Gesetzestext
(1) Das Berufungsgericht hat die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden.
(2) 1Das Berufungsgericht darf die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges nur zurückverweisen,
1. |
soweit das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, |
2. |
wenn durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen ist, |
3. |
wenn durch das angefochtene Urteil nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden ist, |
4. |
wenn im Falle eines nach Grund und Betrag streitigen Anspruchs durch das angefochtene Urteil über den Grund des Anspruchs vorab entschieden oder die Klage abgewiesen ist, es sei denn, dass der Streit über den Betrag des Anspruchs zur Entscheidung reif ist, |
5. |
wenn das angefochtene Urteil im Urkunden- oder Wechselprozess unter Vorbehalt der Rechte erlassen ist, |
6. |
wenn das angefochtene Urteil ein Versäumnisurteil ist oder |
7. |
wenn das angefochtene Urteil ein entgegen den Voraussetzungen des § 301 erlassenes Teilurteil ist und eine Partei die Zurückverweisung beantragt. 2Im Fall der Nummer 3 hat das Berufungsgericht sämtliche Rügen zu erledigen. 3Im Fall der Nummer 7 bedarf es eines Antrags nicht. |
A. Systematik, Zweck, Anwendungsbereich.
Rn 1
In § 538 werden Gesichtspunkte der Prozesswirtschaftlichkeit von denen der materiellen Richtigkeitsgewähr des Urteils gegeneinander abgegrenzt. § 538 I verpflichtet das Berufungsgericht, grds in der Sache selbst zu entscheiden, auch wenn das erstinstanzliche Verfahren unvollständig oder fehlerhaft war und die Herbeiführung der Entscheidungsreife zusätzlichen, vom Erstgericht nicht geleisteten Prozessaufwands bedarf. Auch der Verlust einer Instanz für die Parteien rechtfertigt alleine die Zurückverweisung nicht. Dem Gesetzgeber steht es frei, zu regeln, unter welchen Voraussetzungen er eine weitere Instanz eröffnet. Mit § 538 I hat er deutlich gemacht, dass er den Grundsatz der Prozesswirtschaftlichkeit über den der Rechtsmittelkontrolle stellt (BGH NJW 11, 769 [BGH 29.04.2010 - I ZR 39/08]). Eine Zurückverweisung kommt daher nur in den in § 538 II normierten Fallgruppen und grds nur dann in Betracht, wenn zumindest eine Partei dies beantragt. Nur bei Vorliegen dieser Ausnahmevoraussetzungen treten Gesichtspunkte der Prozesswirtschaftlichkeit in den Hintergrund, um die Parteien vor dem durch einen gerichtlichen Verfahrensfehler bedingten Verlust einer Instanz zu bewahren (für den Vorrang des Anspruchs auf eine 2. Instanz Baumert MDR 11, 893).
Rn 2
Die Vorschrift gilt in allen Berufungsverfahren, auch im WEG-Verfahren. In Beschwerdeverfahren kommt eine entsprechenden Anwendung nur ausnahmsweise in Betracht (Köln ZMR 09, 627; Frankf FamRZ 96, 819). Auf das arbeitsgerichtliche Berufungsverfahren findet sie gem § 64 VI ArbGG grds entsprechende Anwendung. Ausgenommen ist § 539 II 1 Nr 1 (§ 68 ArbGG; BAG NJW 96, 3430), es sei denn, der Verfahrensmangel kann in der Berufungsinstanz nicht behoben werden. Ausgenommen ist auch § 539 II 1 Nr 5, weil die Vorschriften über den Urkunden- und Wechselprozess auf das arbeitsgerichtliche Verfahren keine Anwendung finden (§ 46 II 2 ArbGG).
B. Eigene Sachentscheidung (Abs 1).
Rn 3
Aufgabe der Berufungsinstanz ist es, die erstinstanzliche Entscheidung auf eventuelle Fehler zu überprüfen. Ergibt sich ein solcher Fehler, so ist er vom Berufungsgericht zu korrigieren. Daraus resultiert die grundsätzliche Verpflichtung zu einer eigenen Sachentscheidung. Dies gilt auch, wenn Entscheidungsreife nur mit erheblichem Aufwand herbeigeführt werden kann, insb eine erforderliche Beweisaufnahme vollständig in die 2. Instanz verlagert wird. Allein die Überlegung, dass das erstinstanzliche Gericht mehr Vorarbeit hätte leisten können bzw sollen oder der Umfang der vom Berufungsgericht zu leistenden Arbeit rechtfertigt eine Zurückverweisung nicht. Trifft das Berufungsgericht in Anwendung des § 538 I, II S 1 Nr 1 eine eigene Sachentscheidung, ohne darüber zu befinden, ob das LG einen Ablehnungsantrag – unter Mitwirkung des abgelehnten Richters – zu Recht als unzulässig verworfen hat, stellt dies keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter dar; ›gesetzlicher Richter‹ ist in dieser Lage das Berufungsgericht (BGH MDR 08, 763).
Rn 4
Dies gilt auch für neuen Prozessstoff, der erst in 2. Instanz in den Rechtsstreit eingeführt wurde (Klageänderung, Widerklage, Aufrechnung). Hier ist eine Zurückverweisung mit der Begründung, es habe keine erstinstanzliche Verhandlung stattgefunden (Rn 5), nicht möglich, weil das Gesetz dies mit der Möglichkeit einer Zulassung (§ 533) erkennbar in Kauf nimmt (BGH NJW 84, 1552, 1555 [BGH 30.03.1983 - VIII ZR 3/82]). Die Parteien haben keinen Anspruch darauf, dass über jeden sachlichen Streitpunkt in zwei Tatsacheninstanzen verhandelt wird (BGH NJW 79, 925 [BGH 08.11.1978 - VIII ZR 199/77]). Machen sie einen Streitpunkt erst in 2. Instanz geltend, wird hier sachlich ...