Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 41 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft B. und dem Dyrektor Izby Skarbowej w W. (Direktor der Finanzkammer W., Polen) über die Festsetzung des Erstattungsbetrags der Mehrwertsteuerdifferenz für April 2012.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
. . .
b) der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt . . .;
. . .
. . .”
Rz. 4
Art. 20 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
"Als ‘innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen’ gilt die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird."
Rz. 5
Art. 40 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
"Als Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen gilt der Ort, an dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befinden."
Rz. 6
Art. 41 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Unbeschadet des Artikels 40 gilt der Ort eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i als im Gebiet des Mitgliedstaats gelegen, der dem Erwerber die von ihm für diesen Erwerb verwendete Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erteilt hat, sofern der Erwerber nicht nachweist, dass dieser Erwerb im Einklang mit Artikel 40 besteuert worden ist.
Wird der Erwerb gemäß Artikel 40 im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung der Gegenstände besteuert, nachdem er gemäß Absatz 1 besteuert wurde, wird die Steuerbemessungsgrundlage in dem Mitgliedstaat, der dem Erwerber die von ihm für diesen Erwerb verwendete Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erteilt hat, entsprechend gemindert.”
Polnisches Recht
Rz. 7
Art. 25 der Ustawa o podatku od towarów i usug (Gesetz über Steuern auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz.U.2004, Nr. 54, Position 535, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) lautet:
„(1) Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen gilt als in dem Mitgliedstaat bewirkt, in dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Versendung oder Beförderung befinden.
(2) Ohne die Anwendung des Absatzes 1 auszuschließen, gilt der innergemeinschaftliche Erwerb in dem Fall, dass der in Artikel 9 Absatz 2 genannte Erwerber beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen die Identifikationsnummer angegeben hat, die ihm für die Zwecke innergemeinschaftlicher Umsätze durch den betreffenden, von dem Mitgliedstaat, in dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Versendung oder Beförderung befinden, verschiedenen Mitgliedstaat erteilt worden ist, als auch in diesem Mitgliedstaat bewirkt, es sei denn, dass der Erwerber nachweist, dass der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen
- in dem Mitgliedstaat besteuert wurde, in dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Versendung oder Beförderung befinden, oder
- aufgrund der Anwendung des in Abschnitt XII genannten vereinfachten Verfahrens bei einem innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäft als in dem Mitgliedstaat besteuert gilt, in dem sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Versendung oder Beförderung befinden.”
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 8
B. ist eine Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden, deren Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat der Mehrwertsteuer unterliegen. Im April 2012, dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraum, war sie auch in Polen mehrwertsteuerrechtlich registriert.
Rz. 9
In diesem Zeitraum nahm B. an Kettenumsätzen teil, die dieselben Gegenstände betrafen und an denen mindestens drei Wirtschaftsteilnehmer mitwirkten. Die Beförderung der Gegenstände erfolgte unmittelbar von dem in einem Mitgliedstaat ansässigen ersten Lieferer der Kette an den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen letzten Wirtschaftsteilnehmer in der Lieferkette. B. fungierte als Vermittlerin zwischen dem Lieferer und dem Empfänger.
Rz. 10
Genauer gesagt erwarb B. Gegenstände von der Gesellschaft BOP mit Sitz in Polen unter Angabe ihrer polnischen Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer. Die Lieferungen von BOP an B. wurden als inländische Lieferungen eingestuft, und auf sie wurde der dafür geltende Mehrwertsteuersatz von 23 % angewandt. Ihre eigenen Lieferungen an ihre Abnehmer in anderen Mitgliedstaaten behande...