Einführung
BFH, Urteil vom 13.12.2016, X R 4/15
ECLI:DE:BFH:2016:U.131216.XR4.15.0
Volltext des Urteils: BBL2017-1301-3 unter www.betriebs-berater.de
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 174 Abs. 4, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG § 16 Abs. 2 S. 2, Abs. 3; InsO § 94, § 201 Abs. 1, Abs. 3, § 300 Abs. 1 S. 1, § 301 Abs. 1 S. 1, S. 2
1 Amtliche Leitsätze
1. Ein Buchgewinn, der aufgrund der Erteilung einer Restschuldbefreiung entsteht, ist grundsätzlich im Jahr der Rechtskraft des gerichtlichen Beschlusses zu erfassen (Bestätigung des Senatsurteils vom 3. Februar 2016 X R 25/12, BFHE 252, 486, BStBl II 2016, 391 [BB 2016, 802]).
2. Wurde der Betrieb vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben, liegt allerdings ein in das Jahr der Aufstellung der Aufgabebilanz zurückwirkendes Ereignis vor.
2 Sachverhalt
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist als Handelsvertreter tätig und betrieb in den Jahren 1994 und 1995 daneben ein Einzelhandelsgeschäft für Kinderausstattung. Dieses gab er am 31. Oktober 1995 auf. Ein Konkursverfahren wurde nicht eingeleitet.
Weil der Kläger zunächst Steuererklärungen für diese Jahre nicht abgegeben hatte, schätzte das Betriebsstättenfinanzamt (Betriebs-FA) seine gewerblichen Einkünfte. Die Gewinnfeststellungsbescheide ergingen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN). Nachdem der Kläger seine Bilanzen für diese Jahre nebst Gewinnfeststellungserklärungen beim Betriebs-FA eingereicht hatte, erließ dieses geänderte Gewinnfeststellungsbescheide, in denen jeweils Verluste aus der gewerblichen Tätigkeit des Klägers festgestellt wurden.
Im Jahr 1999 beantragte der Kläger die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens über sein Vermögen. Am 20. Dezember 2006 erteilte das Amtsgericht B durch Beschluss die Restschuldbefreiung. Eine Ausfertigung dieses Beschlusses ging dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt – FA –) am 28. Juli 2007 zu.
Der Kläger reichte im Jahr 2008 seine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2006 ein. Er machte bei seinen gewerblichen Einkünften (nur) Angaben zur Handelsvertretertätigkeit. Das FA setzte am 7. Mai 2008 die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 0 EUR fest und stellte mit Bescheid vom gleichen Tag den verbleibenden Verlust zum 31. Dezember 2006 fest. Beide Bescheide enthielten einen Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der gewerblichen Einkünfte des Klägers gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO).
Ausweislich des dem FA am 25. Juli 2008 übergebenen Vermerks ging das Staatliche Rechnungsprüfungsamt (StRPA) davon aus, dass der Kläger seinen Gewerbebetrieb noch bis in den Januar 1996 ausgeübt habe und ihm aufgrund der Restschuldbefreiung betriebliche Schulden erlassen worden seien, deren Höhe jedoch unbekannt sei. Daraufhin forderte das FA den Kläger auf, Angaben über die Art und Höhe der von der Restschuldbefreiung betroffenen Verbindlichkeiten zu machen.
Da der Kläger dem nicht nachkam, erließ das Betriebs-FA auf Veranlassung des FA am 5. November 2008 einen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gestützten geänderten Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1995. Dieser erging unter VdN und berücksichtigte im Schätzungswege einen sog. Befreiungsgewinn aufgrund der Restschuldbefreiung in Höhe von 413.949, 64 DM.
Der Kläger legte gegen den geänderten Gewinnfeststellungsbescheid Einspruch ein. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens einigten sich die Beteiligten auf die Höhe des ggf. anzusetzenden Befreiungsgewinns von 168.339, 06 DM.
Während dieses Einspruchsverfahrens änderte das Bundesministerium der Finanzen (BMF) in seinem Schreiben vom 22. Dezember 2009 IV C 6-S 2140/07/10001-01 (BStBl I 2010, 18) seine Rechtsauffassung zur zeitlichen Erfassung des Befreiungsgewinns. Das BMF vertrat nunmehr die Auffassung, im Fall einer Restschuldbefreiung sei von der Realisierung eines Befreiungsgewinns erst im Zeitpunkt der Erteilung der Restschuldbefreiung auszugehen. Es handele sich nicht um ein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
Das Betriebs-FA erklärte am 19. April 2010 auf Nachfrage des FA, dass der Gewinnfeststellungsbescheid 1995 zur Berücksichtigung der neuen Rechtsansicht des BMF nicht geändert werden könne, da nach der Betriebsaufgabe die Anknüpfungsmerkmale aus § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V. m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AO nicht erfüllt seien. Mit Bescheid vom 6. Mai 2010 änderte es (dennoch) den Gewinnfeststellungsbescheid 1995 erneut und stellte den Verlust in Höhe von 188.999 DM (wieder) fest.
Daraufhin erließ das FA am 25. August 2010 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr sowie einen geänderten Verlustfeststellungsbescheid zum 31. Dezember 2006. Im Einkommensteueränderungsbescheid setzte das FA die Einkommensteuer (erneut) auf 0 EUR fest. Den festgestellten verbleibenden Verlust auf den 31. Dezember 2006 minderte es um den Befreiungsgewinn. Als Korrekturvorschrift verwies das FA auf § 174 Abs. 4 AO.
Der Kläger legte u. a. gegen den geänderten Verlustfeststellungsbescheid Einspruch ein. Diesen wies das FA als unbegründet zurück. Eine Änderungsbefugnis ergebe sich aus § 173 A...