.2019 - III ZR 198/18]).
II. Nicht ausreichendes Beweisergebnis, aber gewisse Wahrscheinlichkeit.
Rn 3
Die Würdigung des Verhandlungsergebnisses und einer etwaigen Beweisaufnahme darf noch keine Überzeugung des Gerichts von der Richtigkeit der zu beweisenden Behauptung ergeben. Erforderlich ist aber, dass bereits eine gewisse, nicht notwendig hohe Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Behauptung erbracht ist und das Gericht durch die Parteivernehmung die Ausräumung seiner restlichen Zweifel erwartet (BGH NJW 89, 3222 [BGH 05.07.1989 - VIII ZR 334/88]). Dies bedeutet im Einzelnen:
1. Anfangswahrscheinlichkeit.
Rn 4
Zum einen dürfen sich die streitigen Parteibehauptungen nicht völlig beweislos gegenüberstehen. Vielmehr muss sich die ›gewisse Wahrscheinlichkeit‹ – in der Beweislehre auch ›Anfangswahrscheinlichkeit‹, ›Anfangsbeweis‹ oder ›Anbeweis‹ genannt (Bender/Nack/Treuer Rz 417 ff) – aus dem Ergebnis der Verhandlung oder einer bereits durchgeführten Beweisaufnahme (hM, vgl BGH NJW 99, 363, 364) ergeben. Eine Wahrscheinlichkeit auf Grund einzelner Beweisanzeichen (BGHZ 110, 363, 364) oder sogar aufgrund Lebenserfahrung (BGH NJW-RR 94, 636; NJW-RR 91, 983, 984) kann genügen. Auch der Eindruck bei einer Parteianhörung nach § 141 (BGH NJW 17, 3367 [BGH 20.07.2017 - III ZR 296/15]; aA Naumbg IBR 14, 711 [OLG Naumburg 03.04.2014 - 1 U 23/13]), die urkundenbeweislich verwertbare Aussage der Partei in einem anderen Verfahren oder die in einem vorangegangenen Strafprozess getroffenen Feststellungen (BGH VersR 84, 665) können die erforderliche Wahrscheinlichkeit begründen (weit Bsp bei B/L/H/A/G/Gehle Rz 6). Dass eine Partei schon vorprozessual einen bestimmten Vorgang behauptet hatte, genügt ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht (BGH NJW 89, 3222 [BGH 05.07.1989 - VIII ZR 334/88]). Entgegen dem irreführenden Wortlaut der Vorschrift reicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit von der Unwahrheit der zu beweisenden Behauptung für die Anordnung einer Parteivernehmung nicht (Zö/Greger Rz 4). Zum Zwecke des Gegenbeweises ist die Parteivernehmung nach § 448 nicht vorgesehen. Dieser ist bereits geführt, wenn die Bildung einer Überzeugung beim Gericht verhindert wird, einer Verstärkung der Wahrscheinlichkeit zum Beweis der Unwahrheit bedarf es nicht.
2. Beweiswert.
Rn 5
Zum anderen muss das Gericht der beabsichtigten Parteivernehmung einen bestimmten Beweiswert (Überzeugungswert) zumessen; dh es muss annehmen, dass die Partei über die zu beweisende Tatsache etwas bekunden und ihrer Aussage Glauben geschenkt werden kann (BGH VersR 92, 867; MüKoZPO/Schreiber Rz 5; Wieczorek/Schütze/Völzmann-Stickelbrock Rz 16).
III. Auslegung des § 448 im Hinblick auf verfassungsrechtliche Anforderungen.
Rn 6
Gegen die einschränkenden Voraussetzungen für die Anordnung einer Parteivernehmung werden bei Vorliegen einer Beweisnot und unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit Bedenken vorgebracht (grdl Kwaschik S 87 ff).
1. Beweisnot.
Rn 7
Eine Beweisnot (dazu BGH VersR 92, 867; BGHZ 110, 363, 365f) rechtfertigt es nicht von vornherein, an die Behauptung der beweisbelasteten Partei nur einen geminderten Wahrscheinlichkeitsmaßstab a...