Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebungsvertrag
Leitsatz (amtlich)
Ist der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert, sondern besteht lediglich ein gewisser Anfangsverdacht, der Arbeitnehmer könne eine Erkrankung vorgetäuscht haben, so ist der Arbeitgeber regelmäßig verpflichtet, die Verdachtsmomente (zB durch eine Befragung des Arbeitnehmers über die Art der Erkrankung) näher aufzuklären, ehe er mit einer fristlosen Kündigung droht und den Arbeitnehmer dadurch zum Abschluß eines Aufhebungsvertrags veranlaßt.
Normenkette
BGB §§ 123, 626; ZPO § 264
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 19.05.1995; Aktenzeichen 19 Sa 23/95) |
ArbG Mannheim (Entscheidung vom 05.10.1994; Aktenzeichen 8 Ca 273/94) |
Tatbestand
Die 1947 geborene Klägerin ist seit 1974 als Schwesternhelferin in der von der Beklagten in H betriebenen Thorax-Klinik beschäftigt. Sie verdiente zuletzt 3.500,00 DM monatlich. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Bezugnahme der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) Anwendung.
Von 1991 bis 1993 fehlte die Klägerin an insgesamt ca. 600 Tagen. Deshalb war für den 25. Februar 1994 ein Personalgespräch mit ihr anberaumt. Einen Tag vor diesem Gespräch erfuhr die Beklagte von anderen Mitarbeitern gerüchtweise, die Klägerin habe während einer längeren Arbeitsunfähigkeitsperiode im Jahre 1991 in ihrer tschechischen Heimat den Führerschein gemacht. Bei dem Personalgespräch wurde die Klägerin hierzu befragt und mit dem Vorwurf konfrontiert, auch die seit 1991 aufgetretenen übrigen Fehlzeiten seien nur vorgetäuscht gewesen. Die Klägerin wurde aufgefordert, ihren Führerschein vorzulegen, was sie schließlich auch tat. Der Führerschein trägt als Ausstellungsdatum den 24. Juni 1991; seine Gültigkeit ist auf den 20. Juni 1991 zurückdatiert.
Der Personalleiter der Beklagten teilte der Klägerin daraufhin mit, man beabsichtige, das Arbeitsverhältnis zu kündigen, vor allem weil die Klägerin während ihrer Krankheit in Urlaub gefahren sei und den Führerschein gemacht habe. Zugleich wurde der Klägerin der Abschluß eines Aufhebungsvertrages angeboten. Ihr wurde ein Schreiben vorgelegt, mit dem sie um die sofortige Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses bat. Dieses Schreiben wurde von der Klägerin und sodann mit dem handschriftlichen Vermerk „Zur Kenntnis genommen und einverstanden” auch von dem Personalleiter und der Pflegedienstleiterin der Beklagten unterzeichnet. Nachdem die Klägerin zunächst erfolglos über den Personalrat an die Beklagte herangetreten war mit dem Ziel, den Aufhebungsvertrag zu annullieren, focht sie ihn durch Schreiben ihrer jetzigen Prozeßbevollmächtigten vom 11. März 1994 gemäß § 123 BGB an.
Die Klägerin hat geltend gemacht, zum Abschluß des Aufhebungsvertrags sei sie durch widerrechtliche Drohung bewogen worden. Es treffe nicht zu, daß sie die Fahrprüfung am 20. Juni 1991 abgelegt habe. Die Fahrstunden habe sie vielmehr während ihres Urlaubs im März/April 1991 genommen und in dieser Zeit auch die Fahrprüfung bestanden. Während ihrer Arbeitsunfähigkeit sei sie nicht in ihrem Heimatland, sondern in H gewesen. Dies ergebe sich schon daraus, daß sie am 25. Juni 1991 ihre Ärztin in der Sprechstunde aufgesucht habe. Bei dem Gespräch sei ihr nicht nur völlig unberechtigterweise mit einer Kündigung gedroht worden. Man habe ihr auch erklärt, sie habe sich schadenersatzpflichtig gemacht und müsse die Vergütung für die vorgetäuschten Krankheitszeiten in Höhe von ca. 100.000,00 DM zurückzahlen.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, sie zu den bisherigen Bedingungen als Krankenschwesternhelferin weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat zur Stützung ihres Klageabweisungsantrags geltend gemacht, mit einer Schadenersatzforderung, erst recht in der genannten Höhe sei der Klägerin nicht gedroht worden. Die Klägerin habe bei dem Gespräch nach anfänglichem Leugnen zugegeben, ihren Führerschein wenige Tage vor dem 25. Juni 1991 gemacht zu haben. Wenn die Klägerin ins Ausland habe reisen und dort die Fahrprüfung ablegen können, so begründe dies zusammen mit dem anfänglichen Leugnen der Klägerin bei dem Personalgespräch den Verdacht, die Klägerin sei in der fraglichen Zeit nicht arbeitsunfähig krank gewesen. Jedenfalls habe die Klägerin gegen die ihr obliegende Pflicht verstoßen, sich gesundheitsfördernd zu verhalten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Gemäß dem in der Revisionsinstanz teilweise geänderten Klageantrag war festzustellen, daß die Beklagte vom 5. Oktober 1994 bis zum 20. März 1996 zur Weiterbeschäftigung der Klägerin verpflichtet gewesen ist. Für die Zeit ab 21. März 1996 sind die Entscheidungen der Vorinstanzen zu bestätigen, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, die Klägerin auch in Zukunft zu beschäftigen.
A.
Gegen den teilweisen Übergang von der Leistungsklage auf Weiterbeschäftigung zur Klage auf Feststellung, daß in der Vergangenheit eine Weiterbeschäftigungspflicht der Beklagten bestanden hat, bestehen keine Bedenken. Es handelt sich um eine noch in der Revisionsinstanz zulässige Klageeinschränkung i.S. des § 264 Nr. 2 ZPO (vgl. BAGE 17, 331, 334 = AP Nr. 104 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu I der Gründe; Senatsurteil vom 16. Januar 1992 - 2 AZR 412/91 - EzA § 123 BGB Nr. 36 = RzK I 9 i Nr. 23).
Der Feststellungsantrag ist auch zulässig. Für die Vergangenheit hat sich der Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin in der Hauptsache erledigt, es besteht aber schon im Hinblick auf die persönlichkeitsrechtliche Natur des Beschäftigungsanspruchs gemäß § 256 Abs. 1 ZPO nach wie vor ein rechtliches Interesse der Klägerin an der Feststellung, daß bis zur Entscheidung über die Revision eine Beschäftigungspflicht der Beklagten bestanden hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 1985 - 2 AZR 410/84 - AP Nr. 19 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht, zu A der Gründe).
B.
Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Die Beklagte war verpflichtet, die Klägerin jedenfalls seit dem Erlaß des arbeitsgerichtlichen Urteils während der Dauer des vorliegenden Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen weiterzubeschäftigen.
I.
Die Vorinstanzen haben jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, daß das Arbeitsverhältnis der Klägerin fortbesteht.
1. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Aufhebungsvereinbarung vom 25. Februar 1994 sei durch die Anfechtungserklärung der Klägerin rückwirkend beseitigt worden. Die Drohung mit der angesichts der Beschäftigungszeit der Klägerin allein noch zulässigen außerordentlichen Kündigung sei nach den Gesamtumständen als widerrechtlich anzusehen. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten unterstelle, die Klägerin habe sich in dem fraglichen Zeitraum in Tschechien aufgehalten und dort die Führerscheinprüfung abgelegt, so könne daraus noch nicht geschlossen werden, daß sie nicht arbeitsunfähig krank gewesen sei. Der Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei durch das Verhalten der Klägerin nicht erschüttert gewesen, auch wenn man das anfängliche Leugnen der Klägerin mitberücksichtige. Zahlreiche Krankheiten würden zwar die Vollzeittätigkeit als Schwesternhelferin, nicht aber eine Auslandsreise und das Ablegen einer Fahrprüfung ausschließen. Unter diesen Umständen habe die Beklagte jedenfalls nicht ohne weitere Aufklärung davon ausgehen dürfen, die Klägerin habe ihre Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht bzw. durch ihr Verhalten den Genesungsprozeß verzögert. Eine außerordentliche Kündigung habe die Beklagte unter diesen Umständen, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Lebensalters der Klägerin und der fast 20jährigen Betriebszugehörigkeit, nicht ernsthaft in Erwägung ziehen dürfen. Die Anfechtung des Aufhebungsvertrages wegen widerrechtlicher Drohung greife deshalb durch und die Beklagte sei zur Weiterbeschäftigung der Klägerin verpflichtet.
2. Dem folgt der Senat.
Gemäß § 123 Abs. 1 BGB kann derjenige, der widerrechtlich durch Drohung zur Abgabe einer Willenserklärung bestimmt worden ist, die Erklärung mit der Nichtigkeitsfolge des § 142 Abs. 1 BGB anfechten.
a) Eine Drohung i.S. des § 123 Abs. 1 BGB setzt objektiv die Ankündigung eines zukünftigen Übels voraus, dessen Zufügung in irgendeiner Weise als von der Macht des Ankündigenden abhängig hingestellt wird. Darunter fällt auch die Androhung einer außerordentlichen Kündigung (vgl. BAGE 32, 194 = AP Nr. 21 zu § 123 BGB, m.w.N.). Die Drohung muß nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, sie kann vielmehr auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen (BAG Urteil vom 30. September 1993 - 2 AZR 268/93 - BAGE 74, 281 = AP Nr. 37 zu § 123 BGB).
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Personalleiter der Beklagten der Klägerin erklärt, es sei eine Kündigung beabsichtigt, was die Klägerin angesichts ihrer tariflichen Unkündbarkeit als Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung verstehen mußte.
b) Die Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung ist widerrechtlich, wenn ein verständiger Arbeitgeber eine solche Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Es ist nicht erforderlich, daß die angekündigte Kündigung, wenn sie ausgesprochen worden wäre, sich in einem Kündigungsschutzprozeß als rechtsbeständig erwiesen hätte (vgl. die Senatsurteile vom 30. September 1993, aaO; vom 16. Januar 1992 - 2 AZR 412/91 - EzA § 123 BGB Nr. 36 = RzK I 9 i Nr. 23; vom 9. März 1995 - 2 AZR 644/94 - BB 1996, 434). Die Widerrechtlichkeit der Kündigungsdrohung kann sich regelmäßig nur aus der Inadäquanz von Mittel und Zweck ergeben. Hat der Drohende an der Erreichung des verfolgten Zwecks (Eigenkündigung bzw. einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses) kein berechtigtes Interesse oder ist die Drohung (mit einer Kündigung) nach Treu und Glauben nicht mehr als angemessenes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks anzusehen, so ist die Drohung widerrechtlich; dies ist dann der Fall, wenn ein verständiger Arbeitgeber die Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hätte.
c) Ebenso wie bei der Anwendung der Rechtsbegriffe des wichtigen Grundes nach § 626 Abs. 1 BGB und der Sozialwidrigkeit einer Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist dem Tatsachengericht auch für die Würdigung des festgestellten Sachverhalts unter dem Gesichtspunkt der von einem verständigen Arbeitgeber anzustellenden Erwägungen ein Beurteilungsspielraum einzuräumen; das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht ohne Verstoß gegen Denk- oder Erfahrungssätze alle wesentlichen Umstände des Falles berücksichtigt hat (vgl. Senatsurteil vom 16. November 1979 - 2 AZR 1041/77 - BAGE 32, 194 = AP Nr. 21 zu § 123 BGB; Senatsurteil vom 9. März 1995, aaO). Der Beurteilungsspielraum der Tatsachengerichte umfaßt dabei auch die Frage, ob eine Kündigung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls die mildeste angemessene Reaktion auf ein pflichtwidriges Verhalten des Arbeitnehmers darstellt oder ob z.B. unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auch eine Abmahnung noch ausreichend wäre. Dabei kann von einem verständigen Arbeitgeber zwar nicht generell verlangt werden, daß er bei seiner Abwägung die Beurteilung des Tatsachengerichts „trifft”. Nur wenn unter verständiger Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der Arbeitgeber davon ausgehen muß, die angedrohte Kündigung werde im Falle ihres Ausspruchs einer arbeitsgerichtlichen Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht standhalten, darf er die Kündigungserklärung nicht in Aussicht stellen, um damit den Arbeitnehmer zu einer Eigenkündigung oder zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages zu veranlassen (Senatsurteil vom 9. März 1995, aaO).
Unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsspielraums ist das angefochtene Urteil revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
d) Zu Unrecht rügt die Revision, das Landesarbeitsgericht habe den von ihm festgestellten Sachverhalt nicht unter dem Gesichtspunkt der von einem verständigen Arbeitgeber anzustellenden Erwägungen geprüft, sondern einen schärferen Maßstab angelegt. Einzuräumen ist der Revision insoweit, daß der vom Landesarbeitsgericht in diesem Zusammenhang im Anschluß an Falk (Aufhebungsverträge zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen, S. 235) verwandte Begriff des „Idealarbeitgebers” mißverständlich ist und deshalb vermieden werden sollte. Wäre damit gemeint, es müsse nicht nur auf die Erwägungen abgestellt werden, die ein „verständiger Arbeitgeber” im Sinne der Senatsrechtsprechung angestellt hätte, sondern es sei auf einen „idealen Arbeitgeber” mit ganz hervorragenden Arbeitsrechtskenntnissen und einem außergewöhnlichen sozialen Engagement abzustellen, so würde dies in der Tat bei der Prüfung der Widerrechtlichkeit der Drohung die Anforderungen in unzulässiger Weise verschärfen. Der Zusammenhang der Passage des Berufungsurteils, in dem der Begriff des „Idealarbeitgebers” verwandt wird, zeigt jedoch, daß das Landesarbeitsgericht damit ebenso wie Falk in seiner Monographie exakt den „verständigen Arbeitgeber” der Senatsrechtsprechung meint. Der mißverständliche Begriff des „Idealarbeitgebers” wird nur verwandt, um damit den „verständigen Arbeitgeber” von dem konkreten Arbeitgeber abzugrenzen und im Sinne der Senatsrechtsprechung klarzustellen, daß es nicht auf die Erwägungen ankommt, die der konkrete Arbeitgeber angestellt hat, sondern auf die, die ein verständiger Arbeitgeber angestellt hätte.
e) Unterstellt man zugunsten der Beklagten, die Klägerin sei während ihrer Krankheit in ihr Heimatland gefahren und habe dort die Führerscheinprüfung abgelegt, wobei die Ableistung der erforderlichen Fahrstunden von der Beklagten nicht hinreichend substantiiert dargelegt ist, so ist dem Landesarbeitsgericht entgegen der Ansicht der Revision auch darin zu folgen, daß ein verständiger Arbeitgeber bei dem hier zugrundeliegenden Sachverhalt zumindest im Rahmen einer Interessenabwägung nach den Gesamtumständen eine außerordentliche Kündigung nicht ernsthaft in Betracht gezogen hätte.
Kündigungsgrund für die angedrohte außerordentliche Kündigung sollte sein, daß bei der Beklagten zumindest der Verdacht bestand, die Klägerin habe ihre Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1991 nur vorgetäuscht oder sich durch die Auslandsreise und die Ablegung der Fahrprüfung jedenfalls nicht gesundheitsförderlich verhalten. Täuscht ein Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit nur vor, so begeht er dadurch eine schwere Vertragsverletzung, die je nach den Umständen des Einzelfalls eine fristlose Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen kann (Senatsurteil vom 26. August 1993 - 2 AZR 154/93 - BAGE 74, 127 = AP Nr. 112 zu § 626 BGB). Auch der dringende Verdacht, die Klägerin habe sich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit unlauteren Mitteln erschlichen, kann einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung darstellen (KR-Hillebrecht, 4. Aufl., § 626 BGB Rz 320; Senatsurteil vom 26. August 1993, aaO). Unstreitig hat die Klägerin der Beklagten ein ärztliches Attest vorgelegt, nach dem sie in der Zeit, in der sie nach der Behauptung der Beklagten in ihr Heimatland gefahren ist und dort die Führerscheinprüfung abgelegt hat, arbeitsunfähig krank war. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu (BAG Urteil vom 11. August 1976 - 5 AZR 422/75 - BAGE 28, 144, 146 = AP Nr. 2 zu § 3 LohnFG). Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat zunächst die Vermutung der Richtigkeit für sich (BAG Urteil vom 15. Juli 1992 - 5 AZR 312/91 - AP Nr. 98 zu § 1 LohnFG). Der Arbeitgeber, der das Vorliegen einer durch ärztliche Bescheinigung belegten Arbeitsunfähigkeit bestreiten will, muß Umstände darlegen und ggf. beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben. Der Senat hat den Beweiswert des ärztlichen Attestes z.B. als erschüttert angesehen, wenn der Arbeitnehmer während seiner Arbeitsunfähigkeit vollschichtig einer gleichschweren Arbeit nachgegangen ist, wie er sie bei seinem Arbeitgeber zu verrichten hatte (Senatsurteil vom 26. August 1993, aaO).
Es ist aber nach den Gesamtumständen revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgericht im konkreten Fall den Beweiswert des ärztlichen Attestes allein durch die Tatsache, daß die Klägerin ins Ausland gereist ist und dort die Führerscheinprüfung abgelegt hat, noch nicht als erschüttert angesehen hat. Mit der Auslandsreise und der Führerscheinprüfung lagen zwar Umstände vor, die bei der Beklagten Bedenken aufkommen lassen konnten, ob die Klägerin wirklich in dem fraglichen Zeitraum krank war. Ohne weitere Sachverhaltsaufklärung waren diese Bedenken jedoch nicht geeignet, den Beweiswert des ärztlichen Attestes zu erschüttern: Eine Auslandsreise konnte bequem nachts mit dem Zug erfolgt sein. Eine Führerscheinprüfung war mit einem geringen Zeitaufwand zu absolvieren, wobei nicht einmal klar war, ob die Klägerin nicht ohnehin berechtigt war, sich zum Auskurieren ihrer Krankheit an ihrem Heimatort aufzuhalten. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht darauf abgestellt, daß zahlreiche Krankheiten denkbar sind, die zwar eine vollschichtige Arbeit der Klägerin als Krankenschwesternhelferin ausgeschlossen, eine Auslandsreise und das Ablegen einer Fahrprüfung aber ohne weiteres zugelassen hätten.
Ist der Beweiswert eines ärztlichen Attestes nicht erschüttert, sondern bestehen nur gewisse Verdachtsmomente, der Arbeitnehmer könne eine Erkrankung vorgetäuscht haben, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Verdachtsmomente näher aufzuklären. Gründet sich der Verdacht des Arbeitgebers darauf, daß der Arbeitnehmer andere Tätigkeiten verrichtet hat, die der Arbeitgeber mit der Erkrankung nicht für vereinbar hält, so muß er den Arbeitnehmer konkreter zu der Art seiner Erkrankung befragen und ihm Gelegenheit zu der Erklärung geben, weshalb die Krankheit diese anderen Tätigkeiten zuließ, aber der vertragsgemäßen Arbeit im Betrieb entgegenstand. Eine solche Aufklärungspflicht traf die Beklagte hier in besonderem Maße, denn das ärztliche Attest bezog sich nicht auf eine kürzere Erkrankung, die einem Arzt erfahrungsgemäß leichter vorzuspiegeln ist, die Klägerin war vielmehr nach den vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bereits seit mehreren Monaten erkrankt, als sie ihre Führerscheinprüfung ablegte. Im Kündigungszeitpunkt wußte die Beklagte zudem, daß der Klägerin auch nach der angeblichen Ablegung der Führerscheinprüfung während der letzten drei Jahre ganz erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten attestiert worden waren, bei denen mangels Kenntnis der näheren Umstände kaum davon ausgegangen werden kann, sie beruhten lediglich auf vorgetäuschten Krankheiten. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß zahlreiche Krankheiten denkbar sind, bei denen durch eine weitere Sachaufklärung der bei der Beklagten bestehende Anfangsverdacht ohne weiteres hätte entkräftet werden können.
Jedenfalls ist dem Landesarbeitsgericht darin zuzustimmen, daß es angesichts der Gesamtumstände, vor allem im Hinblick auf den erheblichen sozialen Besitzstand der Klägerin aus der Sicht eines verständigen Arbeitgebers eine völlig überzogene Reaktion darstellte, wenn die Beklagte ohne weitere Sachaufklärung sofort an das äußerste Mittel der fristlosen Kündigung dachte, eine solche der Klägerin androhte und die Klägerin damit zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages bewog. Dies macht die Drohung widerrechtlich.
II.
Besteht das Arbeitsverhältnis der Klägerin fort, so hatte sie in der Zeit von der Verkündung des arbeitsgerichtlichen Urteils an während der Dauer des Rechtsstreits bis zum Erlaß des Revisionsurteils einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen. Der Beschluß des Großen Senats vom 27. Februar 1985 (- GS 1/84 - BAGE 48, 122 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) zum allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch gilt auch, wenn die Parteien nicht über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine Kündigung des Arbeitgebers streiten, sondern der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses wegen eines Aufhebungsvertrages streitig ist (Senatsurteil vom 16. Januar 1992 - 2 AZR 412/91 -, aaO). Der Arbeitnehmer kann in einem derartigen Fall unmittelbar eine Leistungsklage auf Weiterbeschäftigung erheben, die Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages ist dann als Vorfrage zu prüfen (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 1985 - 2 AZR 410/84 - AP Nr. 19 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht). Mit dem erstinstanzlichen Urteil, das inzidenter die Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages feststellte, überwog das Interesse der Klägerin an einer Beschäftigung das Interesse der Beklagten an ihrer Nichtbeschäftigung. Zusätzliche Umstände, aus denen sich ein überwiegendes Interesse der Beklagten an der Nichtbeschäftigung der Klägerin ergeben könnte, sind nicht geltend gemacht. Wie bereits ausgeführt, hat sich der Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin für die Zeit bis zur Entscheidung über die Revision zwar infolge Zeitablaufs in der Hauptsache teilweise erledigt, die Klägerin konnte jedoch von der Beschäftigungsklage zu einer entsprechenden Feststellungsklage übergehen.
C.
Für die Zeit ab Verkündung des Revisionsurteils steht der Klägerin der allgemeine Beschäftigungsanspruch bei unangefochten bestehendem Arbeitsverhältnis zu, da nunmehr rechtskräftig auch über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses entschieden ist. Diesen Anspruch kann die Klägerin nach § 259 ZPO geltend machen (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 1985, aaO, zu C der Gründe).
Unterschriften
Etzel, Bitter, Bröhl, Thelen, Beckerle
Fundstellen
Haufe-Index 60032 |
BB 1996, 1892 (L1) |
BB 1997, 420-421 (LT1) |
DB 1996, 18791880 (LT1) |
NJW 1997, 676 |
NJW 1997, 676-678 (LT1) |
BuW 1996, 684 (K) |
AiB 1997, 188-181 (LT1) |
DRsp, VI(610) 253a (LT1) |
ARST 1996, 197-198 (LT1) |
ArbN 1997, 66 (K) |
EEK, II/232 (ST1-4) |
EWiR 1996, 965 (L1) |
NZA 1996, 1030 |
NZA 1996, 1030-1032 (LT1) |
Quelle 1997, Nr 3, 24 (L1) |
RdA 1996, 324 (L1) |
RzK, I 9i Nr. 45 (LT1) |
ZAP, EN-Nr. 793/96 (L) |
ZIP 1996, 1757 |
ZIP 1996, 1757-1760 (LT1) |
AP BGB § 123, Nr. 42 (LT1) |
AR-Blattei, ES 1000 Nr. 194 (LT1) |
ArbuR 1996, 405 (L1) |
AuA 1996, 404 (L1) |
DSB 1996, Nr 10, 18 (S) |
EzA-SD 1996, Nr 17, 4-6 (ST1) |
EzA BGB § 123, Nr. 42 (LT1) |
EzBAT BAT § 58, Drohung Nr. 2 (LT1) |
MDR 1997, 581 |
MDR 1997, 581-583 (LT) |
PERSONAL 1996, 666 (L1) |
RDV 1997, 27-29 (LT1) |