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Gesichtspunkt ist jede für die Entscheidung erhebliche tatsächliche oder rechtliche Erwägung. Übersehen ist, was beim Urteilserlass nicht einbezogen wurde, für unerheblich gehalten wurde, was zwar erwogen, aber verworfen wurde. Die Erkennbarkeit ist anhand der Akte zu beurteilen (MüKoZPO/Rimmelspacher Rz 20). Zuzulassen sind Tatsachen, die erstinstanzlich nicht vorgetragen wurden, weil sie einen Gesichtspunkt betreffen, der in erster Instanz entweder von allen Verfahrensbeteiligten übersehen worden ist oder den das erstinstanzliche Gericht für unerheblich gehalten hat. Ungeschriebene Voraussetzung ist dabei, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert (BGH MDR 18, 1182 [BGH 29.05.2018 - VI ZR 370/17]; MDR 15, 536; NJW-RR 12, 231 [OLG Koblenz 12.12.2011 - 12 U 1110/10]; NJW 11, 3361 [BGH 29.06.2011 - VIII ZR 212/08]; NJW-RR 07, 774). Diese Voraussetzung ist (schon) dann erfüllt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten (weiter) vorzutragen (BGH aaO). Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. So kann das Gericht eine Partei etwa durch die Erteilung von Hinweisen veranlassen, in erster Instanz von weiterem Vorbringen abzusehen (vgl BGH Urt v 23.9.04 – VII ZR 173/03, aaO). Das erstinstanzliche Gericht kann aber auch durch das Unterlassen von Hinweisen den Eindruck erwecken, der bisherige Parteivortrag sei ausreichend (vgl BGH NJW-RR 05, 213 [BGH 14.10.2004 - VII ZR 180/03]). Zumindest mitursächlich für die Verlagerung des Parteivorbringens in das Berufungsverfahren ist eine unzutreffende Rechtsansicht des erstinstanzlichen Gerichts auch dann geworden, wenn der Beklagte auf die Klage nicht erwidert und anschließend die ›Flucht in die Säumnis‹ angetreten, das erstinstanzliche Gericht jedoch kein Versäumnisurteil gegen den Beklagten erlassen, sondern die Klage abgewiesen hat (BGH NJW 15, 3455 m Anm Rodemann IBR 15, 525). Dasselbe gilt, wenn das erstinstanzliche Gericht die Klage wegen vermeintlicher Unschlüssigkeit durch unechtes Versäumnisurteil abgewiesen hat (BGH NJW 15, 3455). Beurteilt das Berufungsgericht die Rechtslage anders als das Erstgericht und fehlt es hierfür an ausreichendem Vortrag der Parteien, so ist es diesen (regelmäßig nach einem Hinweis des Gerichts auf die abweichende rechtliche Beurteilung) gestattet, entsprechende Angriffs- und Verteidigungsmittel nachzuholen (BGH MDR 16, 664; MDR 09, 998; NJW-RR 07, 1612; BGHZ 158, 295). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Vortrag bereits in 1. Instanz möglich, zumutbar oder geboten gewesen wäre (BGH NJW-RR 06, 1292, 1293 [BGH 30.06.2006 - V ZR 148/05]) oder ob die Partei die rechtliche Fehleinschätzung hätte erkennen und das Gericht hierauf hinweisen müssen, wohl aber darauf, dass die fehlerhafte Rechtsansicht des Erstgerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei auch beeinflusst hat (BGH NJW-RR 05, 167; NJW 04, 2382 [BGH 02.04.2004 - V ZR 107/03]). Der Anwendung des § 531 II Nr. 1 steht nicht entgegen, dass die erstinstanzliche Geltendmachung des neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittels (auch) aus Gründen unterblieben ist, die eine Nachlässigkeit der Partei im Sinne des § 531 Abs 2 Nr 3 tragen (BGH NJW-RR 2015, 1278 [BGH 03.03.2015 - VI ZR 490/13]).