Rn 5

Die Verpflichtung zur Sachentscheidung durch das Berufungsgericht macht Sinn nur, wenn erstinstanzlich auch über den gesamten (erstinstanzlichen) Prozessstoff verhandelt wurde. Hat sich die Verhandlung nicht auf alle entscheidungserheblichen Streitpunkte erstreckt und das Erstgericht über die Klageforderung sachlich nicht oder nicht endgültig entschieden, so ginge den Parteien bei einer Sachentscheidung durch das Berufungsgericht eine Instanz verloren. Will man ihnen die Möglichkeit einräumen, auch über den bislang nicht behandelten Streitstoff erstinstanzlich zu verhandeln, ist der Rechtsstreit dorthin zurückzuverweisen (Celle Urt v 27.10.10 – 3 U 84/10).

 

Rn 6

Eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung ist als Ausnahme von der Regel der Sachentscheidung durch das Berufungsgericht (§ 538 I) nur in den gesetzlich genannten Fällen möglich (BGH FamRZ 05, 882). Erforderlich ist, dass einer der zugelassenen Zurückverweisungsgründe (§ 538 II 1 Nr 1–7) vorliegt und zumindest eine Partei die Zurückverweisung auch beantragt hat (§ 538 II 1 letzter Hs; Ausnahme II 3).

I. Antrag.

 

Rn 7

Eine Zurückverweisung setzt grds den Antrag zumindest einer Partei voraus. Ohne einen solchen Antrag ist eine Zurückverweisung allein in den Fällen der Nr 7 möglich. Verzichten die Parteien übereinstimmend auf eine Neuverhandlung in erster Instanz, so muss der Rechtsstreit vom Berufungsgericht auch dann zu einer sachlichen Entscheidung geführt werden, wenn dies mit einem erheblichen Aufwand, ggf mit einer völligen Neuverhandlung des gesamten Rechtsstreits verbunden ist. Der Antrag kann sowohl vom Berufungskläger als auch vom Berufungsbeklagten gestellt werden, bereits in der Berufungsbegründung bzw -erwiderung enthalten sein und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nachgeholt (Saarbr VersR 04, 624) oder zurückgenommen werden. Er kann als alleiniger Antrag oder mit einem hilfsweise (für den Fall, dass das Berufungsgericht das Vorliegen eines Zurückverweisungsgrunds verneint) gestellten Sachantrag kombiniert werden (Saarbr NJW-RR 03, 573; Zö/Gummer/Heßler Rz 4). Auch der Zurückverweisungsantrag selbst kann als Hilfsantrag gestellt werden (Kobl Urt v 20.1.16 – 5 U 781/15). Möglich ist ferner, dass eine Anschlussberufung unter die Bedingung gestellt wird, dass das Berufungsgericht nicht nach § 538 II verfahren wird (Ddorf NJW 20, 71). Zur Entbehrlichkeit des Antrags in Familiensachen (§ 117 II 1 FamFG) Celle OLG Report Nord 14/13 Anm 8.

II. Erforderlichkeit weiterer Verhandlung.

 

Rn 8

Voraussetzung für die Zurückverweisung ist ferner, dass die weitere Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht erforderlich ist. Dies ist – trotz Vorliegens eines Zurückverweisungsgrunds – nicht der Fall, wenn der Rechtsstreit vor dem Berufungsgericht zur Endentscheidung reif ist oder mit vertretbarem Aufwand (Nr 1) entscheidungsreif gemacht werden kann. Es ist auch nicht der Fall, wenn mit der Bestätigung der angefochtenen Entscheidung der Rechtsstreit beendet ist. Hält das Berufungsgericht die Abweisung der Klage als unzulässig (§ 538 II 1 Nr 3) auf die Berufung des Klägers hin für richtig, so erfolgt keine Zurückverweisung, sondern bloß eine Zurückweisung des Rechtsmittels (BGHZ 27, 15; BGHZ 15, 26).

III. Fallgruppen.

 

Rn 9

Eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht zu erneuten Verhandlung und Entscheidung ist nur in den gesetzlich genannten Fällen möglich. Erforderlich ist, dass einer der zugelassenen Zurückverweisungsgründe (§ 538 II 1 Nr 1–7) vorliegt. Diese sind als Ausnahmeregelungen eng auszulegen (BGH NJW-RR 06, 1678 [OLG Karlsruhe 23.02.2006 - 9 U 132/05]; MDR 05, 645).

 

Rn 10

Die Zurückverweisungsgründe der Nr 1–7 regeln Fälle, in denen aufgrund einer Beschränkung des Streitstoffs in 1. Instanz eine vollständige Verhandlung nicht stattgefunden hat. Diese Beschränkung kann aufgrund (vom Gericht richtig angewendeter) gesetzlicher Verfahrensvorschriften (Nr 2–6) oder aufgrund eines gesetzwidrigen Verfahrensablaufs durch das Gericht (Nr 1 und 7) eingetreten sein. Gemeinsam ist allen Zurückverweisungstatbeständen, dass sie als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und einer Analogie nur sehr beschränkt zugänglich sind (BGHZ 31, 358; Wieczorek/Schütze/Gerken Rz 2). Über die gesetzlich genannten Fälle hinaus ist eine Zurückverweisung auch dann nicht möglich, wenn sie zweckmäßig oder wünschenswert wäre (BGH NJW-RR 05, 22 [BGH 22.07.2004 - VII ZR 232/01]), selbst wenn beide Parteien dies übereinstimmend beantragen (BGH NJW 91, 1893 [BGH 21.02.1991 - III ZR 169/88]; 88, 1984 [BGH 24.11.1987 - VI ZR 42/87]; 85, 2945, 2946; St/J/Grunsky § 538 aF Rz 1).

1. Wesentlicher Verfahrensmangel (Abs 2 S 1 Nr 1).

 

Rn 11

Wichtigster Fall des § 538 II 1 ist die Generalklausel der Nr 1. Danach ist eine Zurückverweisung möglich, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und deswegen eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist.

a) Verfahrensmangel.

 

Rn 12

Erforderlich ist ein Mangel im Verfahren, nicht ein Mangel in der Rechtsfindung (›error in procedendo‹, nicht ›error in iudicando‹). Mängel in der Anwend...

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