Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Diskriminierungsverbot. Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat einer Gesellschaft. Nationale Regelung, nach der allein die Arbeitnehmer der im Inland gelegenen Betriebe das aktive und passive Wahlrecht haben
Beteiligte
Tenor
Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht (Berlin, Deutschland) mit Entscheidung vom 16. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 3. November 2015, in dem Verfahren
Konrad Erzberger
gegen
TUI AG,
Beteiligte:
Vereinigung Cockpit e. V.,
Betriebsrat der TUI AG/TUI Group Services GmbH,
Frank Jakobi,
Andreas Barczewski,
Peter Bremme,
Dierk Hirschel,
Michael Pönipp,
Wilfried H. Rau,
Carola Schwirn,
Anette Stempel,
Ortwin Strubelt,
Marcell Witt,
Wolfgang Flintermann,
Stefan Weinhofer,
ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits (Berichterstatter), J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Erzberger, vertreten durch die Rechtsanwälte J. Brandhoff, C. Behme und S. Richter,
- der TUI AG, vertreten durch die Rechtsanwälte C. Arnold und M. Arnold,
- der Vereinigung Cockpit e. V., vertreten durch Rechtsanwältin M. Fischer,
- des Betriebsrats der TUI AG/TUI Group Services GmbH u. a., vertreten durch Rechtsanwältin M. Schmidt,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch R. Coesme als Bevollmächtigten,
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch P. Kinsch, avocat,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. Stergiou als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und D. Martin als Bevollmächtigte,
- der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch M. Moustakali und C. Zatschler als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 45 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Konrad Erzberger und der in Deutschland ansässigen TUI AG, deren Anteilseigner er ist, über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats dieser Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
§ 96 des Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (BGBl. 1965 I S. 1089) bestimmt:
„(1) Der Aufsichtsrat setzt sich zusammen
bei Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz gilt, aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer,
…
bei den übrigen Gesellschaften nur aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre.
…”
Rz. 4
Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Mai 1976 (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG, BGBl. 1976 I S. 1153) sieht in § 1 „Erfasste Unternehmen”) vor:
„(1) In Unternehmen, die
- in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Genossenschaft betrieben werden und
- in der Regel mehr als 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen,
haben die Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht nach Maßgabe dieses Gesetzes.
…”
Rz. 5
§ 3 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG sieht vor:
„Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind
1. … die in § 5 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes bezeichneten Personen …”
Rz. 6
In § 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG heißt es:
„Ist ein … Unternehmen herrschendes Unternehmen eines Konzerns …, so gelten für die Anwendung dieses Gesetzes auf das herrschende Unternehmen die Arbeitnehmer der Konzernunternehmen als Arbeitnehmer des herrschenden Unternehmens.”
Rz. 7
§ 7 MitbestG bestimmt:
„(1) Der Aufsichtsrat eines Unternehmens
…
3. … mit in der Rege...