Rn 1

Das Wesen des Wiederaufnahmeverfahrens besteht in der Beseitigung der Sperrwirkung der Rechtskraft. Ein unanfechtbar gewordenes Urt wird wieder anfechtbar, und das rechtskräftig geschlossene Verfahren wird neu verhandelt (Gaul ZZP 74, 49, 76–79; teils abw MüKoZPO/Braun/Heiß vor § 578 Rz 8, 9 mwN). Veranlasst ist die Wiederaufnahme, wenn das geschlossene Verfahren schwerste prozessuale Mängel aufweist (Nichtigkeitsklage, § 579), oder wenn dem Urt im geschlossenen Verfahren eine der Grundlagen, auf denen es beruht, entzogen wird (Restitutionsklage, § 580). Damit stellt das Wiederaufnahmerecht einen Ausgleich zwischen zwei Grundprinzipien des Prozessrechts dar: Demjenigen der Rechtskraft, die im Interesse von Ordnung und Rechtssicherheit auch ein unrichtiges Urt verbindlich werden lässt, und demjenigen der vorrangigen Orientierung des Prozesszwecks am materiellen Recht und den subjektiven Rechten der Parteien; dieser Prozesszweck soll trotz Rechtskraft durch die Wiederaufnahme, aber auch nur innerhalb ihrer Grenzen, weiterverfolgt werden (Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe, [56], S 66). Daraus, dass das Wertungsverhältnis dieser beiden Grundprinzipien gesetzlich durch die enumerativ geregelten Wiederaufnahmegründe ausgestaltet wurde, folgt die nur auf rechtsähnliche Ausnahmefälle beschränkte Analogiefähigkeit im Wiederaufnahmerecht (s Erläuterungen zu den einzelnen Wiederaufnahmegründen).

 

Rn 2

Da mit dem Wiederaufnahmeverfahren eine rechtskräftige Entscheidung angegriffen und das Verfahren in dem Entwicklungsstadium wieder aufgenommen wird, in welchem es sich zur Zeit des Rechtskrafteintritts befand, hat das Wiederaufnahmeverfahren weder Devolutiv- noch Suspensiveffekt. Es handelt sich nicht um ein Rechtsmittel, wenngleich Parallelen zum Rechtsmittelrecht bestehen (BGHZ 84, 24, 27; BGH NJW 14, 937; BAG NZA 12, 1319; MüKoZPO/Braun/Heiß vor § 578 Rz 5 mwN; vgl ThoPu/Reichold vor §§ 578 ff Rz 1). Das Wiederaufnahmeverfahren ist vielmehr ein außerordentlicher Rechtsbehelf in Form einer prozessualen Gestaltungsklage, die ein selbstständiges Verfahren einleitet. Da die Wiederaufnahmeklage den Eintritt der Rechtskraft nicht hemmt, kann sie auch nicht zur Verlängerung von an diesen Zeitpunkt anknüpfenden Fristen führen (für § 198 V GVG s BSG v 18.5.17 – B 10 ÜG 3/17 BH).

 

Rn 3

Das Wiederaufnahmeverfahren gliedert sich in drei Abschnitte (grdl RGZ 75, 53, 56f). Zunächst muss die Wiederaufnahmeklage zulässig sein. Bei Unzulässigkeit wird die Wiederaufnahmeklage durch Urt verworfen, § 589 I 2. Es kann aber erneut Wiederaufnahmeklage erhoben werden, wenn eine fehlende Zulässigkeitsvoraussetzung nachgeholt wird. Ist die Zulässigkeit zu bejahen, folgt eine Begründetheitsprüfung zum behaupteten Wiederaufnahmegrund. Fehlt es an diesem, ist ein als unbegründet abweisendes Urt im Wiederaufnahmeverfahren kein Hinderungsgrund für die Geltendmachung eines anderen Wiederaufnahmegrundes. Liegt der behauptete Wiederaufnahmegrund vor, wird die angefochtene Entscheidung aufgehoben (iudicium rescindens) und im dritten Abschnitt das frühere Verfahren von Neuem verhandelt und entschieden (iudicium rescissorium), wobei der Streitgegenstand des früheren Verfahrens wieder rechtshängig wird und die allgemeinen Verfahrensvorschriften gelten. Die Wiederaufnahme kann dabei zu einem inhaltlich abgeänderten, aber auch zu einem inhaltsgleichen Urt führen, das den allgemeinen Regeln etwa hinsichtlich Bindungskraft, Rechtsmitteln und Rechtskraft unterfällt. Bei erfolgloser Wiederaufnahmeklage bleibt es bei dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens (BSG NJW 14, 253).

 

Rn 4

Nach § 48 II FamFG finden die §§ 578 ff auch auf Beschlüsse im FamFG-Verfahren Anwendung (für Ehesachen und Familienstreitsachen s § 118 FamFG). Daneben ist ein Sonderfall der Wiederaufnahme in Form des Restitutionsantrags in § 185 FamFG geregelt. Hier stellt die Vorlage eines neuen Vaterschaftsgutachtens, das eine andere Entscheidung über die Vaterschaft herbeigeführt haben würde, einen Restitutionsgrund dar. Dieser Antrag ist im Gegensatz zur allgemeinen Regelung des § 586 an keine Frist gebunden und setzt zudem keine Beschwer voraus. Nach § 439 IV 2 FamFG findet das Wiederaufnahmeverfahren auch im Aufgebotsverfahren mit allerdings auf 10 Jahre verlängerter Ausschlussfrist Anwendung. Parallelen zur Wiederaufnahme idS, dass die Entscheidung in einem unanfechtbar geschlossenen Verfahren aufgehoben wird, finden sich beim Aufhebungsantrag nach § 1059 II im schiedsrichterlichen Verfahren. Das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes kann schließlich Grund für die Rückgängigmachung einer markenrechtlichen Eintragung sein (BGH v 5.6.68 – I ZB 5/67 – nv; BPatG v 13.4.10 – 27 W [pat] 13/10 – nv). Über § 153 VwGO, § 179 SGG, § 134 FGO bzw § 79 S 1 ArbGG finden die §§ 578 ff auch im verwaltungs-, sozial-, finanz- und arbeitsgerichtlichen Verfahren Anwendung. Analog anwendbar sind sie in Anwaltssachen (BGHZ 125, 288, zuletzt BGH v 11.6.12 – An...

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