Gesetzestext
1Das Gericht kann sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. 2Auf Antrag muss mündlich verhandelt werden.
A. Allgemeines.
Rn 1
S 1 eröffnet dem Amtsrichter im Hinblick auf sog ›Bagatell- oder Kleinverfahren‹ im untersten Streitwertsegment sowohl ein Ermessen hinsichtlich der Frage, ob er in das vereinfachte Verfahren eintreten will, als auch hinsichtlich der Art der Verfahrensführung. Die Vorschrift dient der Vereinfachung (vgl BTDrs 11/4155, 11) und damit va auch der Beschleunigung der von ihrem Anwendungsbereich erfassten Verfahren sowie insoweit letztlich der Entlastung der Gerichte. Ob diese Ziele, insb letzteres, erreicht werden, ist allerdings unklar (krit etwa MüKoZPO/Deubner Rz 2; aA, im positiven Sinne, B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 3 mwN). Sie ist eine Spezialregelung und geht daher grds einer ganzen Reihe von allgemeinen Verfahrensvorschriften vor, wobei die Reichweite des Vorrangs und damit einhergehend die Reichweite des diesbezüglichen richterlichen Ermessens iE uneinheitlich bewertet werden (für ein weites Ermessen B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 2, 3, enger etwa MüKoZPO/Deubner Rz 13). Durch S 2 wird klargestellt, dass auf Antrag mindestens einer der Parteien mündlich zu verhandeln ist. Damit wird insb der Bestimmung in Art 6 I EMRK Rechnung getragen, nach der jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache in billiger Weise vor Gericht öffentlich gehört wird (vgl BTDrs 11/4155, 11).
B. Voraussetzungen.
I. Streitwert.
Rn 2
Voraussetzung für die Ermessensentscheidung betreffend die Anwendung des vereinfachten Verfahrens ist, dass der Streitwert 600 EUR nicht übersteigt. Es handelt sich hierbei um den Zuständigkeitsstreitwert gem § 2 ff (LG Mainz Urt v 17.7.12 – 6 S 31/12), und zwar zunächst um den bei Einreichung der Klage (§ 4 I). Bei einer späteren Änderung ist zu unterscheiden: Bei unverändertem Streitgegenstand sind sowohl eine Verringerung als auch eine Steigerung des Streitwerts wegen § 4 I unbeachtlich. Das gleiche gilt für Hilfsaufrechnungen (allgM, vgl etwa Zö/Herget Rz 5 mwN). Bei einer Änderung des Streitgegenstandes, etwa aufgrund einer Klageänderung oder Klageerweiterung mit der Folge einer Wertsteigerung einerseits, bzw einer Teilrücknahme der Klage, einer Teil-Erledigung oder des Erlasses eines Teilurteils mit der Folge einer Verminderung des Wertes andererseits, wird im ersteren Fall das vereinfachte Verfahren gem § 495a kraft Gesetzes ex nunc unstatthaft, im letzteren Fall eröffnet (hM, vgl etwa Musielak/Wittschier Rz 4 mwN; aA Schneider ZAP Fach 13, 199, 200 für Streitwertminderungen). Entsprechendes gilt auch bei einer Streitwertänderung in den Fällen von Verbindung (§ 147) oder Trennung (§ 145) des Verfahrens. Widerklagen führen, weil gem § 5 Hs 2 insoweit grds keine Wertaddition stattfindet, erst ab einem Streitwert der Widerklage selbst von über 600 EUR zu einer Unanwendbarkeit von § 495a für das Verfahren insgesamt (vgl etwa MüKoZPO/Deubner Rz 8; aA Zimmermann Rz 2).
Rn 3
Bei einem nachträglichen Wegfall der Statthaftigkeit des vereinfachten Verfahrens kann der Amtsrichter die bisherigen Ergebnisse des Verfahrens weiter verwenden. Ab dem Wegfall muss die Sache dann im ordentlichen Verfahren weiterbetrieben werden (B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 5; MüKoZPO/Deubner Rz 10). Die fehlerhafte Durchführung des vereinfachten Verfahrens trotz Nichtvorliegens seiner Voraussetzungen ist gem § 295 I heilbar (B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 6). Im Berufungsverfahren wäre ein entsprechender Verstoß nur beachtlich, wenn er für die angegriffene Entscheidung auch erheblich geworden wäre (§ 520 III S 2 Nr 2). Eine isolierte Anfechtung der amtsgerichtlichen Streitwertfestsetzung kommt nach ganz überwiegender Ansicht nicht in Betracht, da die Festsetzung den Zuständigkeitsstreitwert betrifft. In Betracht kommt insoweit eine Inzidentkontrolle in der Berufungsinstanz, die an die erstinstanzliche Wertfestsetzung nicht gebunden ist (vgl dazu etwa Köln MDR 10, 231 mwN, LG Dortmund NJW-RR 06, 1222 [LG Dortmund 24.02.2006 - 2 T 1/06]; aA LG München I NJW-RR 01, 1222 – insoweit beachte aber Rn 14 zur Frage der Zurückverweisung).
II. Anwendungsbereich.
Rn 4
Nachdem sich die Regelung in § 495a von ihrer Systematik her auf das ›Verfahren vor den Amtsgerichten‹ bezieht, gilt sie grds für alle, auch nicht vermögensrechtliche Streitigkeiten im Zuständigkeitsbereich des AG (Ausnahmen: vgl § 495 Rn 1, insb seit 1.9.09 § 113 I 2 FamFG für Ehesachen und Familienstreitsachen, zuvor bereits §§ 608, 621b, 624 III, 661 I Nr 3, II ZPO aF) sowie für sämtliche Verfahrensarten (hM, vgl etwa Zö/Herget Rz 3; Musielak/Wittschier Rz 1, jeweils mwN; aA St/J/Leipold Rz 6 – nur ordentliches Klageverfahren), also insb auch für den Urkunden-, Scheck- und Wechselprozess (aA Bergerfurth NJW 91, 961, 962), das einstweilige Verfügungs- und Arrestverfahren (aA B/L/H/A/G/Bünnigmann Rz 7, 36, HK-ZPO/Pukall, Rz 1) oder auch das PKH-Verfahren (aA Kunze S 78f). Dabei sind jedoch stets die Besonderheiten dieser Verfahrensarten als Spezialregelungen vorrangig zu berücksichtigen (MüKoZPO/Deu...