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BSG Urteil vom 30.01.1970 - 2 RU 197/67

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Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz eines Unternehmers bei der Teilnahme an einer Versammlung seiner Berufsorganisation unter Berücksichtigung seiner subjektiven Vorstellungen über betriebsfördernde Ergebnisse dieser Veranstaltung (vergleiche BSG 1964-02-28 2 RU 30/61 = BSGE 20, 215, 218).

 

Normenkette

RVO § 537 Nr. 2 Fassung: 1942-03-09, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. März 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des Masseurs und Heilgymnasten A K (K.), der eine eigene Praxis in F betrieb und damit nach § 537 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (in der vor dem 1. Juli 1963 geltenden Fassung - RVO aF) bei der Beklagten gegen Arbeitsunfall versichert war. K., der in seiner Praxis auch Bindegewebsmassagen ausführte, war Mitglied des E Bundes für Bindegewebsmassage e.V. (EDB), Ü/B; dieser Verein bezweckt nach seiner Satzung die Weiterverbreitung und wissenschaftliche Erforschung der von der Krankengymnastin E entwickelten Massagemethode und veranstaltet jährlich eine Mitgliederversammlung in Überlingen. Zu der am Samstag, dem 6. April 1963, von 15.00 bis 18.00 Uhr stattfindenden Mitgliederversammlung war K. schriftlich eingeladen worden; die Tagesordnung umfaßte die Punkte: 1. Bericht des Vorsitzenden, 2. Kassenbericht, 3. Verschiedenes. Zur Heimfahrt mit seinem Pkw benutzte K. nicht die kürzere Straßenverbindung (138 km) über D, sondern die Strecke über S/B, von wo aus die Autobahn nach F führt (216 km); auf dieser Strecke war er auch schon von F nach Ü gefahren. Nach einem kurzen Besuch bei seiner Schwester in S gelangte K. bis kurz vor R und erlitt gegen 19.10 Uhr beim Zusammenstoß mit einem Pkw schwere Verletzungen, denen er am 7. April 1963 erlag.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 20. Juni 1963 die Entschädigungsansprüche der Klägerinnen mit der Begründung ab, der von K. eingeschlagene erhebliche Umweg habe eine Lösung des Zusammenhangs mit der unter Unfallversicherungs-(UV)Schutz stehenden Teilnahme an der Tagung bewirkt.

Das Sozialgericht Freiburg (SG) hat am 7. Juli 1964 die Beklagte verurteilt, den Unfall K.s als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall anzuerkennen und den Klägerinnen deshalb die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat mit Urteil vom 15. März 1967 die Berufung der Beklagten, soweit sie das Sterbegeld betrifft, als unzulässig verworfen, im übrigen zurückgewiesen:

Entgegen der - erstmals im Klageverfahren vorgetragenen - Auffassung der Beklagten habe K. bei seiner Teilnahme an der Mitgliederversammlung des EDB und auf dem anschließend zurückgelegten Heimweg unter UV-Schutz gestanden. Die Teilnahme an der Mitgliederversammlung habe mit der versicherten Tätigkeit als selbständiger Masseur zusammengehangen. Aus dem Tagungsbericht des EDB vom 17. April 1963 ergebe sich zwar nicht, daß unter Punkt 3 der Tagungsordnung Referate mit Aussprachen über Fälle aus der Massagepraxis gehalten oder sonst fachliche Fragen berührt wurden, die für das versicherte Unternehmen von unmittelbarer Bedeutung waren. Die Betriebsbezogenheit sei jedoch schon dann zu bejahen, wenn der Versammlungsteilnehmer die begründete Erwartung haben durfte, daß auch Angelegenheiten erörtert würden, die seiner Berufsausübung dienlich seien. Dies habe K. am 6. April 1963 berechtigterweise erwarten dürfen, denn frühere Mitgliederversammlungen hätten immer Gelegenheit geboten, an einem Gedanken- und Erfahrungsaustausch über berufliche Fragen unter Kollegen teilzunehmen -. Der UV-Schutz sei in Anbetracht der Straßenverhältnisse auch nicht durch die Benutzung des Umwegs beeinträchtigt worden. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 22. Juni 1967 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20. Juli 1967 Revision eingelegt und sie am 9. August 1967 folgendermaßen begründet:

Das LSG habe zu Unrecht und auch im Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung den UV-Schutz für die Teilnahme an der Mitgliederversammlung bejaht. Die Teilnahme des K. habe nicht mit der Ausübung seiner Masseurtätigkeit zusammengehangen, sondern sei als Ausdruck einer Art von Standesgesinnung aufzufassen. Unbedingt abzulehnen sei die vom LSG praktizierte Berücksichtigung der subjektiven Vorstellungen des K. Subjektive Absichten und Vorstellungen könnten in der Regel nie nachgeprüft werden. Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung der vorinstanzlichen Urteile die Klage insoweit abzuweisen, als sie nicht das der Beklagten auferlegte Sterbegeld betrifft,

hilfsweise,

die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerinnen beantragen Zurückweisung der Revision, hilfsweise Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend und nehmen Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), insbesondere das Urteil vom 28. Oktober 1966 (2 RU 21/66).

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht entschieden, daß K. bei seiner Teilnahme an der Mitgliederversammlung des EDB am 6. April 1963 und auf der anschließenden Heimfahrt dem UV-Schutz nach §§ 537 Nr. 2, 542 RVO aF unterstand. Den inneren ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Unternehmertätigkeit und der Teilnahme an Veranstaltungen beruflicher Fachorganisationen hat das LSG davon abhängig gesehen, daß auf solchen Veranstaltungen fachliche Fragen behandelt oder diskutiert werden, deren Erörterung sich auf die Interessen des Betriebes auswirkt; dabei sei eine aktive Mitwirkung des einzelnen Teilnehmers an der Gestaltung des Versammlungsprogramms nicht erforderlich; vielmehr genüge die bloße Anwesenheit, wenn mit ihr - insbesondere durch den Erwerb beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen - der eigenen Betriebsarbeit in rechtlich wesentlichem Maße gedient werde.

Dies entspricht im wesentlichen dem heutigen Stand der Rechtsprechung, die sich von der früheren einengenden Betrachtungsweise zu einer die gesteigerten Informationsbelange des modernen Wirtschaftslebens stärker berücksichtigenden Rechtsanwendung entwickelt hat (vgl. zur Entwicklung ua BSG 8, 170, 174; BSG Urteil vom 28. Oktober 1966 - 2 RU 21/66; insbesondere das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 30. Januar 1970 - 2 RU 228/67 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Nach der jetzt maßgebenden Anschauung besteht UV-Schutz für die Teilnahme an Veranstaltungen einer Berufsorganisation, wenn den Teilnehmern dabei Kenntnisse vermittelt werden, welche sie später - wenn auch nicht sogleich - für ihre betrieblichen Tätigkeiten nutzen sollen und können.

Bei der EDB-Versammlung am 6. April 1963 war dieses Merkmal allerdings nicht gegeben, soweit es sich um die Programmpunkte "Bericht des Vorstandes" und "Kassenbericht" handelte. Dies hat das LSG nicht verkannt; es hat auch zutreffend angenommen, daß die im Tagungsbericht zu Punkt 3 "Verschiedenes" angeführten Themen (Bereitstellung eines Lehrfilms, Herausgabe eines Leitfadens) von zu allgemeiner Natur waren, um den Versammlungsbesuch für K. als betriebsbezogen zu kennzeichnen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 29. März 1963, SozEntsch. 2. Folge. BSG IV Nr. 48 zu § 542 - a -). Daß K. am Unfalltag während der Abwicklung des Tagesordnungspunktes 3 einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit Kollegen über aktuelle Fragen der Massagetechnik und dergleichen gehabt habe, wodurch er Anregungen für seine eigene Praxis gewinnen konnte, nimmt das LSG an, ohne dies freilich mit konkreten Feststellungen aufgrund des Tagungsberichts oder sonstiger Unterlagen belegen zu können.

Solcher Untermauerung bedurfte es hier auch nicht, denn der betriebliche Zusammenhang kann im Einzelfall - unabhängig von tatsächlich erzielten Ergebnissen - schon aufgrund subjektiver Vorstellungen des Versammlungsbesuchers über betriebsfördernde Auswirkungen der Veranstaltung gegeben sein. Die hiergegen gerichteten Revisionsangriffe, mit denen die Beklagte geltend macht, subjektive Vorstellungen über Geschehensabläufe seien niemals nachprüfbar und deshalb als Beurteilungsgrundlage schlechthin ungeeignet, treffen nach Ansicht des Senats nicht zu. Sie widersprechen dem im BSG-Urteil vom 28. Februar 1964 (BSG 20, 215, 218) aufgestellten Grundsatz, daß der UV-Schutz nicht nur für einwandfrei verrichtete und dem Unternehmen Erfolge garantierende Tätigkeiten, sondern auch im Fall des Mißlingens besteht, so daß die subjektiven Vorstellungen und Erwartungen des Tätigwerdenden sehr wohl zu berücksichtigen sind, sofern sie nicht offensichtlich den Rahmen vernünftigen Verhaltens überschreiten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, hat das LSG mit Recht dem Umstand, daß über betriebsfördernde Diskussionen oder Aussprachen des K. auf der Mitgliederversammlung am 6. April 1963 genaue Einzelheiten nicht zu ermitteln waren, keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Denn es konnte den vorliegenden Beweisergebnissen - zumal den Bekundungen der Zeugin K - zweifelsfrei entnehmen, daß auf früheren EDB-Versammlungen den Teilnehmern immer Gelegenheit geboten war, Erfahrungsberichte über interessante Behandlungsfälle auszutauschen und dadurch die beruflichen Kenntnisse zu erweitern und daß auch K. sich häufig an diesem Erfahrungsaustausch aktiv beteiligt hatte. Hieraus hat das LSG mit Recht gefolgert, daß K. am Unfalltage begründetermaßen erwarten durfte, auch auf dieser Mitgliederversammlung aktuelle Berufsfragen erörtern und vertiefen und daraus erheblichen betrieblichen Nutzen ziehen zu können. Selbst wenn - entgegen den begründeten Erwartungen - am 6. April 1963 solche betriebsfördernden Diskussionen ausgeblieben sein sollten, würde das den UV-Schutz für die Heimfahrt des K. ebensowenig berühren, wie wenn eine betriebsbedingte und deshalb versicherte Veranstaltung, an der er teilzunehmen gedachte, aus unvorhersehbaren Gründen im letzten Augenblick abgesagt worden wäre, und er mit den anwesenden Teilnehmern unverrichteter Dinge hätte nach Hause fahren müssen.

Die Revision ist hiernach unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1670120

BSGE, 282

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