Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. haftungsausfüllende Kausalität. psychisches Trauma. Körperschädigung. Selbstmordversuch
Orientierungssatz
1. Eine Selbsttötung kann zwar grundsätzlich als absichtliche Eigenverletzung (§ 553 S 1 RVO) kein Arbeitsunfall sein. Sie kann jedoch als Folge eines betriebsbedingten Ereignisses eine Entschädigungspflicht begründen. Sie ist dann jedoch Unfallfolge und gehört damit nicht zum Unfalltatbestand. Denn es ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht erforderlich, daß der Selbsttötung bzw dem Selbsttötungsversuch ein Arbeitsunfall vorangegangen ist, der zu einer körperlich organisatorischen Gesundheitsstörung geführt hat, die wiederum wesentliche Ursache der Selbsttötung geworden ist. Auch wenn die Selbsttötung ihre Ursache unmittelbar in der versicherten Tätigkeit findet, kann ein Arbeitsunfall vorliegen (vgl BSG vom 18.12.1979 - 2 RU 77/77 = USK 79208; BSG vom 29.2.1984 - 2 RU 35/83 = USK 8455; vgl BSG vom 30.5.1985 - 2 RU 17/84 = BSG SozR 2200 § 548 Nr 71).
2. Ein psychisches Trauma kann ursächlich sein, wenn besondere betriebsbedingte äußere Umstände, zB schwere betriebliche Auseinandersetzungen, bei dem Versicherten zu einem Schock, dh einer schlagartig auftretenden schweren psychischen Erschütterung bzw einer reaktiven Depression mit der Vorstellung bewirken, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden (vgl BSG vom 18.12.1986 - 4a RJ 9/86 = SozR 2200 § 1252 Nr 6 = BSGE 61, 113).
3. Bei der rechtlichen Wertung der seelischen Auswirkungen des Unfalles darf nicht von vornherein darauf abgestellt werden, wie ein "normaler" Versicherter reagiert hätte. Ebenso wie bei körperlichen Auswirkungen eines Unfalles darf auch bei Vorgängen im Bereich des Psychischen und Geistigen nicht unter Anlegung eines generalisierenden Maßstabs darauf abgestellt werden, ob die Auswirkungen des Unfalls auch bei einem durchschnittlichen Menschen erfahrungsgemäß gleiche oder ähnliche Folgen gehabt hätten; vielmehr ist grundsätzlich zu prüfen, welche Folgen die Auswirkungen des Unfalls, dh die seelische Belastung, gerade bei dem betroffenen Menschen infolge der Eigenart seiner Persönlichkeit gehabt hat (vgl BSG vom 24.2.1967 - 2 RU 114/65 = SGb 1967, 542).
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung eines Suizidversuches als Arbeitsunfall.
Der im Jahre 1943 geborene Kläger war Geschäftsführer der H. R. GmbH & Co KG, die sich mit der Herstellung von Nachthemden befaßte, und deren persönlich haftender Gesellschafter die H. R. Beteiligungsgesellschaft mbH war. Gesellschafter der KG und der GmbH waren im übrigen seit dem Tode des Vaters des Klägers nur noch der Kläger und seine Mutter, die in beiden Gesellschaften über die Kapitalmehrheit verfügte. Sie war auch Eigentümerin des Betriebsgebäudes in der H. Straße 17 mit einem Wert von etwa 1,4 Millionen DM sowie der Maschinen. Die KG hatte von der Mutter des Klägers die Betriebsräume gemietet und die Anlagen gepachtet. Die KG erzielte zuletzt einen Jahresumsatz von 1,7 Millionen DM. Sie zahlte dem Kläger ein monatliches Gehalt von 5.000,00 DM netto zzgl der darauf zu entrichtenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Aufgrund der hohen Produktionskosten in Deutschland hatte die KG in den letzten Jahren Verluste erwirtschaftet, die mit Bankkrediten abgedeckt werden mußten. Zur Sicherung dieser Kredite hatte die Mutter des Klägers Hypotheken auf dem Betriebsgebäude bestellt. Diese Schulden betrugen im Herbst 1992 ca 300.000,00 DM. Im Jahr zuvor hatten sie um 100.000,00 DM zugenommen. Die Gesellschafter beschlossen daraufhin am 22. September 1992, den Geschäftsbetrieb der KG zum 31. März 1993 einzustellen, ungeachtet des Umstandes, daß die noch vorhandenen dreizehn Mitarbeiter durch die bestehenden Aufträge ausgelastet waren. Am 25. September 1992 übergab der Kläger den Mitarbeitern jeweils Schreiben, mit denen die Kündigung zum 31. März 1993 ausgesprochen wurde.
Der Kläger führte außerdem die Geschäfte der von ihm gegründeten R. GmbH & Co KG. Er war alleiniger Gesellschafter dieser KG und der R. Verwaltungs-GmbH, die die persönlich haftende Gesellschafterin der KG war. Diese befaßte sich mit einem Großhandel von Nachthemden, die sie in der Türkei einkaufte. Der Kläger war bei der Beklagten bzgl aller vier Gesellschaften als Unternehmer versichert.
Im Herbst 1992 hatte diese KG in der Türkei ca 2.500 Nachthemden zu einem Gesamtpreis von 35.000,00 DM geordert. Mit dem Lieferanten war vereinbart worden, daß er vorab aus der Gesamtlieferung zunächst eine Stichprobe übersenden sollte. Diese einige Tage vor dem 1. Oktober 1992 eingegangene Stichprobe ergab erhebliche qualitative Mängel der Lieferung, die gegen Konnossement bezahlt wurde, so daß die R. GmbH & Co KG den Kaufpreis bereits vor Erhalt der endgültigen Lieferung erbracht hatte. Am 29. und 30. September 1992 nahmen sich einige Mitarbeiter des Klägers frei. Am 1. Oktober 1992 fehlten zwei Näherinnen. Beim Gang durch die Fabrikationsräume am morgen dieses Tages begrüßte der Kläger die anwesenden Mitarbeiter. Bei der Durchsicht der Post fand er zwei Schreiben der Stadtsparkasse Hannover, die die beantragten Kreditlinien der H. R. GmbH & Co erhöht hatte. Ferner traf an diesem Vormittag die Hauptlieferung der 2.500 Nachthemden aus der Türkei ein, die ebenso wie die Stichprobe erhebliche qualitative Mängel aufwies. In seinem Büro bemühte sich der Kläger vergeblich, für einen langjährigen Mitarbeiter ein Zeugnis zu erstellen. Der Kläger begab sich sodann in sein Privatbüro im Betriebsgebäude. Dort verübte er gegen 11.00 Uhr einen Suizidversuch, indem er sich mit einem Messer in die Pulsadern beider Unterarme und der rechten Halsseite schnitt. Der Kläger konnte gerettet werden, erlitt aber einen Kleinhirninfarkt.
Die Beklagte lehnte es ab, das Ereignis vom 1. Oktober 1992 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen, weil nach den eingeholten ärztlichen Stellungnahmen dem Suizidversuch des Klägers eine schwere depressive Reaktion infolge einer länger dauernden Belastungssituation zugrunde gelegen habe und die Ereignisse vom 1. Oktober 1992 nicht als entscheidender Auslöser zu werten seien (Bescheid vom 17. Mai 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 1994).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat nach Einholung eines Gutachtens auf Antrag des Klägers (§ 109 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) von dem Neurologen und Psychiater Dr. K. die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Januar 1997): Der Kläger habe am 1. Oktober 1992 kein betriebsbedingtes psychisches Trauma hinreichender Intensität erlitten. Der Ablauf der Ereignisse an diesem Tag stelle sich vielmehr nur als das Ende einer länger andauernden Entwicklung eines depressiven Syndroms dar. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 25. November 1997): Es lasse sich nicht feststellen, daß der Kläger am 1. Oktober 1992 oder an einem vorausgegangenen Arbeitstag einen Arbeitsunfall erlitten habe. Die Beweisaufnahme habe keine Tatsachen ergeben, aufgrund derer von einem als Arbeitsunfall zu qualifizierenden psychischen Trauma auszugehen sei. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß in einem maximal eine Arbeitsschicht umfassenden Zeitraum besondere den Rahmen alltäglicher Belastungen überschreitende und ihrer Art nach unersetzliche Einwirkungen auf den Versicherten körperlich und/oder psychisch eingewirkt hätten. Selbst wenn von einem wie auch immer zu bestimmenden Unfallereignis am 1. Oktober 1992 oder an einem vorausgegangenen Arbeitstag auszugehen sein sollte, wäre dies jedenfalls in rechtlicher Hinsicht nicht als wesentliche Ursache für den Selbstmordversuch des Klägers anzusehen. Die Vorkommnisse des 1. Oktober 1992 hätten nur vor dem Hintergrund des seit Jahren zu beobachtenden wirtschaftlichen Niedergangs des Unternehmens und den daraus resultierenden psychischen Belastungen den Suizidversuch hervorrufen können. Die während einer Schicht aufgetretenen Einwirkungen hätten sich auch nicht aus der Gesamtheit der Einwirkungen hervorgehoben. Es lasse sich nicht feststellen, daß auf den Kläger am 1. Oktober 1992 bei der Verrichtung der versicherten Tätigkeit stärkere Belastungen einwirkten, als an den vorausgegangenen Arbeitstagen. Ein signifikantes Zeichen für den Suizidversuch am 1. Oktober 1992 sei ebenfalls nicht ersichtlich.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger, das LSG habe die rechtlichen Voraussetzungen der Anerkennung eines Suizidversuches als Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verkannt. Denn es sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, daß ein Arbeitsunfall in Form eines psychischen Traumas nur dann vorliege, wenn objektivierbare, äußere Ereignisse "von größerem Gewicht" vorlägen, die ein psychisches Trauma bedingten; subjektive Vorstellungen des Versicherten reichten hierfür nicht aus. Entgegen der Ansicht des LSG sei auch entscheidend, in welcher Art und Weise die objektivierbaren Vorkommnisse am Schadenstag individuell auf den Versicherten eingewirkt hätten. Bei der Feststellung des psychischen Traumas müsse auf das persönliche Empfinden des Versicherten abgestellt werden. Jeder Mensch reagiere auf bestimmte Ereignisse naturgemäß auch verschieden. Entgegen der Ansicht des LSG sei auch zu berücksichtigen, daß die auf ihn - den Kläger - am Schadenstag einwirkenden Ereignisse kumulierend zusammengewirkt hätten. Dies gelte auch dann, wenn die einzelnen Ereignisse für sich genommen objektiv nicht als derart gravierend einzustufen seien, daß sie für ein psychisches Trauma ausreichten. Berücksichtige man seinen inneren Zustand am Schadenstag, so hätten die verschiedenen Ereignisse in ihrer Gesamtheit das psychische Trauma ausgelöst. Nach seiner Vorstellung habe er sich in einer ausweglosen Situation befunden. Die verschiedenen am 1. Oktober 1992 kumulierenden Ereignisse hätten demnach eine wesentliche Bedingung für den unternommenen Suizidversuch gesetzt. Dies werde durch das Gutachten des Dr. K. bestätigt. Dieses Gutachten habe das LSG nicht hinreichend gewürdigt. Auch die martialische Begehungsweise des Suizidversuches mit einem Schweizer Messer sei ein starkes Indiz für die psychische Ausnahmesituation am Schadenstag. Allein die Art und Weise der Ausführung des Suizidversuchs mache deutlich, daß ihm erst am 1. Oktober 1992 die Ausweglosigkeit seiner Situation bewußt geworden sei.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 28. Januar 1997 und das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. November 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 1994 aufzuheben;
2. festzustellen, daß der Suizidversuch vom 1. Oktober 1992 einen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO dargestellt hat und
3. die Beklagte dem Grunde nach zur Entschädigung des Ereignisses vom 1. Oktober 1992 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 1. Oktober 1992 als Arbeitsunfall sowie auf Entschädigung wegen dieses Ereignisses aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil der von ihm geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ≪UVEG≫, § 212 SGB VII).
Der Kläger hat am 1. Oktober 1992 keinen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet. Nach den Feststellungen des LSG hat die Beklagte den Kläger bzgl seiner Tätigkeit für die H. R. GmbH & Co KG, der H. R. Beteiligungsgesellschaft mbH & Co KG, der R. GmbH & Co KG sowie der R. Verwaltungsgesellschaft mbH jeweils als Unternehmer gegen Arbeitsunfall versichert. Da das Recht, sich freiwillig gegen Arbeitsunfälle zu versichern, für Personen, die in Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie ein Unternehmer selbständig tätig sind, durch die Neufassung des § 545 Abs 1 Satz 1 RVO (Art 8 Nr 2 Renten-Überleitungsgesetz ≪RÜG≫ vom 25. Juli 1991 - BGBl I 1606 -) mit Wirkung ab dem 1. Januar 1992 (Art 42 Abs 1 RÜG) eingeräumt worden war, ist es für den Umfang des Versicherungsschutzes des Klägers ohne Bedeutung, ob er am 1. Oktober 1992 als Unternehmer oder als in der Gesellschaft unternehmerähnlich selbständig Tätiger unter Versicherungsschutz stand. Der Kläger stand somit gemäß § 545 RVO unter Unfallversicherungsschutz.
Es steht nicht fest, für welche der Gesellschaften der Kläger am 1. Oktober 1992 tätig geworden ist, ob die Verrichtungen des Klägers an diesem Tag allen Unternehmen zu dienen bestimmt waren, für die er zuständig war, oder ob seine Tätigkeit jeweils nur für ein bestimmtes Unternehmen bestimmt war. Für den Versicherungsschutz wäre die Feststellung erforderlich, welchem Unternehmen die Verrichtungen des Klägers am 1. Oktober 1992 jeweils dienten. Dies kann hier jedoch dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, daß seine Tätigkeiten am 1. Oktober 1992 nur einem der in Betracht kommenden Unternehmen wesentlich gedient haben und der Kläger dabei unter Unfallversicherungsschutz stand, fehlt es an der Voraussetzung, daß er am 1. Oktober 1992 einen Arbeitsunfall erlitten hat, auf den der Suizidversuch rechtlich wesentlich zurückgeführt werden könnte.
Der Begriff des Unfalls ist in der RVO nicht bestimmt. Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem und im wesentlichen einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis (s ua BSGE 23, 139, 141 = SozR Nr 1 zu § 555 RVO; BSGE 46, 283 = SozR 2200 § 530 Nr 47; BSG SozR 2200 § 548 Nr 56; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 8 Nr 7; Schulin, HS-UV, § 28 RdNr 1, jeweils mwN; KassKomm-Ricke § 548 RVO RdNr 5). Soweit daneben zum Teil auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist (s BSG SozR aaO; Brackmann/Krasney, aaO, § 8 RdNr 10; Schulin, aaO, § 28 RdNr 5). Wesentlich für den Begriff des Unfalls sind hiernach ein ("äußeres") Ereignis als Ursache und eine Körperschädigung als Wirkung. Die Körperschädigung kann verursacht sein durch körperlich gegenständliche Einwirkungen (zB Verletzung beim Aufschlag nach Sturz), aber auch durch geistig-seelische Einwirkungen in einem eng begrenzten Zeitraum (BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO aF; KassKomm-Ricke, aaO, RdNr 6; s auch BSGE 61, 113, 116 = SozR 2200 § 1252 Nr 6). Damit sind den körperlichen Schäden die im Bereich der Psyche und des Geistigen gleichgestellt.
Eine Selbsttötung kann zwar grundsätzlich als absichtliche Eigenverletzung (§ 553 Satz 1 RVO) kein Arbeitsunfall sein. Sie kann jedoch als Folge eines betriebsbedingten Ereignisses eine Entschädigungspflicht begründen. Sie ist dann jedoch Unfallfolge und gehört damit nicht zum Unfalltatbestand (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 479c; KassKomm-Ricke, aaO, RdNr 6, 17). Denn es ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht erforderlich, daß der Selbsttötung bzw dem Selbsttötungsversuch ein Arbeitsunfall vorangegangen ist, der zu einer körperlich organischen Gesundheitsstörung geführt hat, die wiederum wesentliche Ursache der Selbsttötung geworden ist. Auch wenn die Selbsttötung ihre Ursache unmittelbar in der versicherten Tätigkeit findet, kann ein Arbeitsunfall vorliegen (BSG Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - USK 79208; Urteil vom 29. Februar 1984 - 2 RU 35/83 - USK 8455; BSG SozR 2200 § 548 Nr 71; Krasney, VSSR 1993, 81, 93; Benz, WzS 1987, 161, 169).
Die Definition des Unfalls enthält als wesentliches Merkmal das der zeitlichen Begrenzung. Es dient der Abgrenzung des Unfalls von der Krankheit. Danach erfüllt eine schädigende, auch psychische Einwirkung nur dann den Tatbestand eines Unfalles, wenn sie innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes, höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht geschehen ist (BSG SozR 2200 § 548 Nr 71; Brackmann, aaO, S 479 f; Brackmann/Krasney, aaO, § 8 RdNrn 14 bis 15; KassKomm-Ricke, § 548 RVO RdNr 8). Die Gesamtheit mehrerer, auf einen längeren Zeitraum verteilter Gewalteinwirkungen ist kein Unfall im rechtlichen Sinne. Schäden durch wiederholte, auf mehrere Arbeitsschichten verteilte Gewalteinwirkungen sind nur dann als Folge eines Unfalls anzusehen, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, daß sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint. Andererseits ist sie nur Gelegenheit für die Vollendung, aber nicht eine wesentliche Teilursache des Erfolges (vgl Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 RVO Anm 3; Brackmann, aaO, S 479h; Brackmann/Krasney, aaO, RdNr 15).
Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze nicht davon auszugehen, daß spezielle berufsbedingte Umstände/Einwirkungen am 1. Oktober 1992 beim Kläger ein psychisches Trauma ausgelöst haben, in dessen Folge er den Selbsttötungsversuch unternahm. Ein derartiges Trauma kann ursächlich sein, wenn besondere betriebsbedingte äußere Umstände, zB schwere betriebliche Auseinandersetzungen, bei dem Versicherten zu einem Schock, dh einer schlagartig auftretenden schweren psychischen Erschütterung bzw einer reaktiven Depression mit der Vorstellung bewirken, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Aufl, S 257 mwN; BSGE 61, 113, 116 = SozR 2200 § 1252 Nr 6).
Bei der rechtlichen Wertung der seelischen Auswirkungen des Unfalles darf nicht von vornherein darauf abgestellt werden, wie ein "normaler" Versicherter reagiert hätte. Ebenso wie bei körperlichen Auswirkungen eines Unfalles darf auch bei Vorgängen im Bereich des Psychischen und Geistigen nicht unter Anlegung eines generalisierenden Maßstabs darauf abgestellt werden, ob die Auswirkungen des Unfalls auch bei einem durchschnittlichen Menschen erfahrungsgemäß gleiche oder ähnliche Folgen gehabt hätten; vielmehr ist grundsätzlich zu prüfen, welche Folgen die Auswirkungen des Unfalls, dh die seelische Belastung, gerade bei dem betroffenen Menschen infolge der Eigenart seiner Persönlichkeit gehabt hat (BSG Urteil vom 24. Februar 1967 - 2 RU 114/65 - SGb 1967, 542, 543; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 255).
Nach den Feststellungen des LSG aufgrund der Beweisaufnahme ist hier nicht davon auszugehen, daß spezielle berufsbedingte Einwirkungen gerade am 1. Oktober 1992 beim Kläger ein psychisches Trauma ausgelöst haben, in dessen Folge er den Selbsttötungsversuch unternahm. Dieser stellt vielmehr nur das Ende einer länger andauernden Entwicklung eines depressiven Syndroms mit nachfolgendem Suizidversuch dar. Dazu hat das LSG festgestellt, daß ein Unfall in Form eines psychischen Traumas am 1. Oktober 1992 insbesondere nicht darin gesehen werden kann, daß der Kläger beim morgendlichen Rundgang am 1. Oktober 1992 die Begrüßung seiner Mitarbeiter als "sehr frostig" oder gar als "sehr feindselig" empfunden und daraufhin ein Gefühl der "Eiseskälte" erfahren haben will. Diese geltend gemachten subjektiven Eindrücke entsprachen nicht den objektiven Gegebenheiten. Vielmehr haben nach den Feststellungen des LSG nach dem Beweisergebnis alle Mitarbeiter den Kläger bei seinem Rundgang am 1. Oktober 1992, wie üblich, in angemessener und respektvoller Art begrüßt. Im übrigen mußte der Kläger seit der Aussprache der Kündigungen am 25. September 1992 mit einer verschlechterten Atmosphäre im Betrieb rechnen.
Ebensowenig kann die Bewilligung eines - vom Kläger selbst zuvor beantragten - Kredits durch die Sparkasse und das Fehlen zweier Mitarbeiterinnen als den Rahmen des alltäglichen überschreitende gravierende Ereignisse gewertet werden. Zum einen hatte die Bewilligung des Kreditrahmens durch die Sparkasse für den Kläger einen positiven Inhalt. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß der Kläger persönlich für den bewilligten Kredit nicht haften würde und daß das Vermögen seiner Mutter, insbesondere aufgrund des ihr gehörenden Betriebsgebäudes die Haftungssumme um ein Mehrfaches überstieg. Soweit im übrigen dem Kläger durch die Erweiterung des Kreditrahmens klar wurde, in seiner wirtschaftlichen Existenz gescheitert zu sein, hatte es sich nicht um eine schlagartige Erkenntnis am 1. Oktober 1992 gehandelt, sondern um eine Bestätigung des Gesellschafterbeschlusses vom 22. September 1992 über die Einstellung des Geschäftsbetriebes der H. R. GmbH & Co KG.
Auch das vergebliche Bemühen des Klägers am 1. Oktober 1992, für den Buchhalter ein Zeugnis zu schreiben, kann nicht als belastende zum Unfall führende Tätigkeit gewertet werden. Da der Buchhalter, nach den Feststellungen des LSG, sich jahrzehntelang durch gute Leistungen ausgezeichnet hatte, hätte die Erstellung des Zeugnisses für den Kläger keine Schwierigkeiten mit sich gebracht, zumal er langjährig in leitender Stellung im Unternehmen und mit der Erstellung von Zeugnissen vertraut war.
Auch die Entgegennahme der Lieferung der Nachthemden aus der Türkei am 1. Oktober 1992 war für den Kläger nicht mit außergewöhnlichen Belastungen verbunden. Die Lieferung der Ware war für den Kläger nicht wertlos, sondern nur durch Qualitätsmängel im Wert gemindert. Im Hinblick auf das Gesamtgeschäftsvolumen der Firma R. GmbH & Co KG von 1,7 Millionen DM können die Qualitätsmängel der Lieferung über 35.000,00 DM nur von unerheblicher Bedeutung sein. Gelegentliche wirtschaftliche Mißerfolge sind jeder geschäftlichen Tätigkeit immanent. Dies gilt um so mehr, wenn ein Kaufmann branchenüblich sich mit Geschäften befaßt, bei denen er bereits vor Erhalt der Ware den gesamten Kaufpreis entrichten muß, ohne im Falle von Qualitätsmängeln der Kaufsache wirtschaftlich durchsetzbare Regreßansprüche gegenüber dem Lieferanten zu haben.
Die Ereignisse des 1. Oktober 1992 sind nach Ansicht des LSG nur vor dem Hintergrund des seit Jahren zu beobachtenden wirtschaftlichen Niedergangs der Unternehmen und der sich daraus ergebenden psychischen Belastungen des Klägers zu sehen. Nach den Feststellungen des LSG geht auch Dr. K. in seinem Gutachten davon aus, daß die Belastungen der vorausgegangenen Monate bereits vor dem 1. Oktober 1992 zu depressiven Verstimmungszuständen beim Kläger geführt hätten. Damit gehen die mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Unternehmen verbundenen psychischen Einwirkungen über mehrere Arbeitsschichten hinaus. Es hat sich auch keine der einzelnen Einwirkungen aus der Gesamtheit derart hervorgehoben, daß sie nicht nur als die letzte von mehreren, für den Erfolg gleichwertigen erscheint. Sie können daher nicht als Unfallereignis iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO berücksichtigt werden.
Soweit das LSG zu diesem Ergebnis gelangt ist, hat es die Grenzen seiner ihm obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten. Wenn demgegenüber die Revision meint, entgegen der Ansicht des LSG sei zu berücksichtigen, daß die auf den Kläger am 1. Oktober 1992 einwirkenden Ereignisse kumulierend gewirkt hätten und dies auch dann gelte, wenn die einzelnen Ereignisse für sich genommen objektiv nicht als derart einzustufen seien, daß sie für ein psychisches Trauma ausreichten, übersieht sie, daß die Beweiswürdigung grundsätzlich im Ermessen des Tatsachengerichts steht und daß das Revisionsgericht nur prüfen kann, ob das Tatsachengericht bei seiner Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen sowie ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (BSG, Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 RU 3/93 - HVBG-INFO 1994, 943 = USK 9422; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, III RdNr 162 ff sowie IX RdNr 286). Ein derartiger Verstoß ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht erkennbar. Die Revision setzt vielmehr im Kern ihre Beweiswürdigung an die Stelle des LSG und bezeichnet die eigene Würdigung im Vergleich zu der des Tatsachengerichts als die richtige (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 31). Dem Revisionsgericht ist nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN).
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 542830 |
FA 1999, 276 |