Gesetzestext
(1) Das Berufungsgericht darf die Vernehmung oder Beeidigung einer Partei, die im ersten Rechtszuge die Vernehmung abgelehnt oder die Aussage oder den Eid verweigert hatte, nur anordnen, wenn es der Überzeugung ist, dass die Partei zu der Ablehnung oder Weigerung genügende Gründe hatte und diese Gründe seitdem weggefallen sind.
(2) War eine Partei im ersten Rechtszuge vernommen und auf ihre Aussage beeidigt, so darf das Berufungsgericht die eidliche Vernehmung des Gegners nur anordnen, wenn die Vernehmung oder Beeidigung im ersten Rechtszuge unzulässig war.
A. Systematik, Zweck, Anwendungsbereich.
Rn 1
Hat eine Partei sich erstinstanzlich zum Beweis für eine Behauptung auf die Vernehmung des Gegners als Partei berufen (§ 445), kann dieser seine Vernehmung (§ 446), die Aussage oder den Eid (§ 453 II) verweigern. Das Gericht hat dann nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob es die behauptete Tatsache als erwiesen ansehen will (§ 446). Lässt die Partei sich vernehmen, kann das Gericht die Beeidigung anordnen, im Fall der Vernehmung beider Parteien aber nur für eine Partei (§ 452 I 2). § 536 I stellt sicher, dass ein erstinstanzlich nicht zur Verfügung stehendes Beweismittel in der Berufung nur dort noch erhoben wird, wo dies (ausnahmsweise) gerechtfertigt ist. Er ist damit Ausfluss des allgemeinen Rechtsgedankens, dass das Berufungsverfahren die Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens darstellt und die in 1. Instanz an Handlungen oder Unterlassungen der Parteien geknüpfte Wirkungen in 2. Instanz fortdauern (MüKoZPO/Rimmelspacher § 534 Rz 1). § 536 II verhindert demgegenüber die Kollision widersprüchlicher Eide.
Rn 2
Die Vorschrift gilt in allen Berufungsverfahren, auch im WEG-Verfahren. Auf die arbeitsgerichtliche Berufung im Urteilsverfahren findet sie gem § 64 VI ArbGG entsprechende Anwendung, im Beschlussverfahren sind die §§ 445–449 und damit auch § 536 nicht anwendbar.
B. Erstinstanzliche Nichtvernehmung/Nichtbeeidigung Partei (Abs 1).
Rn 3
Hat die Partei erstinstanzlich ihre Vernehmung, die Aussage oder den Eid verweigert oder ist ihre Säumnis als solche anzusehen (§ 454) – das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird vom Berufungsgericht frei beurteilt – und ändert sie ihre Meinung für die 2. Instanz, so kommt ihre Vernehmung oder Beeidigung zum selben Beweisthema nur in Betracht, wenn (neben dem Vorliegen allgemeinen Voraussetzungen aus §§ 445 ff) das Berufungsgericht der Überzeugung ist, dass die Weigerung auf genügenden Gründen beruhte, die nunmehr weggefallen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob die Vernehmung auf Antrag des Gegners (§ 445), auf eigenen Antrag (§ 447) vAw (§ 448) oder über den Verbleib einer Urkunde (§ 426 S 3) erfolgt. Hierzu ist erforderlich, dass die Partei dartut, warum die Weigerung erfolgte und welche Änderungen insoweit eingetreten sind. Erfolgte die Verweigerung ohne hinreichenden Grund oder besteht dieser Grund fort, kommt eine Vernehmung oder Beeidigung in 2. Instanz nicht in Betracht.
Rn 4
Genügende Gründe für die erstinstanzliche Weigerung können rechtlicher oder tatsächlicher, auch rein subjektiver Natur sein. So genügt es, dass die Partei aus Furcht vor einem Straf- bzw berufsrechtlichen Verfahren, zur Vermeidung außerhalb des Zivilprozesses liegender weiterer Nachteile oder zur Wahrung ihres nachvollziehbaren Ehrgefühls nicht aussagen wollte, dass Betriebsgeheimnisse gewahrt oder außerhalb des Beweisthemas liegende Umstände nicht offenbart werden sollen. Nicht ausreichend ist allein das Bemühen, den vorliegenden Rechtsstreit zu gewinnen.
Rn 5
Weggefallen ist der Grund, wenn er nicht mehr besteht. Unproblematisch ist dies für den Wegfall objektiver Gründe, zB den Eintritt der Verjährung für zunächst befürchtete straf- oder zivilrechtliche Nebenfolgen. Für den Wegfall subjektiver Gründe (zB Überwindung eines zunächst bestehenden Schamgefühls) ist deren Nachvollziehbarkeit zu fordern, um zu verhindern, dass der Gesetzeszweck eines Verbots willkürlichen Aufsparens der Parteivernehmung für die 2. Instanz ausgehöhlt wird (HK/Wöstmann Rz 2; St/J/Grunsky § 533 aF Rz 4; aA Musielak/Ball Rz 2; B/L/H/A/G/Göertz Rz 5).
Rn 6
In Anlehnung an andere berufungsrechtliche Präklusionsvorschriften (§§ 531 II, 532 S 3) dürfte es genügen, dass der Weigerungsgrund und sein Wegfall im Bestreitensfall bloß glaubhaft gemacht werden, ein Vollbeweis ist nicht erforderlich (MüKoZPO/Rimmelspacher Rz 7; B/L/H/A/G/Göertz Rz 5; aA [Vollbeweis] Wieczorek/Schütze/Gerken § 535 Rz 5).
C. Erstinstanzliche Vernehmung/Beeidigung Partei (Abs 2).
Rn 7
Ist eine Partei erstinstanzlich vernommen und beeidigt worden, kommt die Beeidigung der anderen Partei im Berufungsverfahren nur in Betracht, wenn die erste Vernehmung oder Beeidigung unzulässig war. Verhindert wird dadurch, dass zwei sich widersprechende eidliche Aussagen im gleichen Prozess vorliegen (§ 452 I 2). Das gilt auch dann, wenn das erstinstanzliche Gericht und/oder das Berufungsgericht die zuerst beeidete Aussage für falsch hält.
Rn 8
Unzulässig sein kann die erstinstanzliche Beeidigung wegen Verletzung eines gesetzlichen Eidesverbots, etwa aus §§ 452 IV, 455 II, oder wegen Verkennung der Beweisführungslast (RGZ 47, 6...