Gesetzestext

 

(1) Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens kann durch Nichtigkeitsklage und durch Restitutionsklage erfolgen.

(2) Werden beide Klagen von derselben Partei oder von verschiedenen Parteien erhoben, so ist die Verhandlung und Entscheidung über die Restitutionsklage bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Nichtigkeitsklage auszusetzen.

A. Normzweck und dogmatische Einordnung.

 

Rn 1

Mit der Ausrichtung des Zivilprozesses am materiellen Recht wäre es nicht vereinbar, wenn ein Urt, das in einem unter schwersten Mängeln leidenden Verfahren zu Stande gekommen ist, oder dessen Grundlagen in einer für das allgemeine Rechtsgefühl unerträglichen Weise erschüttert sind (BGH NJW 88, 1914 mwN), unanfechtbar bliebe. Trotz rechtskräftigem Abschluss kann ein solches Verfahren deshalb wieder aufgenommen werden (s vor §§ 578 ff Rn 1).

Mögliche Formen der Wiederaufnahme sind die Nichtigkeitsklage (§ 579) und die Restitutionsklage (§ 580). Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass Fehler iSd § 579 I die verfahrensmäßige Urteilsgrundlage betreffen, während im Rahmen von § 580 inhaltliche Mängel geltend gemacht werden (Gaul FS Matsumoto, S 715, 738, 744f). Bestrebungen, ein einheitliches Institut der Wiederaufnahme unabhängig von der Unterscheidung zwischen Nichtigkeits- und Restitutionsklage zu entwickeln (so MüKoZPO/Braun/Heiß § 578 Rz 3, 42 f mwN; Braun, Rechtskraft und Restitution, Teil 2, [85], S 76–83), haben sich nicht durchgesetzt (hM, etwa Musielak/Voit/Musielak § 578 Rz 9),

B. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen.

I. Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens.

 

Rn 2

Im Rahmen der dreistufigen Prüfung bei der Wiederaufnahme (s vor §§ 578 ff Rn 3) regelt § 578 I die Zulässigkeitsvoraussetzung der Statthaftigkeit.

1. Rechtskräftiges Endurteil.

 

Rn 3

Endurteile (§ 300) sind diejenigen Urteile, die für die Instanz endgültig über den Streitgegenstand entscheiden. Darunter fallen auch Teilurteile, Versäumnisurteile, Anerkenntnisurteile, Prozessurteile sowie Urteile im einstweiligen Rechtsschutz. Ob es sich um ein Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsurteil handelt, spielt keine Rolle. Entsprechend sind auch Scheidungsurteile (nunmehr Beschl, § 38 FamFG, s noch Rn 4) grds wiederaufnahmefähig. Das Urt muss in formelle Rechtskraft erwachsen sein, was entweder erfordert, dass Rechtsmittelfristen abgelaufen sind, oder, dass ein Rechtsmittel von vornherein nicht statthaft ist. Im Prozess behauptete Verfahrensmängel sind auch dort geltend zu machen (§ 582 Rn 3, § 580 Rn 19).

 

Rn 4

Ebenfalls statthaft ist die Wiederaufnahme bei rechtskräftigen Vollstreckungsbescheiden (§ 584 II). Zugelassen wurde sie in analoger Anwendung bei unanfechtbaren Beschlüssen, die das Verfahren beenden, wie etwa dem Beschluss mit dem eine Nichtzulassungsbeschwerde verworfen wird (BGH NJW 84, 2364; NJW 95, 332; ZIP 06, 1316; WRP 10, 1265, 1266; Schneider MDR 87, 287; Schilken ZPR Rz 1050; vgl zuletzt BVerwG v 12.5.16 – 1 A 4/16 Rz 3; BAG v 13.10.15 – 3 AZN 915/15 [F] – nv; BSG v 23.4.14 – B 14 AS 368/13 B – nv; VGH München v 26.3.19 – 10 ZB 19.129). Dies gilt auch für rechtskräftige Beschlüsse im Insolvenzverfahren (BGH WM 07, 229 [BGH 07.12.2006 - IX ZB 257/05]; NJW-RR 06, 912 [BGH 02.02.2006 - IX ZB 279/04]) und im Zwangsvollstreckungsverfahren (Hamm OLGZ 84, 454), auch bei rechtskräftigen Zuschlagbeschlüssen, wenn es sich bei dem Wiederaufnahmegrund um einen Zuschlagsversagungsgrund handelt (BGH MDR 20, 1015, aA Ertle ZfIR 20, 635 [BGH 05.03.2020 - V ZB 20/19]; für eine direkte Anwendung Stamm LMK 20, 432973). Nicht jeder unanfechtbare Beschluss ist aber der Wiederaufnahme zugänglich. Er muss vielmehr auf einer Sachprüfung beruhen und das Verfahren konstitutiv beenden. Deshalb kommt ein Wiederaufnahmeverfahren gegen Kostenbeschlüsse nach übereinstimmender Erledigungserklärung (FG Berlin-Brandenburg EFG 17, 418; VGH München BeckRS 18, 37513) oder nach Klagerücknahme (OVG NRW v 29.8.16 – 4 A 1250/16) nicht in Betracht. Dasselbe gilt für Beschlüsse, mit denen ein Antrag auf Eilrechtsschutz (vgl LSG Berlin-Brandenburg v 22.4.16 – L 9 KR 150/16 B ER RG), ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (FG München v 18.8.16 – 10 K 1868/16) oder ein Richterablehnungsgesuch (Bay LSG v 28.7.17 – L 1 SV 4/17 B) abgelehnt wird, da sie keine Innenbindung entfalten und ein derartiger Antrag jederzeit wieder gestellt werden kann. Beim Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit verweist § 48 II FamFG für die Wiederaufnahme auf die entsprechende Anwendung der §§ 578–591. Das gilt wg § 118 FamFG auch für Ehesachen und Familienstreitsachen. Das Wiederaufnahmeverfahren wird durch das familienrechtliche Abänderungsverfahren nicht verdrängt; beim Versorgungsausgleich ist es bei verschwiegenen Anwartschaften vorrangig vor einem schuldrechtlichen Ausgleich nach §§ 20 ff VersAusglG (Borth FamRZ 13, 1185; ders FamRZ 12, 337, 339). Außerdem sind die §§ 578 ff in den Zulassungssachen betreffenden gerichtlichen Verfahren nach der Bundesrechtsanwaltsordnung entsprechend anwendbar (BGHZ 125, 288). Wird die Wiederaufnahme eines durch Beschluss beend...

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