Leitsatz (amtlich)
Im Steuerrecht - insbesondere in Schätzungssachen - ist eine "tatsächliche Verständigung" über schwierig zu ermittelnde tatsächliche Umstände zulässig und bindend.
Normenkette
AO § 217; StAnpG § 3 Abs. 1; AO 1977 §§ 38, 78 Nr. 3, § 162
Tatbestand
Der Kläger, Revisionskläger und Anschlußrevisionsbeklagte (Kläger) erwarb von seiner Mutter (Steuerpflichtige) durch notariellen Vertrag vom 1. April 1969 aus deren Unternehmen den Schiffahrtsbetrieb. Die Mutter hatte die Personenschiffahrt nebst Schiffskantinen betrieben, ferner eine Bootsstandvermietung und eine Gaststätte. Die Bootsstandvermietung und die Gaststätte gingen auf den Bruder des Klägers über.
Der Beklagte, Revisionsbeklagte und Anschlußrevisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger durch Haftungsbescheid gemäß § 116 der Reichsabgabenordnung (AO) für Betriebssteuerschulden der Mutter in Anspruch. In der Einspruchsentscheidung erhöhte das FA die Haftungssumme auf 23 116 DM (Gewerbesteuer 1968 21 782 DM, Umsatzsteuer 1968 1 860,75 DM; Summe 23 642,75 DM, abzüglich 1/45-Anteil des Bruders). Die Gewerbesteuer ergab sich aus einem nach einer Betriebsprüfung gegen die Mutter ergangenen Gewerbesteuerbescheid (Gewerbesteuer 24 861 DM abzüglich Zahlungen der Mutter 3 079 DM = 21 782 DM). Der Gewerbesteueranforderung lag der vom Betriebsprüfer ermittelte Gewinn 1968 bzw. Gewerbeertrag 1968 zugrunde. Der Gewinn war gegenüber dem Buchführungsergebnis um Betriebseinnahmen aus Schiffahrt von 121 440 DM und aus dem Betrieb der Schiffskantinen von 35 508 DM höher geschätzt worden.
Im Betriebsprüfungsbericht war ausgeführt: Anläßlich einer Durchsuchung seien ungebucht gebliebene Schiffsabrechnungen und "schwarze" Kassenbücher vorgefunden worden. Danach seien über 50 % der Einnahmen aus der Personenschiffahrt unverbucht geblieben. Es seien nicht sämtliche Fahrkarteneinkäufe in die Buchführung übernommen worden. Eine genaue Mengenverprobung für den gesamten Prüfungszeitraum sei daran gescheitert, daß die Steuerpflichtige und ihr Steuerbevollmächtigter die ursprünglich vorhandenen Unterlagen über Fahrkarteneinkäufe "weggeschafft" hätten. Ersatzweise werde eine Mengenverprobung, beschränkt auf die Karten der Preisstufe 2 DM, durchgeführt. Die Differenz sei auf den gesamten Fahrkartenverkauf aller Preisstufen umzurechnen. Da davon auszugehen sei, daß Einnahmen beim Verkauf von Fahrkarten sämtlicher Preisstufen gleichmäßig verkürzt worden seien, sei anzunehmen, daß 1968 121 440 DM verkürzt worden seien; der Anteil der verkürzten Einnahmen aus 2-DM-Fahrkartenverkäufen an den insgesamt verkürzten Einnahmen sei entsprechend dem Verhältnis der erklärten Einnahmen aus 2-DM-Fahrkartenverkäufen zu den erklärten Gesamteinnahmen hochzurechnen.
Auf die Klage erging ein Zwischenurteil des Finanzgerichts (FG) vom 3. Juli 1974, das die Haftung dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärte. Das Zwischenurteil wurde rechtskräftig.
Das FA erließ am 16. Januar 1975 einen geänderten Haftungsbescheid, in dem die Haftungssumme auf 20 471 DM herabgesetzt wurde (Gewerbesteuer 1968 20 109 DM, Umsatzsteuer 1968 unverändert 1 860,75 DM, Summe 21 969,75 DM, davon 44/45). Der Änderungsbescheid ging auf eine Anregung des FG im Termin vom 4. Dezember 1974 zurück. Die Beteiligten hatten sich bereitgefunden, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären, "wenn die zu haftende Gewerbesteuer auf einen Betrag herabgesetzt wird, der sich aus einem um 40 000,- DM geringeren Gewinn unter entsprechender Änderung der Gewerbesteuerrückstellung ergibt". Der Kläger griff - persönlich - den Änderungsbescheid mit dem Einspruch an. In einem Schriftsatz vom 20. Februar 1975 an das FG führte sein Prozeßbevollmächtigter aus, es sei seinem Mandanten nicht möglich gewesen, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären, weil der Änderungsbescheid nicht den Erwartungen entsprochen habe, der Einspruch sei "vorsorglich" eingelegt worden, damit der Änderungsbescheid "nicht in Rechtskraft erwachse"; dieser solle jedoch "Gegenstand des hier anhängigen Verfahrens im Sinne von § 68 FGO werden". Das FA erließ eine Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975, in der es - nach Ankündigung - die Haftungssumme auf 25 836 DM erhöhte (Gewerbesteuer 1968 24 564 DM, Umsatzsteuer 1968 unverändert 1 860,75 DM, Summe 26 424,75 DM, davon 44/45). Der Kläger legte gegen die Einspruchsentscheidung Klage ein, die unter dem Az. II 109 und 110/75 bei dem FG anhängig wurde.
Der Vorsitzende des FG äußerte in einer prozeßleitenden Verfügung die Auffassung, nach Ergehen der (verbösernden) Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 sei auch noch eine Erklärung erforderlich, daß die Einspruchsentscheidung gemäß § 68 FGO Gegenstand des Verfahrens werde. Der Kläger stellte daraufhin den Antrag, daß "auch der Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 Gegenstand des Verfahrens II 9/74 werden soll".
Das FG ermäßigte die Haftungssumme auf 16 792,13 DM. Es führte aus: Eine Schätzung sei angesichts der Buchführungsmängel und des Umstands gerechtfertigt, daß der Kläger zu erkennen gegeben habe, daß eine Minderung des Gewerbeertrags um 40 000 DM zu einem wirklichkeitsnahen Ergebnis führen werde. Die Gewerbesteuer 1968 sei überhöht angesetzt worden. Der vom FA in der Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 angenommene Gewinn von 180 955 DM sei auf 135 515 DM herabzusetzen. Die Schätzung der Kantinenumsätze sei nicht zu beanstanden. Danach ergebe sich eine Haftungssumme von 16 792,13 DM (Gewerbesteuer 18 462 DM, Umsatzsteuer unverändert 1 860,75 DM, Summe 20 322,75 DM, davon 44/45, abzüglich der bereits von der Mutter gezahlten Gewerbesteuer 3 079 DM).
Der Kläger hat Revision, das FA Anschlußrevision eingelegt. Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts: Er wende sich nicht mehr gegen eine Inanspruchnahme aus § 116 AO. Der Gewerbesteuerhaftung sei jedoch lediglich ein Gewinn von 44 208 DM zugrunde zu legen (entsprechend der nachträglich gefertigten Gewinn- und Verlustrechnung für 1968). Das FG sei zu Unrecht von der Fahrkartenmengenverprobung des Betriebsprüfers ausgegangen, die in mehreren Beziehungen fehlerhaft sei. Das FG habe schließlich nicht die Schätzung der Kantinenumsätze durch den Betriebsprüfer übernehmen dürfen.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, hilfsweise, einen Gewinn für 1968 von 44 208 DM anteilig zugrunde zu legen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen und im Wege der Anschlußrevision die Haftungssumme auf 23 116 DM festzusetzen, hilfsweise, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Es trägt vor: Bei der Mengenverprobung der 2-DM-Fahrkarten habe das FG - wohl aus Versehen - außer Betracht gelassen, daß der Betriebsprüfer dem belegten Fahrkartenbezug 10 000 Stück hinzugerechnet habe, weil nachweisbar 2-DM-Fahrkarten der Nummernkreise 00001 bis 10 000 verwandt worden seien, für deren Bezug kein Beleg vorgefunden worden sei. Da der erste belegte Fahrkartenbezug ab Nr. 40 000 laufe, liege eine Hinzurechnung von nur 10 000 Stück an der untersten Schätzungsgrenze.
Der Kläger beantragt, die Anschlußrevision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Anschlußrevision ist teilweise begründet.
1. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der geänderte Haftungsbescheid vom 16. Januar 1975 gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden konnte. Dieser Bescheid ermäßigte allerdings die bisherige Haftungssumme. Für die Zeit nach Inkrafttreten der Abgabenordnung (AO 1977) hat der V. Senat des BFH ausgeführt, daß die Herabsetzung der Haftungssumme als Teilrücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids anzusehen ist (§ 130 Abs. 1 AO 1977), die diesen, soweit er von der Teilrücknahme nicht betroffen sei, unberührt lasse (§ 124 Abs. 2 AO 1977); das Verfahren gegen den ursprünglichen Haftungsbescheid sei, weil dieser weder geändert noch ersetzt worden sei, auch ohne Antrag nach § 68 FGO fortzuführen (Urteil vom 28. Januar 1982 V R 100/80, BFHE 135, 27, BStBl II 1982, 292 ; s. auch Urteil vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791 ). Im Streitfall ist jedoch noch ein Haftungsbescheid zu beurteilen, der vor dem Inkrafttreten der AO 1977 erlassen wurde. Unter der Geltung der AO konnten Haftungsbescheide entsprechend den Vorschriften für Steuerbescheide geändert werden (vgl. § 97 Abs. 2 AO). Demgemäß durfte bis zum 31. Dezember 1976 ein abändernder Haftungsbescheid gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden (BFH-Beschluß vom 7. Juni 1973 VI B 40/72, BFHE 109, 305, BStBl II 1973, 666 ).
Das FG konnte die Erklärung des Prozeßbevollmächtigten im Schriftsatz vom 20. Februar 1975 dahin würdigen, daß der abändernde Haftungsbescheid vom 16. Januar 1975 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden sollte. Der Schriftsatz wirkt zwar in weiten Teilen lediglich wie die Ankündigung eines solchen Antrags. Zum Schluß finden sich jedoch die eindeutigen Worte, der Änderungsbescheid solle "Gegenstand des hier anhängigen Verfahrens im Sinne des § 68 FGO werden". Die vorherige Einlegung des Einspruchs durch den Kläger stand dem Antrag nicht entgegen (BFH-Urteil vom 28. Juni 1972 I R 102/70, BFHE 106, 415, BStBl II 1972, 952 ).
Das FG irrt indessen, wenn es meint, auch die Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 sei Gegenstand des Verfahrens geworden und sachlich überprüfbar. Die auf Anregung des FG abgegebene Erklärung des Klägers, auch die Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 werde gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, war wirkungslos. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob ein Änderungsbescheid überhaupt noch nach Ergehen der Einspruchsentscheidung - nunmehr in Gestalt der Einspruchsentscheidung - zum Gegenstand des Verfahrens über den Erstbescheid gemacht werden kann (verneinend Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rz. 7462 f.). Jedenfalls kann über einen Einspruch nicht mehr sachlich entschieden werden, nachdem der ihm zugrunde liegende Bescheid - hier durch Antrag nach § 68 FGO - in ein anderes Verfahren gelangt ist.
Die verbösernde Einspruchsentscheidung vom 3. April 1975 durfte nicht mehr ergehen. Es wäre angebracht gewesen, sie in dem FG-Verfahren II 109 und 110/75 ersatzlos aufzuheben. Ob dies jetzt noch möglich und erforderlich ist, braucht in dem hier anhängigen Verfahren, in dem lediglich über die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids vom 16. Januar 1975 zu befinden ist, nicht entschieden zu werden. Soweit die Anschlußrevision die Festsetzung einer höheren Haftungssumme als im Änderungsbescheid erstrebt, kann sie schon aus diesem Grunde nicht durchdringen (BFH-Urteil vom 28. Februar 1975 VI R 74/73, BFHE 115, 567, BStBl II 1975, 710 ).
2. Der Kläger haftet, wie er selbst nicht mehr in Abrede stellt, gemäß § 116 AO (anteilig) für die Betriebsteuerschulden seiner Mutter aus dem Jahre 1968; er erhielt durch Vertrag vom 1. April 1969 den Schiffahrtsbetrieb (einschließlich des Betriebs der Schiffskantinen) als einen in dem Unternehmen der Mutter gesondert geführten Betrieb übereignet. Die Haftung ist dem Grunde nach durch das Zwischenurteil des FG (§ 99 FGO) rechtskräftig festgestellt worden. Das Zwischenurteil ist im anhängigen Verfahren ergangen. An seiner Verbindlichkeit hat sich nichts dadurch geändert, daß inzwischen der Änderungsbescheid vom 16. Januar 1975 zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Eine solche Auswechslung des dem Verfahren zugrunde liegenden Bescheids könnte allenfalls dann Bedeutung erlangen, wenn der Änderungsbescheid, was hier nicht der Fall ist, die Haftungsgrundlagen verändert.
Danach ist nur darüber zu befinden, in welcher Höhe der Kläger für Betriebsteuerschulden seiner Mutter haftet. Die Gewerbesteuer 1968 und die Umsatzsteuer 1968, für die der Kläger haftbar gemacht wird, beruhen auf Schätzungen des FA. Der Kläger kann als Haftender geltend machen, daß die Schätzungen überhöht sind. Denn der Haftungsschuldner darf nur in Anspruch genommen werden, wenn eine Steuerschuld besteht (BFH-Urteil vom 2. April 1981 V R 39/79, BFHE 133, 121, BStBl II 1981, 627 ).
Die Umsatzsteuernachforderung 1968 von 1 860,75 DM geht, soweit ersichtlich, auf eine Hinzuschätzung von Umsätzen außerhalb der (umsatzsteuerbefreiten) Personenschiffahrt zurück. Insoweit hat der Kläger gegen seine Haftung - auch der Höhe nach - keine substantiierten Einwendungen erhoben. Die Revision geht auf diesen Haftungsbetrag nicht ein.
Bei der Haftung für Gewerbesteuer 1968 ist lediglich die Schätzung des Gewinns (Gewerbeertrags) angegriffen.
3. Der Gewinn (Gewerbeertrag) 1968 der Mutter ist entsprechend den Erklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem FG vom 4. Dezember 1974 anzusetzen. Danach ergibt sich eine Haftungssumme von 18 335 DM.
a) Die Annahme des FA im Änderungsbescheid vom 16. Januar 1975, es ergebe sich aufgrund jener Erklärungen eine Haftungssumme von 20 471 DM, ist unzutreffend.
Die Beteiligten hatten sich am 4. Dezember 1974 auf Anregung des FG bereit erklärt, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären, wenn die Gewerbesteuer aus einem um 40 000 DM geringeren Gewinn (unter entsprechender Änderung der Gewerbesteuerrückstellung) errechnet würde. Sie gingen sonach übereinstimmend davon aus, daß der Gewinn bzw. Gewerbeertrag 1968 nicht um 121 440 DM (so Betriebsprüfer und Einspruchsentscheidung), sondern lediglich um 81 440 DM Betriebseinnahmen schätzungsweise zu erhöhen sei.
Das FA wollte mit dem Änderungsbescheid vom 16. Januar 1975 dieser "Einigung" gerecht werden, verfehlte sie allerdings in drei Punkten. Es berücksichtigte einmal nicht - anders als noch in der Einspruchsentscheidung vom 17. Dezember 1973 - die Gewerbesteuerzahlung der Mutter von 3 079 DM. Zahlungen des Steuerschuldners in der Zeit bis zum Erlaß der Einspruchsentscheidung gegen den Haftenden sind von der Haftungssumme abzusetzen (BFH-Urteil vom 17. Oktober 1980 VI R 136/77, BFHE 131, 449, 453, BStBl II 1981, 138 ). Außerdem ergab sich bei einer Ermäßigung der Betriebseinnahmen um 40 000 DM ein geringerer Haftungsanteil für den vom Kläger übernommenen gesondert geführten Betrieb von lediglich 33/34. Das FA hatte in der Einspruchsentscheidung den Aufteilungsschlüssel für die vom Kläger und dessen Bruder übernommenen Steuerschulden entsprechend dem Verhältnis der hinzugeschätzten Betriebseinnahmen in den Teilbetrieben errechnet; hierin lag ein vertretbarer Aufteilungsmaßstab im Sinne des Urteils des Reichsfinanzhofs (RFH) vom 22. März 1934 V A 640/33 (RStBl 1934, 454). Dann mußte aber unter der Annahme, der auf den Teilbetrieb des Klägers entfallende Hinzuschätzungsbetrag sei zu ermäßigen, der Aufteilungsmaßstab zu seinen Gunsten verändert werden. Andererseits war dem FA bei der Berechnung des Haftungsanteils des Klägers ein Rechenfehler zugunsten des Klägers von 1 009 DM unterlaufen. Bei Vermeidung der Fehler hätte sich eine Haftungssumme von 18 335 DM ergeben.
b) Das FG hat gemeint, der Kläger habe am 4. Dezember 1974 zu erkennen gegeben, daß eine Minderung des geschätzten Gewerbeertrags um 40 000 DM zu einem der Wirklichkeit naheliegenden Ergebnis führe; in dem dennoch fortzuführenden Verfahren treffe den Kläger eine erhöhte Darlegungs- und Nachweispflicht. Davon abgesehen, hat das FG keine Folgerungen aus den Erklärungen vom 4. Dezember 1974 gezogen und sich für befugt und verpflichtet gehalten, die Schätzung nochmals in vollem Umfang zu überprüfen.
Die Erklärungen hatten jedoch die weiterreichende Folge, daß das FG ohne erneute sachliche Überprüfung seiner rechtlichen Beurteilung die Schätzung in der von ihm angeregten und von den Beteiligten gebilligten Höhe zugrunde legen mußte. Der zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Änderungsbescheid konnte nur so weit herabgesetzt werden, daß er dem Verhandlungsergebnis vom 4. Dezember 1974 entsprach.
Die Bindung an das Verhandlungsergebnis folgt allerdings nicht schon aus prozessualen Erwägungen. Die Erklärungen waren nicht auf Verfahrensbeendigung gerichtet, sondern sollten die Voraussetzung für eine spätere Erledigung in der Hauptsache schaffen. Sie waren, prozessual gesehen, lediglich Absichtserklärungen.
c) Anders verhält es sich materiell-rechtlich mit den Erklärungen. Nach ihnen sind die Beteiligten gehalten, im Verhältnis zueinander hinzunehmen, daß die Betriebseinnahmen aus der Personenschiffahrt der Mutter des Klägers für 1968 um 40 000 DM niedriger als in der Einspruchsentscheidung angenommen anzusetzen sind. Hierbei handelt es sich um eine auch im Steuerrecht zulässige und bindende "tatsächliche Verständigung".
Nach allgemeiner Auffassung sind Vergleiche über Steueransprüche im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung unzulässig (RFH-Urteile vom 20. Oktober 1925 II A 453/25, RFHE 18, 92; vom 19. Mai 1931 II A 74/31, RStBl 1931, 457; vom 14. Oktober 1936 VI A 723/36, RStBl 1936, 1077; BFH-Urteile vom 27. Januar 1955 IV 281/54 U, BFHE 60, 235, BStBl III 1955, 92 ; vom 13. Juli 1955 II 38/55 S, BFHE 61, 137, BStBl III 1955, 251 ; vom 26. Mai 1961 III 326/58 U, BFHE 73, 312, BStBl III 1961, 380 ; vom 17. Dezember 1963 VII 182/60 U, BFHE 78, 225, 228, BStBl III 1964, 88 ; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 5. Juni 1959 VII C 83.57, BVerwGE 8, 329, BStBl I 1959, 1002; vom 12. Juli 1963 VII C 27.62, BStBl I 1963, 794; vom 18. April 1975 VII C 15.73, BVerwGE 48, 166, BStBl II 1975, 679 ; Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 14. April 1976 VIII ZR 253/74, BGHZ 66, 199; einschränkend Maassen, Regelungen mit dem Finanzamt, 1959, S. 64 ff., und insbesondere Schick, Vergleiche und sonstige Vereinbarungen zwischen Staat und Bürger im Steuerrecht, 1967; de lege ferenda Heilmeier, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A - DStZ/A - 1982, 190). Der erkennende Senat teilt diese Auffassung. Er braucht nicht dazu Stellung zu nehmen, ob § 78 Nr. 3 AO 1977, der für die Zeit ab 1977 von der Zulässigkeit öffentlichrechtlicher Verträge im Steuerrecht ausgeht, eine andere Beurteilung gebietet (so Meyer, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1977, 1705, 1708; Mohr, NJW 1978, 790), oder ob die Vorschrift, weil auf einem Redaktionsversehen beruhend und unreflektiert in die AO 1977 übernommen, keine Änderung der Rechtslage bewirkt hat (so Erichsen, Verwaltungsarchiv 1979, 349 f.; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 78 AO 1977, Anm. 36 ff. - Lieferung März 1983 - mit weiteren Nachweisen). Denn die hier zu beurteilenden Erklärungen wurden vor dem 1. Januar 1977 abgegeben.
Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen Vereinbarungen über Steueransprüche und Vereinbarungen über eine bestimmte Sachbehandlung. Bereits der RFH hat herausgestellt, daß die Steuerfestsetzungsbehörden vielfach zu "tatsächlichen Verständigungen" (z. B. bei Wertschätzungen) genötigt seien, "um in der Veranlagung voranzukommen"; eine solche "Bindung über den Tatbestand" habe aber keinen Zweck, da sich der Steuerpflichtige zu einem bindenden Vergleich regelmäßig nur herbeilassen werden, wenn der Streitfall im ganzen ein für allemal abgetan sei; für einen "Vergleich auch über das anzuwendende Recht lasse sich aber ein Grund nicht finden" (RFHE 18, 92, 95). Der BFH hat indessen wiederholt unter Berufung auf die Grundsätze von Treu und Glauben tatsächliche Verständigungen beachtet. In dem Urteil vom 25. September 1956 I 94/56 U (BFHE 63, 379, BStBl III 1956, 341 ) hat er es für möglich gehalten, daß die Verständigung über die bestimmte Verteilung eines größeren Schutträum- und Reparaturaufwands bindend sei. In dem Urteil vom 11. Januar 1963 VI 97/61 U (BFHE 76, 489, BStBl III 1963, 180 ) ist ausgesprochen worden, daß im Rahmen des § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eine Bindung eintrete, wenn sich FA und Steuerpflichtiger hinsichtlich einer einmaligen Zahlung an die unterhaltsberechtigte geschiedene Ehefrau auf eine bestimmte Sachbehandlung für einen längeren Zeitraum einigten; die Einigung sollte sogar dem 1955 eingeführten § 33 a EStG (beschränkte Abzugsfähigkeit derartiger Unterhaltsaufwendungen) vorgehen. Das Urteil vom 7. Februar 1975 VI R 133/72 (BFHE 115, 313, BStBl II 1975, 478 ) hat die Verständigung über die Nutzungsdauer eines Arbeitnehmer-PKW als bindend angesehen. In dem Urteil vom 31. Januar 1956 I 111/54 U (BFHE 62, 230, BStBl III 1956, 86 ) war allerdings die Bindung an eine Regelung über eine bestimmte Restnutzungsdauer verneint worden; es wurde aber als im gemeinsamen Interesse liegend bezeichnet, "verständig" getroffene Vereinbarungen über Besteuerungsgrundlagen "in bestimmten Grenzfällen" einzuhalten; unter besonderen Umständen - z. B. der Zusage eines Erlasses in Schlußbesprechungen durch zuständige Bedienstete (BFHE 60, 235, BStBl III 1955, 92 ) - könne auch eine rechtliche Bindung eintreten (ähnlich BVerwGE 48, 166, BStBl II 1975, 679 ).
Der erkennende Senat stimmt Offerhaus zu (in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 38 AO 1977 Anm. 27 f. - Lieferung April 1981), der angesichts dieser Rechtsprechung die Möglichkeit von einverständlichen Regelungen im Steuerrecht bejaht und für problematisch lediglich die Frage hält, wie diese Möglichkeit einzugrenzen ist. Keinesfalls dürfen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung überspielt werden; daher erscheint es zweifelhaft, ob dem Urteil in BFHE 76, 489, BStBl III 1963, 180 auch insoweit gefolgt werden kann, als es eine Einigung zur Klärung einer zweifelhaften Rechtslage für zulässig hält und der Einigung überdies Vorrang vor einer späteren Gesetzesänderung zubilligt. Raum bleibt indessen für einverständliche Regelungen im Bereich der Sachverhaltsermittlung, also für Regelungen, die mit dem RFH als "tatsächliche Verständigungen" charakterisiert werden können. Sie betreffen zumeist einen Ausschnitt des Besteuerungssachverhalts und bedürfen der Umsetzung in die hoheitliche Steuerfestsetzung. Für solche Regelungen besteht entgegen der Auffassung des RFH ein Bedürfnis. Sie sind bindend, sofern sie nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führen. Die Besteuerung knüpft - stärker als zur Zeit der Entscheidung des RFH - vielfach an Sachverhalte an, die erst in der Zukunft abgeschlossen sind; Werte sind nur annäherungsweise zu ermitteln; Beweisschwierigkeiten erlauben keine genauen Feststellungen. In diesen Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung dient es der Effektivität der Besteuerung und allgemein dem Rechtsfrieden, wenn sich die Beteiligten über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung einigen können. Solche Einigungen wirken sich zwar auch auf den Steueranspruch aus. Es handelt sich jedoch nicht um einen Vergleich über das anzuwendende Recht. Das Recht wird vielmehr erst auf einen einverständlich angenommenen Sachverhalt angewandt.
d) Insbesondere die Schätzung gemäß § 217 AO (§ 162 AO 1977) ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist; aus dem aufklärbaren Sachverhalt wird mit Hilfe von Überlegungen, die nach Möglichkeit auf die Besonderheiten des Einzelfalls eingehen sollen, gefolgert, daß die Besteuerungsgrundlagen in einer wahrscheinlichen Höhe verwirklicht worden sind (BFH-Urteil vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, 162, BStBl II 1982, 409 ). Selbst zuverlässige Schätzungsmethoden hinterlassen, wie der erkennende Senat für die Nachkalkulation ausgeführt hat, Unschärfen (Urteil vom 26. April 1983 VIII R 38/82, BFHE 138, 323, BStBl II 1983, 618 ).
Im Streitfalle sind die rechtlichen Voraussetzungen für eine Schätzung gegeben. In keiner Phase des Verfahrens ist den Feststellungen des Betriebsprüfers widersprochen worden, daß bei einer Durchsuchung im Betrieb der Mutter des Klägers ungebucht gebliebene Schiffsabrechnungen und schwarze Kassen vorgefunden worden sind; auch das FG ist hiervon ausgegangen. Danach hatte die Buchführung keine Beweiskraft; die Betriebseinnahmen waren zu schätzen. Die schätzenden Behörden - zunächst das FA, im gerichtlichen Verfahren das FG - waren nicht auf den nachträglich eingereichten Abschluß vom 30. September 1974 verwiesen. Die Wahl des Schätzungsverfahrens stand in ihrem Ermessen. Sie hätten bei der Schwere der Aufzeichnungsmängel ein grobes Schätzungsverfahren einschlagen können. Sie entschlossen sich, was nicht zu beanstanden ist, für den Teilbereich des 2-DM-Fahrkartenverkaufs eine genauere Verprobung vorzunehmen und hiervon - nun wieder verhältnismäßig grob - auf die gesamten Betriebseinnahmen hochzurechnen. Die Verprobung des 2-DM-Fahrkartenverkaufs war, wie der Streit um deren Einzelheiten sinnfällig zeigt, mit vielfachen Unsicherheiten behaftet; Beweisschwierigkeiten ergaben sich und würden sich bei der vom Kläger erstrebten Zurückverweisung nochmals vergrößern. Ein Unsicherheitsmoment enthält auch die Hochrechnung, die davon ausgeht, daß die Mutter des Klägers in allen Bereichen ihres Betriebs gleichmäßig die Betriebseinnahmen verkürzt hat.
Der erkennende Senat hält in derartigen Fällen dafür, daß die schätzenden Behörden im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums eine tatsächliche Verständigung mit dem einzuschätzenden Steuerpflichtigen über die gesamte Besteuerungsgrundlage oder auch nur über Einzelheiten eines eingeschlagenen Schätzungsverfahrens treffen können. Solche Verständigungen dienen der Verfahrensbeschleunigung und dem Rechtsfrieden. Sie finden, wie dargelegt, ihre Begrenzung im Einverständnis über tatsächliche, schwer zu ermittelnde Umstände. Geht es z. B. darum, ob Einnahmen überhaupt Betriebseinnahmen sind, steuerfrei zu belassen oder tarifbegünstigt zu besteuern sind, ist eine Verständigung über diese Rechtsfragen nicht zulässig, mögen diese auch zweifelhaft sein.
Danach müssen sich die Beteiligten an ihren Erklärungen vom 4. Dezember 1974 festhalten lassen. Die Erklärungen enthielten eine tatsächliche Verständigung über die 1968 erzielten Einnahmen der Mutter des Klägers. Die Einnahmen waren schwierig zu ermitteln, weil nicht von den Aufzeichnungen der Buchführung ausgegangen werden konnte. Die Einigung bezog sich auf alle Einnahmen des vom Kläger übernommenen Teilbetriebs, auch auf jene aus den Schiffskantinen; wenn die Minderung um 40 000 DM bei der Personenschiffahrt erfolgen sollte, lag darin zugleich das Einverständnis, daß das FA die Einnahmen aus den Schiffskantinen zutreffend ermittelt hatte. Es ist nicht zweifelhaft, daß die Einnahmen, über deren Höhe Einverständnis erzielt wurde, Betriebseinnahmen sind, die der Gewerbesteuer unterliegen. Die Zuständigkeiten sind gewahrt. Die Verständigung war auf Anregung des FG erzielt worden, so daß dieses, das im gerichtlichen Verfahren für die Schätzung zuständig ist (§ 96 FGO), nicht übergangen ist.
4. Die Haftungssumme beträgt danach 18 335 DM. Die Revision des Klägers, der die Festsetzung einer niedrigeren Haftungssumme als im FG-Urteil (16 792,13 DM) begehrt, ist unbegründet. Die Anschlußrevision des FA ist hingegen teilweise begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Festsetzung einer Haftungssumme von 18 335 DM.
Fundstellen
BStBl II 1985, 354 |
BFHE 1985, 549 |