Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsbehelfsstelle eines Finanzamts muß bei der Entscheidung über den Einspruch eines Steuerpflichtigen grundsätzlich alle Tatsachen verwerten, die der Veranlagungsdienststelle bekannt sind. Geschieht dies nicht, weil erforderlich gewesene Rückfragen unterblieben sind, so können die in der Einspruchsentscheidung nicht berücksichtigten Tatsachen nach Ablauf des Rechtsbehelfsverfahrens nicht mehr Gegenstand eines Änderungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sein.
Normenkette
AO 1977 § 173
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Streit geht darum, ob der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) einen geänderten Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 1971 erlassen durfte.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb ein Architektenbüro. Seit Beginn dieser freiberuflichen Tätigkeit im Jahre 1963 erwarb er auch Grundstücke und bebaute sie, um sie nach Möglichkeit für sich zu behalten. Durch notarielle Verträge vom 17. April und 20. Mai 1969 erwarb der Kläger die benachbarten Grundstücke in A, X-Str. 27 und 29, verband diese durch Zusammenlegung und bebaute das Gesamtgrundstück mit einem 12 Wohnungen umfassenden Gebäudekomplex. Im Streitjahr 1971 veräußerte der Kläger dieses Grundstück zum Preis von 813 000 DM. Den in der Einkommensteuererklärung 1971 vom 31. Oktober 1973 erklärten Einkünften setzte das FA im Einkommensteuerbescheid 1971 vom 30. August 1974 weitere Einkünfte in Gestalt eines Spekulationsgewinns (§ 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes -- EStG -- 1971) in Höhe von 88 193 DM hinzu. Das FA hatte diesen Betrag als Überschuß aus dem An- und Verkauf des im Jahre 1971 veräußerten Gesamtgrundstückes ermittelt.
Den Einspruch des Klägers, den die "Einspruchsund Rechtsmittelstelle" bearbeitete, wies das FA durch Einspruchsentscheidung vom 23. Juli 1976 als unbegründet zurück. Hiergegen erhob der Kläger Klage. Im Klageverfahren gab das FA mit Schriftsatz vom 17. Februar 1978 seine bisher vertretene Auffassung bezüglich der Entstehung eines Spekulationsgewinns auf, meinte aber nunmehr, der Kläger habe durch die Grundstücksveräußerungen Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 Nr. 1 EStG) in Höhe von 219 902,07 DM erzielt. Das FA verwies zur Begründung dieser Auffassung auf folgende weitere Grundstücksgeschäfte des Klägers:
a) Im Kalenderjahr 1969 habe er ein Grundstück in B gekauft und dieses im Jahre 1972 wieder veräußert;
b) im Kalenderjahr 1972 habe er die Grundstücke in A, Y-Str. 27 bis 29 erworben, sie mit zehn Eigentumswohnungen bebaut und sieben Eigentumswohnungen in den Jahren 1973 und 1974 veräußert;
c) ein im Jahre 1968 gekauftes Grundstück in C habe er nicht bebaut, woraus auch hier auf eine Veräußerungsabsicht geschlossen werden könne.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es teilte zwar die Auffassung des FA, daß der Kläger durch die Veräußerung des Grundstückes X-Straße Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt habe, wies jedoch darauf hin, daß der über 88 193 DM hinausgehende Teil des Gewinns aus Gewerbebetrieb von 219 902,07 DM im Hinblick auf § 96 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- (wegen des Verböserungsverbots) ohne rechtliche Auswirkung bleiben müsse.
Der Kläger legte gegen dieses Urteil am 18. September 1978 Revision ein (beim Senat unter dem Aktenzeichen I R 207/78 anhängig). Während des Revisionsverfahrens erteilte das FA am 14. Dezember 1978 einen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Bescheid für das Streitjahr. Das FA berücksichtigte nunmehr die Einkünfte aus Gewerbebetrieb in ihrer Gesamthöhe von 219 902 DM. Durch Beschluß des erkennenden Senats vom 8. August 1979 wurde das Revisionsverfahren I 207/78 bis zum Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens gegen den Änderungsbescheid ausgesetzt.
Dem FA waren die einzelnen Grundstücksveräußerungen des Klägers erstmals wie folgt bekanntgeworden:
1. Die Veräußerung des Grundstücks X-Straße durch die bei ihm am 31. Oktober 1973 eingegangene Steuererklärung 1971;
2. die Veräußerung des Grundstücks B durch Mitteilungen des FA R, bei ihm eingegangen am 31. Juli 1974, und
3. die Veräußerung der Eigentumswohnungen Y-Straße 27 bis 29 durch Mitteilung des FA D vom 13. Juni 1975 und durch die bei ihm am 4. März 1976 eingegangene Gewerbesteuererklärung 1973 des Klägers.
Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Dagegen gab das FG der Klage statt. Mangels neuer Tatsachen hätte der Berichtigungsbescheid vom 14. Dezember 1978 nicht ergehen dürfen.
Mit seiner Revision rügt das FA, das FG habe § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verletzt.
Das FA beantragt (sinngemäß), das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Veranlagung führen. Der angefochtene Änderungsbescheid hätte mangels neuer Tatsachen nicht ergehen dürfen.
1. Der Wortlaut des Gesetzes läßt es offen, auf wessen Kenntnisstand es für die Frage ankommt, ob eine Tatsache neu ist. Nach dem Wortlaut könnte sowohl die Finanzverwaltung als Einheit, das FA oder die zur Bearbeitung des Streitfalles innerhalb des FA organisatorisch berufene Dienststelle in Betracht kommen. Nach dem Sinn der Vorschrift muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Finanzverwaltung nicht als Ganzes, sondern nur durch ihre nach dem Gesetz zuständigen Finanzbehörden (vgl. §§ 16 ff. AO 1977) handeln kann. Aber auch deren innere Organisation kann nicht außer Betracht bleiben. Um die im Interesse der Allgemeinheit normierten Steueransprüche der öffentlichen Hand verwirklichen zu können, bedarf es innerhalb der Finanzbehörden einer sinnvollen Arbeitsteilung. Der erkennende Senat bleibt deshalb bei der schon zu § 222 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) vertretenen Auffassung, daß es für die "Neuheit" einer Tatsache in der Regel auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalles organisatorisch berufenen Dienststelle ankommt (ständige Rechtsprechung; vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 1. Dezember 1967 VI 379/65, BFHE 90, 485, BStBl II 1968, 145; vom 28. August 1974 I R 18/73, BFHE 114, 180, BStBl II 1975, 166). Diese Dienststellen dürfen jedoch nicht ohne weiteres isoliert betrachtet werden. Je nach ihrem Aufgabenbereich haben sie mehr oder weniger eng zusammenzuwirken und Erfahrungen auszutauschen. Unterbleibt dies, so kann es zur Folge haben, daß der organisatorisch zuständigen Dienststelle der Kenntnisstand anderer Dienststellen zugerechnet werden muß.
2. Wäre im Streitfall allein ein Steuerbescheid und später ein Änderungsbescheid ergangen, käme es nur auf den Kenntnisstand der Veranlagungsdienststelle an. Diese hatte den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid 1971 am 30. August 1974 erlassen. Zu diesem Zeitpunkt war der Veranlagungsdienststelle bekannt, daß der Kläger das Gesamtgrundstück X-Straße 27 und 29 im Jahre 1969 erworben, mit 12 Wohnungen bebaut und im Jahre 1971 veräußbert hatte. Außerdem wußte das FA durch die Mitteilung des FA R, bei ihm eingegangen am 31. Juli 1974, daß der Kläger im Jahre 1969 ein Grundstück in B gekauft und dieses im Jahre 1972 wieder veräußert hatte. Aus diesen beiden Veräußerungsfällen brauchte das FA bei Erlaß seines Einkommensteuerbescheids am 30. August 1974 noch nicht zu schließen, daß der Kläger eine gewerbliche Tätigkeit (§ 15 Nr. 1 EStG) entfaltet habe. Ausgehend vom Zeitpunkt 30. August 1974 (Erlaß des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids 1971) waren es für die Veranlagungsdienststelle neue Tatsachen, daß der Kläger im Kalenderjahr 1972 die Grundstücke in A, Y-Str. 27 bis 29 erworben, sie mit zehn Eigentumswohnungen bebaut und sieben Eigentumswohnungen in den Jahren 1973 und 1974 veräußert hatte. Denn davon erhielt das FA erst Kenntnis durch die Mitteilung des FA D vom 13. Juni 1975 und durch die beim FA am 4. März 1976 eingegangene Gewerbesteuererklärung des Klägers für das Jahr 1973. Wie das FG zutreffend dargelegt hat, kann eine Tatsache auch dann neu sein, wenn ein Sachverhalt zu beurteilen ist, der aus mehreren Einzeltatsachen besteht, von denen einige dem FA schon früher bekannt waren, andere jedoch erst später bekanntwerden und die Kenntnis sämtlicher Einzeltatsachen den Sachverhalt in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Das gilt insbesondere dann, wenn -- wie hier -- zu beurteilen ist, ob ein Steuerpflichtiger durch den Kauf, die Bebauung und die Veräußerung von Grundstücken gewerblich tätig geworden ist; denn diese Tätigkeit erstreckt sich häufig über einen längeren Zeitraum (vgl. BFH-Urteil vom 7. September 1965 I 69/63 U, BFHE 83, 495, BStBl III 1965, 677).
Im Streitfall kommt jedoch dem Umstand entscheidende Bedeutung zu, daß der ursprüngliche Einkommensteuerbescheid mit dem Einspruch angefochten wurde. Die Bearbeitung des Einspruchs war zwar einer besonderen Dienststelle -- der Rechtsbehelfsstelle -- übertragen worden. Veranlagungsverfahren und Rechtsbehelfsverfahren stehen aber in einem engen sachlichen Zusammenhang. Der Lauf eines Einspruchsverfahrens hindert die Veranlagungsdienststelle nicht, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu erlassen (§ 132 AO 1977). In diesem Falle tritt der Änderungsbescheid automatisch an die Stelle des angefochtenen Bescheids, sofern er dem Einspruchsantrag nicht voll entspricht (BFH-Urteile vom 4. Februar 1976 I R 203/73, BFHE 119, 168, BStBl II 1976, 551, und vom 19. Januar 1977 I R 89/74, BFHE 121, 421, BStBl II 1977, 517). Unterbleibt der Erlaß eines Änderungsbescheids, so muß die zur Entscheidung über den Einspruch berufene Dienststelle die Sache in vollem Umfang erneut prüfen. Sie kann den Verwaltungsakt auch zum Nachteil dessen, der den Einspruch eingelegt hat, ändern, wenn der Einspruchsführer auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern (§ 367 Abs. 2 AO 1977). Kommt das FA dieser Hinweispflicht nach und nimmt daraufhin der Einspruchsführer seinen Einspruch zurück, so ist wiederum die Veranlagungsdienststelle frei, nach Erlaß des ursprünglichen Bescheids bekanntgewordene Tatsachen in einem Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu verwerten. Dieses Recht steht der Veranlagungsdienststelle aber nicht mehr zu, wenn die Rechtsbehelfsstelle über den Einspruch sachlich entschieden hat und dabei ihrer Pflicht, auf den Einspruch hin die Sache erneut in vollem Umfang zu prüfen, nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist. Die Rechtsbehelfsstelle muß sich durch Nachforschungen bei der Veranlagungsdienststelle -- erforderlichenfalls durch Anforderung der in Betracht kommenden Veranlagungsakten -- die Kenntnis verschaffen, über die bereits die Veranlagungsdienststelle verfügt. Insbesondere muß sich die Rechtsbehelfsstelle -- wenn sie über den An- und Verkauf eines Grundstücks unter dem Gesichtspunkt des Spekulationsgewinnes ermittelt -- Einblick in diejenigen Vorgänge verschaffen, die darüber Aufschluß geben können, ob sich der Steuerpflichtige mit dem An- und Verkauf eines Grundstücks begnügt oder ob er später nicht weitere Grundstücksgeschäfte getätigt hat, welche die Annahme eines gewerblichen Unternehmens nach § 15 Nr. 1 EStG rechtfertigen können. Dazu gehört es mindestens, vom Inhalt der Akten über die Veräußerungsmitteilungen Kenntnis zu nehmen (BFHE 83, 495, BStBl III 1965, 677). Außerdem muß die Rechtsbehelfsstelle erkunden, ob nicht inzwischen Steuererklärungen eingereicht worden sind, aus denen sich Kauf, Bebauung und Veräußerung weiterer Grundstücke ergeben können.
Derartige Ermittlungen hat die Rechtsbehelfsstelle des FA im vorliegenden Fall unterlassen. Wäre sie ihrer Prüfungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen, so hätte sie bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch am 23. Juli 1976 von der Veräußerung des Grundstücks B sowie vom Verkauf der Eigentumswohnungen Y-Straße gewußt. Diese Feststellungen hätten ihr Anlaß geben müssen, den Steuerpflichtigen auf die Möglichkeit der Verböserung im Hinblick auf § 15 Nr. 1 EStG hinzuweisen und -- falls der Einspruch aufrechterhalten worden wäre -- ihre Kenntnisse in der Einspruchsentscheidung zu verwerten.
Damit werden nicht etwa -- wie das FA meint -- die Anforderungen an einen Austausch von Erfahrungen innerhalb zweier Dienststellen des FA überspannt. Es wird lediglich der Funktionsnähe von Veranlagungsund Rechtsbehelfsverfahren Rechnung getragen. Diese ergibt sich zum einen daraus, daß das Einspruchsverfahren ein verlängertes Veranlagungsverfahren ist in dem Sinne, daß im Einspruchsverfahren die Sache erneut in vollem Umfang geprüft werden muß. Zum anderen bleibt die Veranlagungsdienststelle noch im Rechtsbehelfsverfahren für den Erlaß von Änderungsbescheiden zuständig und kann damit in den Entscheidungsspielraum der Rechtsbehelfsstelle eingreifen. Die organisatorische Trennung der beiden Dienststellen muß angesichts dieser im Gesetz vorgegebenen Zusammenhänge im Interesse der Rechtssicherheit zurücktreten. Veranlagungs- und Einspruchsverfahren sind nicht nur aus der Sicht des betroffenen Steuerpflichtigen eine Einheit, sondern auch nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung.
Fundstellen
BStBl II 1983, 548 |
BFHE 1983, 313 |