Rn 4

Die Nichtigkeitsgründe entsprechen den in § 547 Nrn 1 bis 4 geregelten absoluten Revisionsgründen (BGH MDR 17, 538 [BGH 22.12.2016 - IX ZR 259/15]), bei denen eine Kausalität des Verfahrensmangels für das angegriffene Urt unwiderleglich vermutet wird. Anders als die Revision gestattet die Nichtigkeitsklage aber keine Nachprüfung der Richtigkeit im Vorprozess bereits getroffener Feststellungen und ist insofern keine Wiederholung von Rechtsmitteln (Gaul FS Kralik, 157, 159; ders FS Matsumoto, 715, 738 f; Musielak/Voit/Musielak § 579 Rz 10). Es gilt vielmehr der Grundsatz, dass eine Nichtigkeitsklage ausscheidet, wenn etwas im Vorprozess geprüft und – wenn auch zu Unrecht – festgestellt worden ist (zuletzt BGH NJW-RR 08, 448 [BGH 27.09.2007 - V ZB 196/06]; MüKoZPO/Braun/Heiß § 579 Rz 19; Musielak/Voit/Musielak § 579 Rz 10), so dass sie prinzipiell – auch im Falle von Nr 2 und Nr 4 (s noch Rn 7, 10, 19) – nur dann möglich ist, wenn der Nichtigkeitsgrund im Vorprozess übersehen wurde (Gaul FS Kralik, 157, 158–168 mwN; ders FS Matsumoto, 715, 738 f mwN). Auf die Kommentierung zu § 547, zu §§ 41, 42, sowie zu §§ 21a ff GVG kann aber im Hinblick auf das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes ansonsten verwiesen werden. Im Einzelnen ergibt sich spezifisch für das Wiederaufnahmerecht Folgendes:

1. Nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (Nr 1).

 

Rn 5

Die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, Art 101 I 2 GG, gewährleistet wurde.

Der Richter muss im Vorhinein durch normative, abstrakt-generelle Bestimmung ermittelt werden können; seiner Bestimmung darf keine Ermessensentscheidung zu Grunde liegen, durch die etwa für einzelne Geschäfte bestimmte Richter ausgesucht oder die Verfahren ansonsten nicht nach allgemeinen Merkmalen zugeteilt werden (etwa BVerfG NJW 05, 2689 [BVerfG 16.02.2005 - 2 BvR 581/03]; BAGE 102, 242). Das Mittel zur Gewährleistung der Garantie des gesetzlichen Richters ist auch und va die Geschäftsverteilung, die durch das Gerichtsverfassungsrecht als innergerichtlicher Organisationsakt ausgestaltet wurde, und sowohl die gerichtsinterne Geschäftsverteilung als auch die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung in einem Geschäftsverteilungsplan beinhaltet (Schilken GVR Rz 367, 368). Fehler in der Geschäftsverteilung können sich unter anderem im Hinblick auf deren Bestimmung im Voraus, die Offenlegung des Geschäftsverteilungsplans (s BAG AP Nr 5 zu § 21e GVG), die Genauigkeit der Bestimmung (s BFH NJW 92, 1062 [BFH 29.01.1992 - VIII K 4/91]), das Jährlichkeitsprinzip, das Stetigkeitsprinzip und das Prinzip der Bestimmung nach abstrakt-generellen Merkmalen (s BAGE 102, 242 [BAG 20.08.2002 - 3 AZR 133/02]) ergeben (ausf Schilken GVR §§ 16, 19).

Neben der unrichtigen Geschäftsverteilung kommt als Nichtigkeitsgrund auch ein Verstoß gegen die die grundgesetzliche Garantie des gesetzlichen Richters vornehmlich in § 309 konkretisierenden Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit in Betracht, wenn etwa ein nicht mitwirkender Richter das Urt unterschreibt, während des Verfahrens ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts eintritt (BAG NJW 71, 1332 [BAG 16.12.1970 - 4 AZR 98/70]; HK-ZPO/Saenger § 309 Rz 4 f, 7; Zimmermann § 579 Rz 1) oder an Stelle eines Kollegiums ein einzelner Richter entschieden hat (LSG NRW v 22.3.11 – L 6 AS 3/11 – nv, Rz 15). Die Mitwirkung eines blinden Richters – auch bei der Einnahme des Augenscheins – verletzt das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nicht und stellt deshalb keinen Nichtigkeitsgrund dar (str, wie hier Frankf MDR 10, 1015 [OLG Nürnberg 23.03.2010 - 4 W 2234/09]; aA Lange, in HHSp, § 119 FGO Rz 55 und Rz 101). Auch der Ablauf der Amtszeit eines beteiligten Richters vor Unterzeichnung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ist kein Nichtigkeitsgrund, wenn dieser Richter bereits bei vorheriger Beratung und Verkündung das Urt unterzeichnet hat (LArbG München v 2.2.11 – 11 Sa 343/08 – nv, Rz 38). Es genügt dann ein Verhinderungsvermerk des Vorsitzenden der Kammer. Ist ein Beteiligter vor der Übertragung der Sache auf den Einzelrichter nicht angehört worden, führt dies nicht zu einer fehlerhaften Besetzung, da die Sache durch Beschluss des Senats auf den Senat übertragen werden kann (BSG NJW 19, 2886).

Angesichts der auf rechtsähnliche Ausnahmefälle beschränkten Analogiefähigkeit der Wiederaufnahmegründe (VGH Bayern v 28.3.19 – 20 S 19.384; v 27.3.19 – 10 C 19.223; §§ 578 ff Rn 1), ist § 579 I Nr 1 nicht analog anwendbar, wenn die Pflicht zur Anrufung des Großen Senats eines Bundesgerichts oder der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art 267 AEUV verletzt wird (aA BFHE 254, 481 [BFH 13.07.2016 - VIII K 1/16]; 260, 410 [BFH 07.02.2018 - XI K 1/17]; Wieczorek/Schütze/Büscher, § 579 Rz 11). Ohnehin müsste dafür der insoweit vorhandene Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten worden sein (vgl Rn 6).

 

Rn 6

Nicht jeder Fehler in der Bestimmung der mitwirkenden Gerichtspersonen durch den Gesc...

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