A. Grundlagen.
I. Der Begriff des Zivilprozesses.
Rn 1
Die Bezeichnung ›Zivilprozess‹ hat sich im Mittelalter und dort wohl erstmals im kanonischen Recht gebildet. Gemeint ist der richterliche Erkenntnisfortschritt hin zu einem Urt (procedere, processus). Im klassischen römischen Recht sprach man von lis und iudicium. Heute sind mit dem Begriff des Zivilprozesses alle gerichtlichen Verfahren in Zivilstreitigkeiten angesprochen (vgl § 13 GVG). Dabei umfasst der Zivilprozess sowohl das Erkenntnisverfahren (1.–7. Buch der ZPO) als auch die Zwangsvollstreckung mit einstweiligem Rechtsschutz (8. Buch der ZPO) und daneben die private Schiedsgerichtsbarkeit (10. Buch der ZPO) sowie die Regelungen zum europäischen Prozessrecht (11. Buch der ZPO). Das frühere 6. und 9. Buch der ZPO sind vollständig herausgenommen und in das FamFG (in Kraft seit 1.9.09) überführt worden.
II. Das Zivilprozessrecht.
Rn 2
Als Zivilprozessrecht bezeichnet man die Summe der Normen, die die verfahrensrechtlichen Grundlagen für die Feststellung, die Verwirklichung und die Sicherung subjektiver Rechte und Rechtsverhältnisse aus dem Bereich des Zivilrechts ermöglichen. Trotz dieser engen Verknüpfung von Zivilrecht und Zivilprozessrecht müssen beide Bereiche strikt unterschieden werden. Zivilprozessrecht ist Öffentliches Recht. Seine Begrifflichkeit und seine Auslegung weichen vom materiellen Zivilrecht ab. In zentralen Begriffen und Funktionen besteht ein deutlicher Unterschied. So ist insb der Streitgegenstand nicht identisch mit dem materiell-rechtlichen Anspruch, das Pfändungspfandrecht ist nicht eine dritte Form des privatrechtlichen Pfandrechts neben Faustpfand und gesetzlichem Pfandrecht, die Rechtskraft eines Urteils lässt sich nicht materiell-rechtlich erklären, der Gerichtsvollzieher wird nicht im Auftrag tätig, wie dies § 753 I bis heute formuliert.
III. Der Zweck des Zivilprozesses.
Rn 3
Zentraler Zweck des Zivilprozesses ist und bleibt der Schutz und die Durchsetzung subjektiver Rechte des einzelnen Rechteinhabers. Dieser Schutz und damit die Institution des Zivilprozesses sind verfassungsrechtlich garantiert (s.u. Rn 6, 36 ff). Wenn der Gesetzgeber dem Einzelnen subjektive Rechte zuteilt und ihm Selbsthilfe verbietet, muss er zur Durchsetzung dieser subjektiven Rechte den Zivilprozess eröffnen. Eine Privatrechtsordnung kann ohne die Hilfe eines staatlichen Zivilprozesses und der Zwangsvollstreckung nicht bestehen (R/S/G § 1 Rz 5).
Neben dem Schutz subjektiver Rechte gewährleistet der Zivilprozess aber auch den Schutz von Allgemeininteressen (vgl die Verbandsklagen nach § 13 UWG und § 1 UKlaG sowie den kollektiven Rechtsschutz nach dem KapMuG und nach dem Musterfeststellungsklagengesetz, vgl § 606), ferner die Bewährung des objektiven Rechts und damit der Rechtsordnung, die Sicherung von Rechtsfrieden durch Schaffung von Rechtsgewissheit sowie die Rechtsfortbildung (Gaul AcP 168, 27; Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck 1993). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung von Verfahrensregeln Teil einer eigenständigen prozeduralen Gerechtigkeit ist (Prütting FS Schiedermair, 01, 445; krit dazu St/J/Brehm vor § 1 Rz 28). In programmatischer Weise wird von der Systemtheorie auch eine Legitimation durch Verfahren geltend gemacht (Luhmann, Legitimation durch Verfahren 1969). Ob die Effizienz im Sinne einer ökonomischen Analyse als Prozesszweck gelten kann (so Hofmann ZZP 126, 83), erscheint dagegen zweifelhaft (Bruns ZZP 124, 29, 31); vgl Rn 35.
IV. Das Prozessrechtsverhältnis.
Rn 4
Die Gesamtheit der rechtlichen Beziehungen zwischen den Verfahrensbeteiligten (Prozessparteien und Gericht) bilden das sog Prozessrechtsverhältnis. Es wird heute iA als ein Dreieck zwischen Kl, Beklagtem und Gericht verstanden (St/J/Brehm vor § 1 Rz 204). Das Prozessrechtsverhältnis ist weder abhängig von der Frage eines materiell-rechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien noch setzt es das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen voraus. Ein Prozessrechtsverhältnis und darauf aufbauend ein Urt ergeht auch, wenn eine unzulässige Klage vorliegt. Heute wird dem Prozessrechtsverhältnis iA nicht mehr die große Bedeutung zuerkannt, die ihm bei Schaffung der ZPO zugemessen worden war.
B. Historische Entwicklung, Ausstrahlung und Fortentwicklung.
Rn 5
Der deutsche Zivilprozess hat seine Wurzeln va im römisch-kanonischen und im germanischen Recht. Später hat sich etwa im langobardischen Reich auch ein germanisch-romanischer Mischprozess entwickelt. Besonders bedeutsam war die Weiterentwicklung des kanonischen Prozesses, wobei die kirchliche Gerichtsbarkeit mehr und mehr auch auf weltliche Angelegenheiten ausgedehnt wurde. So entstand in Italien ein italienisch-kanonischer Prozess, der durch die Rezeption im 14. und 15. Jh nach Deutschland gebracht wurde. Hier entwickelte sich insb seit der Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495 der sog gemeine Prozess, der bis in das 19. Jh hinein Anwendung fand. Geprägt war dieser gemeine Prozess durch Schriftlichkeit, Nichtöffentlichkeit und die Bindung der richterlichen Beweiswürdigung an feste Beweisregeln. Die Reformversuche der 2. Hälfte des 18. Jh und im 19. Jh lösten sich dann Schritt für Schri...