Rn 9
Angriffs- und Verteidigungsmittel (zum Begriff Rn 3), die erstmals in der Berufung vorgebracht werden, können nur berücksichtigt werden, wenn eine der in Nr 1–3 genannten Voraussetzungen vorliegt. Diese Voraussetzungen sind in der Berufungsbegründung darzulegen (§ 520 III 2 Nr. 4); fehlt es an dieser Darlegung, (und liegt auch kein anderer Berufungsgrund vor), ist die Berufung bereits unzulässig (BGH NJW-RR 15, 465 [BGH 09.10.2014 - V ZB 225/12]). Die einzelnen Alternativen des Abs 2 schließen sich gegenseitig nicht aus. So steht der Zulassung neuen Vortrags wegen eines Rechtsfehlers des Gerichts nach Abs 2 Nr 1 nicht entgegen, dass die erstinstanzliche Geltendmachung des neuen Angriffs- und Verteidigungsmittels auch aus Gründen unterblieben ist, die eine Nachlässigkeit der Partei iS des Abs 2 Nr 3 tragen (BGH NJW 15, 3455 [BGH 01.07.2015 - VIII ZR 226/14]; BGH NJW-RR 15, 1278 m Anm Klose NJ 15, 346 [BGH 03.03.2015 - VI ZR 490/13]).
Rn 10
Neu ist ein in der Berufung geltend gemachtes Angriffs- und Verteidigungsmittel, wenn es erstinstanzlich nicht (vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung) vorgetragen war und daher im erstinstanzlichen Urteil unberücksichtigt geblieben ist (BGH NJW 18, 1686; GesR 14, 658; NJW 04, 2382; Frankf ZIP 18, 967). Dies gilt unabhängig davon, ob ein solcher Vortrag unterblieben oder erfolgt und nach § 296a unberücksichtigt geblieben ist (BGH NJW 18, 1686 [BGH 27.02.2018 - VIII ZR 90/17]), ob er möglich gewesen wäre oder ob die Tatsache erst nachträglich entstanden ist. Neu sind auch der Vortrag erst nach Schluss der Verhandlung bzw Ablauf einer Schriftsatznachlassfrist und der erneute Vortrag von Tatsachen, die erstinstanzlich wieder fallen gelassen wurden (BGH NJW 07, 774 [BGH 23.02.2006 - III ZB 50/05]), so der durch Nichteinzahlung eines angeforderten Auslagenvorschusses nicht aufrecht erhaltene Beweisantritt (§ 399; BGH NJW 17, 2288 [BGH 31.05.2017 - VIII ZR 69/16]; KG MDR 18, 361 [KG Berlin 16.11.2017 - 22 U 24/17]). Neu sein kann auch der Vortrag eines erst in zweiter Instanz beigetretenen Streithelfers, wenn die Hauptpartei die Tatsache erstinstanzlich unstreitig gestellt hatte (Hambg ZMR 15, 324). Ob ein Vortrag neu ist, wird grds anhand des Tatbestands des erstinstanzlichen Urteils geprüft (Kobl OLGR 09, 514; Brandenbg Urt v 15.7.09 – 13 U 120/07).
Rn 11
Nicht neu sind Angriffs- und Verteidigungsmittel, die erstinstanzlich bereits vorgetragen waren und für die Entscheidung berücksichtigt wurden oder hätten berücksichtigt werden müssen (BGH NJW 20, 244; NJW-RR 03, 1321; Brandbg NJW-Spezial 11, 494; Ddorf BauR 11, 1695; Stuttg BauR 11, 555 und 1366), weil es von einem nach § 283 S 1 gewährten Schriftsatzrecht gedeckt war (BGH MDR 20, 467 [BGH 10.12.2019 - VIII ZR 377/18]; NJW 18, 1686 [BGH 27.02.2018 - VIII ZR 90/17] m Anm Skamel [1689]) oder das erstinstanzliche Gericht sie fälschlich für unerheblich gehalten hat (BGH GE 13, 117; NJW-RR 10, 1286). Nicht neu ist auch die bloße Erläuterung, Konkretisierung, Verdeutlichung oder Ergänzung erstinstanzlichen Vorbringens (BGH BauR 16, 1209; NJW-RR 15, 1109; GRUR 12, 1236; BauR 10, 817; NJW 07, 1531; NJW-RR 07, 1170; MDR 06, 531; BGHZ 159, 245), wohl aber, wenn hierdurch erstinstanzlich unsubstantiierter Vortrag erstmals substantiiert wird (BGH GesR 13, 658; BGHZ 159, 245). Nicht neu ist Vorbringen der Partei zu Umständen, die in der Vorinstanz vAw hätten erkannt und berücksichtigt werden müssen (zB die Widersprüchlichkeit von Sachverständigenfeststellungen: BGH VersR 15, 1239). Nicht § 531 II unterfällt (und damit zweitinstanzlich neu möglich ist) auch die Rüge der Unschlüssigkeit des gegnerischen Vortrags (BGH NJW 09, 679 [BGH 31.10.2008 - V ZR 71/08]).
Rn 12
An § 531 II zu messen sind Angriffs- und Verteidigungsmittel auch dann, wenn sie im Zu-eigen-machen gegnerischen Vortrags besteht (Kobl VersR 14, 883 [OLG Koblenz 21.08.2013 - 5 U 256/13]; Naumbg Urt v 18.7.13 – 1 U 151/12).
I. Angriffs- und Verteidigungsmittel zu erkennbar übersehenen oder für unerheblich gehaltenen Gesichtspunkten (Nr 1).
Rn 13
Gesichtspunkt ist jede für die Entscheidung erhebliche tatsächliche oder rechtliche Erwägung. Übersehen ist, was beim Urteilserlass nicht einbezogen wurde, für unerheblich gehalten wurde, was zwar erwogen, aber verworfen wurde. Die Erkennbarkeit ist anhand der Akte zu beurteilen (MüKoZPO/Rimmelspacher Rz 20). Zuzulassen sind Tatsachen, die erstinstanzlich nicht vorgetragen wurden, weil sie einen Gesichtspunkt betreffen, der in erster Instanz entweder von allen Verfahrensbeteiligten übersehen worden ist oder den das erstinstanzliche Gericht für unerheblich gehalten hat. Ungeschriebene Voraussetzung ist dabei, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert (BGH MDR 18, 1182 [BGH 29.05.2018 - VI ZR 370/17]; MDR 15, 536; NJW-RR 12, 231 [OLG Koblenz 12.12.2011 - 12 U 1110/10]; NJW 11, 3361 [BGH 29.06.2011 - VIII ZR 212/08]; NJW-RR 07, 77...