Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechstsmittelbelehrung bei verspäteter Urteilsabsetzung. Ablauf der Revisionsfrist bei Zustellung des vollständig abgefaßten Urteils 16 Monate und 21 Tage nach Verkündung, das die übliche Rechtsmittelbelehrung über eine Revisionsfrist von einem Monat ab Zustellung enthält
Leitsatz (amtlich)
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren beginnt mit Ablauf der Fünf-Monats-Frist der §§ 516, 552 ZPO nicht die Berufungs- oder Revisionsfrist, sondern wegen Fehlens der vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG (Bestätigung von BAG Urteil vom 14. September 1984 – 7 AZR 528/83 – AP Nr. 3 zu § 9 ArbGG 1979). Hat das Landesarbeitsgericht in einem kurz vor Ablauf der Siebzehn-Monats-Frist mit Tatbestand und Entscheidungsgründen zugestellten Urteil gleichwohl die übliche Rechtsmittelbelehrung über die Revisionsfrist erteilt, so läuft die Revisionsfrist nicht vor dem angegebenen Zeitpunkt – 1 Monat nach Zustellung des Urteils – ab.
Normenkette
ArbGG 1979 § 9 Abs. 5, § 72 Abs. 5, § 74 Abs. 1 S. 1; GG Art. 20 Abs. 3; VwGO § 58 Abs. 2; ZPO §§ 516, 552, 551 Nr. 7, §§ 564-565
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 24.04.1992; Aktenzeichen 3 Sa 634/91) |
ArbG Osnabrück (Urteil vom 26.03.1991; Aktenzeichen 3 Ca 123/90) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 24. April 1992 – 3 Sa 634/91 – aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob auf ihr Arbeitsverhältnis der “Manteltarifvertrag für Redakteure an Tageszeitungen” Anwendung findet.
Die als Fotografen beschäftigten Kläger haben die Auffassung vertreten, daß sie Redakteure im Sinne des Tarifvertrages seien. Wie nach dem Tarifvertrag gefordert, würden sie kreativ an der Erstellung des redaktionellen Teils von Tageszeitungen mitwirken.
Die Kläger haben beantragt
festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis dem “Manteltarifvertrag für Redakteure an Tageszeitungen” in seiner jeweils geltenden Fassung unterfällt.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, daß die Tätigkeit der Kläger nicht kreativ im tariflichen Sinne sei. Im Vordergrund stehe die handwerkliche Fotografentätigkeit.
Das Arbeitsgericht hat den Klagen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgen die Kläger ihren Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Kläger rügen die verspätete Absetzung des zweitinstanzlichen Urteils. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts wurde am 24. April 1992 verkündet. Auf die Nachfrage des Kläger-Vertreters im Februar 1993, wann mit der Absetzung des Urteils gerechnet werden könne, teilte der stellvertretende Vorsitzende der zuständigen Kammer des Landesarbeitsgerichts mit, daß der planmäßige Vorsitzende derzeit auf nicht absehbare Dauer erkrankt sei und die Sache unmittelbar nach Genesung vorgelegt werde. Das in vollständiger Form abgefaßte Urteil wurde dem Kläger-Vertreter am 14. September 1993, also 16 Monate und 21 Tage nach Verkündung, zugestellt. Das Urteil enthält eine Rechtsmittelbelehrung, in der es u. a. heißt, daß die Revisionsschrift innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils bei dem Bundesarbeitsgericht eingehen muß.
Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 1993, eingegangen beim Bundesarbeitsgericht am 13. Oktober 1993, haben die Kläger Revision gegen das landesarbeitsgerichtliche Urteil eingelegt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist zulässig und begründet. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
A. Die Revision ist zulässig.
Die Revisionsfrist ist eingehalten. Maßgeblich für den Fristablauf ist der in der Belehrung angegebene Termin (ein Monat nach Zustellung). Das ist der 14. Oktober 1993. Die Revision der Kläger ist am 13. Oktober 1993 beim Bundesarbeitsgericht eingegangen.
Nach § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG kann ein Rechtsmittel, wenn die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt ist, nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung der Entscheidung eingelegt werden, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine Belehrung dahingehend erfolgt ist, daß ein Rechtsmittel nicht gegeben sei.
I. Die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG beginnt mit der Zustellung der Entscheidung, spätestens jedoch mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung (§ 552 ZPO, § 72 Abs. 5 ArbGG; vgl. BAG Beschluß vom 1. September 1992 – 2 AZB 10/92 –, n.v.; BAG Urteil vom 16. August 1991 – 2 AZR 241/90 – AP Nr. 2 zu § 15 SchwbG 1986; BAG Urteil vom 14. September 1984 – 7 AZR 528/83 – AP Nr. 3 zu § 9 ArbGG 1979; BAG Beschluß vom 22. November 1966 – 4 AZR 402/66 – AP Nr. 14 zu § 9 ArbGG 1953; BAG Urteil vom 20. April 1956 – 1 AZR 448/54 – AP Nr. 7 zu § 611 BGB Urlaubsrecht; LAG München Beschluß vom 20. März 1986 – 7 Sa 756/85 – LAGE § 66 ArbGG 1979 Nr. 2; Grunsky, ArbGG, 6. Aufl., § 9 Rz 32; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 53. Aufl., § 516 Rz 1; MünchKommZPO-Rimmelspacher, Bd. 2, § 516 Rz 2).
An die Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO schließt sich bei unterbliebener Urteilszustellung nicht die einmonatige Revisionsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 ArbGG an, sondern die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 ArbGG. Die einmonatige Revisionsfrist beginnt nur dann, wenn die Partei über das Rechtsmittel und das Gericht, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist, die Anschrift des Gerichts und die einzuhaltende Frist und Form schriftlich belehrt worden ist (§ 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG; vgl. BAG Urteil vom 22. November 1966 – 4 AZR 402/66 – AP, aaO). Der Fall einer fehlenden Urteilszustellung kann nicht anders behandelt werden als die Zustellung eines Urteils ohne Rechtsmittelbelehrung innerhalb der Fünf-Monats-Frist (vgl. Zeuner, Anm. zu BAG AP Nr. 14 zu § 9 ArbGG 1953). Im letzteren Fall kann die Revision gemäß § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG noch innerhalb eines Jahres nach Urteilszustellung eingelegt werden. Fehlt es nicht nur an einer Rechtsmittelbelehrung, sondern bereits an der Zustellung eines vollständig abgefaßten Urteils, so darf die unterlegene Partei in diesem Fall nicht schlechter stehen.
An die Stelle der in § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG vorgesehenen Zustellung der Entscheidung tritt die Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO (vgl. Hueck, Anm. zu BAG AP Nr. 7 zu § 611 BGB Urlaubsrecht). Die Verknüpfung der Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO mit der Ein-Jahres-Frist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG entspricht dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften, aus Gründen der Rechtssicherheit eine zeitliche Begrenzung für die Anfechtbarkeit von Urteilen zu schaffen und damit die Rechtskraft der Entscheidung herbeizuführen (vgl. Zeuner, aaO).
Die Auffassung von Prütting (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 9 Rz 58), wonach bei unterbliebener Zustellung der Entscheidung die Ein-Jahres-Frist bereits mit der Verkündung der Entscheidung zu laufen beginnt, findet im Gesetz keine Stütze. Diese Ansicht beruft sich darauf, daß die in der ZPO geregelte Fünf-Monats-Frist durch die Ein-Jahres-Frist des Arbeitsgerichtsgesetzes aufgrund Spezialität verdrängt werde. Zwar führt diese Auffassung ebenfalls zu einer zeitlichen Begrenzung der Rechtsmittelmöglichkeiten; sie widerspricht jedoch dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG, wonach die Zustellung einer Entscheidung erforderlich ist. Allein aus § 552 ZPO läßt sich entnehmen, daß die Ein-Jahres-Frist auch ohne Zustellung beginnen kann, dann jedoch erst mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Für eine analoge Anwendung des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG dahingehend, daß die Ein-Jahres-Frist alternativ mit Zustellung oder Verkündung beginnt, ist ebenfalls kein Raum. Es fehlt bereits an einer für die Analogie notwendigen Gesetzeslükke. Aufgrund des Verweises in § 72 Abs. 5 ArbGG findet die Vorschrift des § 552 ZPO auch im Arbeitsgerichtsverfahren Anwendung. Damit hat der Gesetzgeber für den Fall der unterbliebenen Zustellung eine Regelung hinsichtlich der Rechtsmittelfrist getroffen.
Die Zustellung des Urteils nach 16 Monaten und 21 Tagen, also noch innerhalb der laufenden Jahresfrist, hat keine weitere Rechtsmittelfrist, insbesondere nicht die Revisionsfrist nach § 74 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, in Lauf gesetzt. Der Auffassung der Revision, wonach durch die Zustellung des Urteils noch vor Ablauf der 17-Monats-Frist die Revisionsfrist von einem weiteren Monat in Gang gesetzt werde, kann nicht gefolgt werden. Für eine derartige Unterbrechung der bereits laufenden Frist mit anschließendem Beginn der einmonatigen Revisionsfrist ergeben sich aus dem Gesetz keine Anhaltspunkte. Eine solche weitere Frist widerspräche auch dem Ziel der Rechtsmittelvorschriften, den Abschluß des Rechtsstreits soweit wie möglich zu beschleunigen. Das entspricht zudem der Rechtslage im Zivilprozeß. Die Zustellung des vollständigen Urteils nach fünf Monaten – aber noch vor Ablauf der einmonatigen Revisionsfrist – führt nicht zu einer Verlängerung der insgesamt sechs Monate betragenden Frist.
II. Die Jahresfrist, die fünf Monate nach Verkündung der Entscheidung in Gang gesetzt worden ist, lief jedoch nicht am 24. September 1993, sondern erst am 14. Oktober 1993 ab.
Es bedarf keiner Entscheidung, ob den Auffassungen von Schmidt (RdA 1981, 222, 224) und Schlee (AnwBl 1984, 604, 606) zu folgen ist, wonach nach Ablauf der 17-Monats-Frist die eigentliche Berufungs- oder Revisionsfrist von einem Monat zu laufen beginnt. Demzufolge könnte ein Rechtsmittel bei unterbliebener Zustellung des Urteils erst nach Ablauf von 18 Monaten seit der Verkündung nicht mehr eingelegt werden. Das kann jedoch dahinstehen. Denn auch wenn man mit der herrschenden Meinung von einer 17-Monats-Frist ausgeht, ist die Revision wegen der fehlerhaften Belehrung nicht verfristet.
Die unterlegene Partei kann sich grundsätzlich auf eine Rechtsmittelbelehrung, in der eine längere als die gesetzliche Frist angegeben ist, verlassen und das Rechtsmittel daher noch so lange einlegen, wie es sich aus der gerichtlichen Belehrung ergibt. Zwar kann eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung nicht dazu führen, daß ein nicht vorgesehener Rechtsweg eröffnet wird oder eine bereits abgelaufene Rechtsmittelfrist erneut beginnt (vgl. BAG Urteil vom 24. Februar 1982 – 5 AZR 347/80 – BAGE 38, 52 = AP Nr. 3 zu § 64 ArbGG 1979; LAG Berlin Beschluß vom 5. November 1979 – 9 Sa 95/79 – EzA § 64 ArbGG 1979 Nr. 5). In diesem Fall besteht nicht die Gefahr, daß die unterlegene Partei durch die fehlerhafte Belehrung prozessuale Rechte verliert. Anders liegt es aber, wenn in der Rechtsmittelbelehrung eine längere als die gesetzlich vorgeschriebene Frist angegeben ist. Die Rechtsmittelfrist läuft dann jedenfalls nicht vor dem angegebenen Zeitpunkt ab (vgl. LAG Niedersachsen Beschluß vom 24. Mai 1993 – 1 TaBV 28/93 – LAGE § 9 ArbGG 1979 Nr. 3 = AuR 1993, 257; Kappes, NZA 1991, 664, 665; zu vergleichbaren Rechtsmittelvorschriften: BGH Rpfleger 1956, 159; OLG Celle MDR 1968, 1020; Bay VGH (N.F.) 5, Nr. 22 S. 101, 104; VGH Baden-Württemberg VRspr 10, Nr. 156 (S. 628 f.); Kopp, VwGO, 10. Aufl., § 58 Rz 14; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl., § 66 Rz 9; a.A.: Grunsky, aaO, Rz 28).
Die Partei darf sich auf die unrichtige Belehrung verlassen. Das ergibt sich aus dem verfassungsrechtlich verankerten Prinzip des Vertrauensschutzes sowie aus dem Sinn und Zweck der Belehrungspflicht. Der Vertrauensschutz gilt unabhängig davon, ob sich die Belehrung an eine rechtskundige Person, insbesondere Rechtsanwalt, richtet oder nicht (vgl. BGH NJW 1993, 3206; OLG Celle MDR 1968, 1020).
Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden (Rechtsstaatsprinzip). Der Bürger darf grundsätzlich darauf vertrauen, daß die Gerichte entsprechend dieser Bindung rechtmäßig handeln. Das gilt insbesondere bei einer Belehrung, die den Bürger über seine Rechte in Kenntnis setzen soll. Die Parteien müssen nicht klüger sein als das zuständige Gericht und die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung auf ihre Richtigkeit hin überprüfen (vgl. BGH NJW 1993, 3206).
Es entspricht auch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Belehrungsfrist, daß bei fehlerhafter Belehrung die Frist nicht zum gesetzlichen Fristende, sondern erst zu dem in der Belehrung angegebenen Termin abläuft. Die Belehrungsvorschriften sollen verhindern, daß eine Partei ein Rechtsmittel allein deswegen verliert, weil sie über das zuständige Gericht und die einzuhaltende Form und Frist nicht unterrichtet war. Der Sinn der Belehrungspflicht würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn eine Partei aufgrund des vom Gericht veranlaßten Irrtums über die Rechtsmittelfrist das Rechtsmittel verlieren würde. Der Gefahr eines Rechtsmittelverlustes aufgrund einer derartigen falschen Belehrung kann nur begegnet werden, indem sich die Rechtsmittelfrist entsprechend verlängert. Die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung des Gerichts darf sich nicht zum Nachteil der unterlegenen Partei auswirken.
Das Vertrauen der unterlegenen Partei auf die Richtigkeit der gerichtlichen Rechtsmittelbelehrung ist auch dann schutzwürdig, wenn in der Belehrung eine längere als die 17-Monats-Frist angegeben ist. Insofern gilt nichts anderes als bei einer fehlerhaften Belehrung zu der einmonatigen Revisionsfrist. Der Vorschrift des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG kann nicht entnommen werden, daß das Vertrauen auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung einzig und allein nur dann über 17 Monate hinaus schutzwürdig ist, wenn eine Belehrung dahingehend erfolgte, daß ein Rechtsmittel nicht gegeben sei. Zwar zielt diese Vorschrift darauf ab, die Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung auch bei fehlender oder unrichtiger Belehrung zeitlich zu begrenzen und so zum Zwecke der Rechtssicherheit den Rechtsstreit zu einem Abschluß zu führen. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, daß das Vertrauen auf eine längere Rechtsmittelfrist gerade vom Gericht hervorgerufen worden ist und dadurch einen besonderen Schutz genießt. Der Schutz dieses Vertrauens geht dem Beschleunigungsgrundsatz vor.
Das Bundesverwaltungsgericht (NJW 1967, 591, 592) hat zu der vergleichbaren Vorschrift des § 58 Abs. 2 VwGO entschieden, daß eine unrichtige Belehrung mit dem Inhalt, daß die Rechtsmittelfrist mehr als ein Jahr betrage, nicht dazu führe, daß die Rechtsmittelfrist über den Ablauf der einjährigen Ausschlußfrist des § 58 Abs. 2 VwGO hinaus laufe. Das Vertrauen auf die Richtigkeit der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung sei nach Ablauf der Ein-Jahres-Frist nicht mehr geschützt. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts betrifft jedoch eine Vorschrift, die von anderen Voraussetzungen als § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG ausgeht. Diese Auffassung kann für das Arbeitsgerichtsverfahren nicht ohne weiteres übernommen werden.
Nach § 58 Abs. 2 VwGO ist im Falle der unterbliebenen oder unrichtigen Belehrung die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche Belehrung dahin erfolgt ist, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei. Sofern die Zustellung vorgeschrieben ist, beginnt die Frist des § 58 Abs. 2 VwGO nur, wenn die Entscheidung wirksam zugestellt ist (§ 57 VwGO; vgl. Kopp, aaO, § 57 Rz 17). Eine den §§ 516, 552 ZPO entsprechende Vorschrift, wonach Rechtsmittelfristen auch ohne Zustellung einer Entscheidung in Lauf gesetzt werden, fehlt in der VwGO. Bei fehlender Zustellung läuft keine Frist (vgl. Kopp, aaO, § 124 Rz 7). Entsprechendes gilt im Sozialgerichtsverfahren (§§ 64, 66 SGG; vgl. Meyer-Ladewig, aaO, § 66 Rz 13).
Das Vertrauen auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung ist im Sozial- und Verwaltungsgerichtsverfahren nur dann nicht mehr schutzwürdig, wenn die unterlegene Partei trotz Zustellung des Urteils innerhalb eines Jahres kein Rechtsmittel einlegt. Hat das Gericht seinerseits alles getan, insbesondere das Urteil vollständig abgefaßt und zugestellt, so kann erwartet werden, daß die unterlegene Partei auch bei einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung innerhalb eines Jahres seit Zustellung gegen das Urteil vorgeht. Anders liegt es aber in dem Fall, daß die Jahresfrist auch ohne Zustellung des Urteils beginnt und das Urteil erst während dieser Jahresfrist zugestellt wird. Beträgt die Zeitspanne zwischen Urteilszustellung und Ablauf der Ein-Jahres-Frist aber weniger als ein Jahr, so kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die unterlegene Partei sich mit dem Urteil abgefunden hat und kein Rechtsmittel mehr einlegen wird.
Die Kläger konnten die Revision gegen das landesarbeitsgerichtliche Urteil also bis zum 14. Oktober 1993 einlegen. Die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG verlängerte sich wegen der fehlerhaften Belehrung über den 24. September 1993 hinaus bis zu diesem Zeitpunkt. Die nach § 9 Abs. 5 Satz 1 ArbGG vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung hätte in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts dahingehen müssen, daß die Revision innerhalb von 17 Monaten seit der Verkündung bzw. bis zum 24. September 1993 einzulegen ist. Statt dessen heißt es in der Rechtsmittelbelehrung, daß die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu erheben ist. Darauf durften die Kläger sich verlassen.
Die Revision ist demnach fristgemäß eingelegt.
B. Die Revision ist auch begründet.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beruht auf einer Verletzung des Gesetzes, da sie als Urteil ohne Entscheidungsgründe anzusehen ist (§ 551 Nr. 7 ZPO).
I. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat mit Beschluß vom 27. April 1993 (– GmS-OGB 1/92 – AP Nr. 21 zu § 551 ZPO = EzA § 551 ZPO Nr. 1 = NJW 1993, 2603) erkannt, daß abweichend von der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne von § 551 Nr. 7 ZPO als nicht mit Gründen versehen anzusehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Dieser Rechtsprechung hat sich das Bundesarbeitsgericht angeschlossen (BAG Urteil vom 4. August 1993 – 4 AZR 501/92 – AP Nr. 22 zu § 551 ZPO, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; BAG Urteil vom 16. Dezember 1993 – 8 AZR 114/93 –, n.v.).
II. Das am 24. April 1992 verkündete Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung schriftlich niedergelegt und von den Richtern unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden. Das ergibt sich aus dem Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts vom 8. Februar 1993, der die Anfrage der Kläger, wann mit der Absetzung des Urteils zu rechnen sei, nicht konkret beantworten konnte. Das läßt nur den Schluß zu, daß jedenfalls zu diesem Zeitpunkt kein vollständig abgefaßtes und von den Richtern unterschriebenes Urteil vorlag.
Ein solches Urteil gilt im Sinne von § 551 Nr. 7 ZPO als nicht mit Gründen versehen. Es ist daher auf die entsprechende Rüge der Kläger ohne weitere Sachprüfung gemäß §§ 564, 565 ZPO aufzuheben.
Unterschriften
Schaub, Bott, Friedrich, Müller-Tessmann, Brunner
Fundstellen
Haufe-Index 857035 |
NJW 1995, 2508 |
NZA 1995, 654 |