Rn 5

Erstinstanzlicher Vortrag der Parteien muss von den Parteien weder ausdrücklich wiederholt noch in Bezug genommen werden. Er wird zum Prozessstoff der Berufungsinstanz, soweit er vom Erstgericht festgestellt wurde. Feststellen kann das erstinstanzliche Gericht sowohl, welche Tatsachen von den Parteien vorgetragen wurden (›tatbestandliche Feststellung‹) als auch, ob diese Tatsachen als wahr oder unwahr zu behandeln sind (›wertende Feststellung‹). Mit Bindungswirkung festgestellt sind auch diejenigen Beweisergebnisse, die unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande kamen (LAG Hessen Urt v 1.8.11 – 7 Sa 1878/10). Festgestellt sind nur die Ausführungen im Ersturteil, nicht vom Erstgericht im Anschluss an die Beweisaufnahme geäußerte vorläufige Einschätzungen (München WRP 18, 501 [OLG München 07.12.2017 - 29 U 208/17]).

 

Rn 6

Tatbestandlich festgestellt sind all diejenigen Tatsachen, deren Vortrag durch die Parteien sich aus dem (ggf nach § 320 berichtigten) Tatbestand und den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sowie aus dem Protokoll der diesem vorangegangenen mündlichen Verhandlung ergibt. Dies gilt auch dann, wenn die Feststellungen in prozessual unzulässiger Weise getroffen wurden, solange ein Beweisverwertungsverbot nicht eingreift (Ddorf Urt v 27.1.15 – 21 U 114/13; HessLAG Urt v 1.8.11 – 7 Sa 1878/10). Ist Parteivorbringen im erstinstanzlichen Tatbestand unzutreffend dargestellt, kommt eine Tatbestandsberichtigung in Betracht (Dührsen/Richter ArbR 15, 420, 470). Wird diese unterlassen, schließt dies eine abweichende Feststellung durch das Berufungsgericht unter den Voraussetzungen des § 529 I nicht aus. Dass Parteivortrag im Tatbestand nicht wiedergegeben ist, steht seiner Berücksichtigung im zweiten Rechtszug dann nicht entgegen, wenn es zuvor schriftsätzlich angekündigt war (insoweit keine negative Beweiskraft des Tatbestands; BGH NJW 07, 2414 [BGH 27.09.2006 - VIII ZR 19/04]; NJW 04, 1876 [BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03] und 2152, 2155 [BGH 19.03.2004 - V ZR 104/03]; Dräger MDR 15, 131; Stackmann NJW 13, 2929; Gaier NJW 04, 110, 111 und 2041, 2043), wohl aber, soweit eine solche Ankündigung fehlt.

 

Rn 7

Wertend festgestellt sind alle Tatsachen, die das Gericht 1. Instanz als wahr oder unwahr behandelt hat (vgl § 559 II). Eine solche Feststellung ist möglich als Ergebnis einer Beweisaufnahme (§ 286 I 1; BGH NJW 03, 3480 [BGH 15.07.2003 - VI ZR 361/02]; München NJW-Spezial 16, 617) oder einer Entscheidung, nach der eine Tatsache auch ohne Beweisaufnahme als wahr zu behandeln ist. Letzteres ist der Fall bei zugestandenen (§ 288), unbestrittenen (§ 138 II) und offenkundigen (§ 291) sowie bei Tatsachen, die sich aus gesetzlichen Vermutungen, Beweis- oder Auslegungsregeln ergeben (BGH NJW 04, 2152 [BGH 19.03.2004 - V ZR 104/03]). Die Unwahrheit einer Tatsache kann auf einem geglückten Gegenbeweis oder schlicht auf der Negativfiktion nach dem Misslingen eines Beweises oder dessen Nichterhebung mangels Beweisantritts beruhen (BGH NJW 05, 422, 423 [BGH 30.11.2004 - X ZR 133/03] und 2152, 2153 [BGH 04.05.2005 - XII ZR 254/01]).

a) Grundsätzliche Bindung des Berufungsgerichts.

 

Rn 8

Von einer Bindung des Berufungsgerichts an die Feststellungen des Erstgerichts (Ullenboo ZZP 16, 235) kann nur insoweit gesprochen werden, als eine erneute Feststellung aller Tatsachen in zweiter Instanz nicht in jedem Fall erforderlich ist. Grds legt das Berufungsgericht den Sachverhalt zugrunde, von dem auch das Erstgericht ausgegangen ist. Eine Bindung iS einer Einschränkung der eigenen Entscheidungsbefugnis, wie sie zB die §§ 308, 563 II begründen, enthält § 529 I nicht. Hält das Berufungsgericht den festgestellten Sachverhalt für falsch, steht es ihm frei, die Feststellungen zu wiederholen oder zu ergänzen (Hirtz NJW 14, 1642). Die ›Bindung‹ iSd Rspr und Lit besteht damit lediglich darin, dass eine erneute Tatsachenfeststellung auf Ausnahmefälle beschränkt ist und im Regelfall unterbleibt.

 

Rn 9

Die in diesem Sinne verstandene Bindung gilt insb für Beweise, die weder neu erhoben noch neu gewürdigt werden. Die Bindung besteht an Feststellungen zu Zulässigkeits- und Begründetheitsvoraussetzungen genauso, wie an die Entscheidung nicht tragende Feststellungen (BGH GRUR 15, 768 [BGH 24.02.2015 - X ZR 31/13]). Die Bindung ist vAw zu berücksichtigen, kann durch übereinstimmende Erklärung der Parteien nicht beseitigt werden. Hat das LG unzutreffende Feststellungen getroffen, kann zur Vermeidung der Bindungswirkung eine Tatbestandsberichtigung nach § 320 erforderlich sein (Einsiedler MDR 11, 1454).

 

Rn 10

§ 529 betrifft nur Tatsachen, dh sinnlich wahrnehmbare Zustände oder Vorgänge. Dazu gehören auch innere Tatsachen (Kenntnisse, Absichten, Fähigkeiten). Nicht erfasst werden Wertungen. Keine Bindung besteht damit insb an Rechtsansichten (Ddorf ZEV 18, 464 [OLG Düsseldorf 06.04.2018 - I-7 U 76/17]; Hamm VersR 11, 637 [OLG Hamm 26.10.2010 - I-21 U 163/08]). Dazu gehört zB das Ergebnis einer Auslegung durch das Erstgericht. Hält das Berufungsgericht die erstinstanzliche Ausle...

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