Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. sachlicher Zusammenhang. Handlungstendenz. Mittagspause. Mittagessen in der Wohnung der Freundin. Zeitdauer des Weges in Relation zur verbleibenden Essenszeit
Orientierungssatz
1. Das Zurücklegen eines Weges durch einen in Vollzeit Beschäftigten in der betrieblichen Mittagspause mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel für die Mittagsmahlzeit zu besorgen oder dort (hier: Wohnung der Freundin) das Mittagessen einzunehmen, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten, ist gem § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7 unfallversicherungsrechtlich geschützt.
2. Bei einer Fahrzeit von 18 Minuten und einer für die Essenseinnahme zur Verfügung stehenden Zeit von zwölf Minuten führt jedenfalls ein Verhältnis von drei Fünftel (Fahrzeit) zu zwei Fünftel (Essenseinnahme) nicht zwingend dazu, dass die durch die Beschäftigung bedingte und den sachlichen Zusammenhang begründende Handlungstendenz in den Hintergrund tritt.
Normenkette
SGB 7 § 8 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.
Der 1976 geborene Kläger war als Steinmetzgehilfe bei der Firma (Fa) B. GmbH in O. beschäftigt. Am 7. April 2005 trat er gegen 12:05 Uhr die 30-minütige betriebliche Mittagspause an und fuhr mit seinem Motorrad vom Betriebsgelände, auf dem er auch wohnte, auf die die Bundesstraße (B) 256, um sich nach Oberlahr zu seiner damaligen Freundin zu begeben. Auf dem Weg dorthin kollidierte er mit einem entgegenkommenden Kraftfahrzeug (Kfz) und zog sich Verletzungen an seiner linken Hand und am linken Bein zu. Für die einfache Strecke benötigte der Kläger mit dem Motorrad üblicherweise etwa neun Minuten. Nachdem der Kläger der Beklagten mitgeteilt hatte, er habe trotz der knappen Zeit dorthin fahren wollen, um bei seiner Freundin das Mittagessen einzunehmen, und ihm sei jede Minute mit ihr lieber gewesen als mit seinen Arbeitskollegen, stellte die Beklagte fest, das Ereignis vom 7. April 2005 sei kein Arbeitsunfall und Entschädigungsleistungen seien nicht zu gewähren. Es habe sich nicht um einen versicherungsrechtlich geschützten Weg zur Nahrungsaufnahme gehandelt. Im Vordergrund habe die Motivation gestanden, die Mittagspause in der Gesellschaft der Freundin zu verbringen (Bescheid vom 12. September 2005; Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2006).
Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, den Unfall des Klägers vom 7. April 2005 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen (Urteil vom 4. Dezember 2008). Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Begründung zurückgewiesen, der Kläger habe sich auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) versicherten Weg befunden (Urteil vom 10. August 2009). Die Essenseinnahme sei wesentlich mitursächlich für den unternommenen Weg gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, ein iS von § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII während der Arbeitszeit unternommener Weg sei nach der Entscheidung des BSG vom 26. April 1977 (8 RU 76/76 - SozR 2200 § 550 Nr 28) nur dann versichert, wenn die Zeit für die Erholung einschließlich Essenseinnahme den überwiegenden Teil der zur Verfügung stehenden Pause in Anspruch nehme. Die Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit diene der Erholung und Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Nur wenn diese zwei betriebsbezogenen Merkmale zusammentreffen würden, bestünde ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem zur Nahrungsaufnahme zurückgelegten Weg und der betrieblichen Tätigkeit. Dem Zweck einer Pause zur Regeneration der Kräfte würde es widersprechen, wenn die zurückgelegten Wege den überwiegenden Teil der Pause in Anspruch nehmen würden, so dass zur Erholung einschließlich der Essenseinnahme nur noch der geringere Teil der Pause zur Verfügung stünde. So habe auch das BSG im Urteil vom 11. Mai 1995 (2 RU 30/94 - NJW 1995, 2942 f) ausgeführt, dass es für ein eigenwirtschaftliches Handlungsziel spreche, wenn die zurückgelegte Wegstrecke gemessen am Handlungsziel unverhältnismäßig weit oder anstrengend sei. Dann könne die Handlungstendenz der Nahrungsaufnahme eher als unwesentlich in den Hintergrund treten.
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Die Beklagte beantragt, |
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unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. August 2009 und des Sozialgerichts Koblenz vom 4. Dezember 2008 die Klage abzuweisen. |
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Der Kläger beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, soweit das LSG die Berufung der Beklagten hinsichtlich deren Verurteilung durch das SG, die Beklagte zu verpflichten, den Arbeitsunfall vom 7. April 2005 als Versicherungsfall anzuerkennen, sowie zu entschädigen, zurückgewiesen hat. Im Übrigen ist die Revision unbegründet. Denn entsprechend dem Begehren des Klägers ist das Ereignis vom 7. April 2005 als Arbeitsunfall festzustellen.
1. Soweit das SG, auf den Antrag des Klägers hin, die Beklagte verurteilt hat, seinen Unfall vom 7. April 2005 zu entschädigen, handelt es sich um ein unzulässig unbestimmtes unechtes Grundurteil ohne einen bezüglich der "Entschädigung" vollstreckungsfähigen Inhalt (BSG vom 2. Dezember 2008 - B 2 U 17/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 28 RdNr 8 mwN). In diesem Umfang ist die Revision begründet.
Ebenfalls aufzuheben ist der durch die Zurückweisung der Berufung der Beklagten bestätigte Verpflichtungsausspruch des SG ihr gegenüber, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen. Denn der Kläger hat vor dem BSG klarstellend erklärt, dass er nur die Feststellung des Versicherungsfalls begehre. Die grundsätzliche prozessrechtliche Nachrangigkeit der Feststellungsklage steht der Zulässigkeit der mit der Anfechtungsklage verbundenen Feststellungsklage nach ständiger Rechtsprechung des 2. Senats des BSG in Fällen der vorliegenden Art nicht entgegen (BSG SozR 4-2700 § 2 Nr 3 RdNr 4, SozR 4-2700 § 8 Nr 25 RdNr 8). Begehrt der Versicherte nämlich allein die von dem Unfallversicherungsträger abgelehnte Feststellung des Vorliegens eines Versicherungsfalls, kann er durch die Verbindung einer Anfechtungs- mit einer Feststellungsklage unmittelbar eine rechtskräftige, von der Verwaltung nicht mehr beeinflussbare Feststellung erlangen. Damit wird in diesen Fällen sein Begehren jedenfalls genauso wirksam durchgesetzt wie mit einer (die Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsakts umfassenden) Verpflichtungsklage, so dass die Klageart in solchen Fällen von dem Begehren des Klägers abhängt, ob er eine behördliche oder unmittelbar eine gerichtliche Feststellung des Versicherungsfalls erstrebt.
2. Im Übrigen ist die Revision nicht begründet. Denn das Ereignis vom 7. April 2005 ist ein Arbeitsunfall.
Nach § 8 Abs 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis (dem Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, jeweils RdNr 10 mwN; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 30 mwN). Diese Voraussetzungen sind nach den für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt.
Der Kläger war zur Zeit des Unfallereignisses als Steinmetzgehilfe Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII. Er hat am 7. April 2005 bei dem Zusammenstoß als Motorradfahrer mit einem Kfz, der zu Verletzungen an seiner linken Hand und am linken Bein führte, auch einen Unfall erlitten.
Die Verrichtung des Klägers zur Zeit des Unfalls - die Fahrt zur Freundin zum Mittagessen - stand auch im sachlichen Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit. Zwar war die Fahrt keine Verrichtung im Rahmen des dem Beschäftigungsverhältnis zu Grunde liegenden Arbeitsverhältnisses und damit keine versicherte Tätigkeit iS des § 8 Abs 1 SGB VII. In eng begrenzten Ausnahmefällen wurde dies zwar angenommen, sofern betriebliche Interessen bzw Umstände die Essenseinnahme wesentlich beeinflussten (vgl BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 11 S 48 f mwN). Eine solche Fallgestaltung ist vorliegend schon deshalb nicht gegeben, weil deren besondere Voraussetzungen nicht festgestellt sind, der Kläger die Fahrt vielmehr in der für die Essenseinnahme vorgesehenen betrieblichen Mittagspause unternahm.
Die Fahrt des Klägers als Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses war jedoch eine versicherte Tätigkeit iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Danach sind versicherte Tätigkeit auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Wie schon in der Vorgängervorschrift des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist in § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII als End- bzw Ausgangspunkt des Weges nur der Ort der Tätigkeit festgelegt. Wo der Weg nach dem Ort der Tätigkeit beginnt und wo der Weg von dem Ort der Tätigkeit endet, ist nicht umschrieben. Auch regelt die Norm nicht, ob der Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit - etwa in Bezug auf § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII hinsichtlich einer zusammenhängenden Arbeitszeit (Arbeitsschicht) - jeweils nur einmal oder mehrmals täglich zurückgelegt werden kann (vgl dazu BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 23). Begründet wird der Versicherungsschutz auf dem Weg nach und von dem Ort der versicherten Tätigkeit damit, dass diese Wege nicht aus privaten Interessen, sondern wegen der versicherten Tätigkeit, also mit einer auf die versicherte Tätigkeit bezogenen Handlungstendenz unternommen werden (vgl BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 28 RdNr 13; BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr 29 RdNr 21).
Das Zurücklegen eines Weges durch einen in Vollzeit Beschäftigten in der betrieblichen Mittagspause mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel für die Mittagsmahlzeit zu besorgen oder, wie vorliegend, dort das Mittagessen einzunehmen, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten, ist bereits nach Einführung des (damaligen) § 545a RVO durch das Zweite Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl I 97) in einer Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 18. Oktober 1927 (EuM 21, 281 f) als eine solche regelmäßig unaufschiebbare, notwendige Handlung angesehen worden, die geeignet ist, die Arbeitskraft des Versicherten zu erhalten und ihm damit zu ermöglichen, die betriebliche Tätigkeit fortzusetzen. Diese Auffassung ist in ständiger Rechtsprechung beibehalten worden (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 15 S 55 mwN). Daran hält der Senat fest.
Aus dem Umstand, dass der Kläger auf dem Betriebsgelände wohnte, folgt nichts Anderes. Der zum Ort der Essenseinnahme zurückzulegende Weg ist nicht mit demjenigen von der Wohnung zur versicherten Tätigkeit zu vergleichen, weil § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII den Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit nicht privilegiert (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 28 S 68). Davon abgesehen hat das BSG diesem Merkmal in der genannten Entscheidung ohnehin für die Konstellation eine untergeordnete Bedeutung beigemessen, dass der Versicherte ein danach unverhältnismäßig weit entfernt liegendes Ziel mit einem Kfz zu erreichen versucht und deswegen hierfür nur eine relativ kurze Zeit aufbringen muss. Dies gilt auch vorliegend, da der Kläger die Wohnung seiner damaligen Freundin mit dem Motorrad in etwa neun Minuten erreichen konnte.
Dass mit der Essenseinnahme am 7. April 2005 auch ein Besuch der Freundin und damit das Verbringen der Zeit mit ihr verbunden sein sollte, führt vorliegend nicht dazu, dass die Wesentlichkeit der durch die Beschäftigung bedingten Motivation "Mittagessen" zu verneinen ist (vgl BSG, Urteil vom 12. Mai 2009 - B 2 U 12/09 R -SozR 4-2700 § 8 Nr 33 RdNr 16). Dazu hat das LSG festgestellt, dass der Kläger nur zu seiner Freundin gefahren sei, wenn diese vorgekocht habe, und dass der wesentliche Grund für den Weg das Einnehmen des Mittagessens gewesen sei.
Dem sachlichen Zusammenhang steht auch nicht die Zeitdauer des Weges von zweimal neun Minuten im Verhältnis zur verbleibenden Essenszeit von zwölf Minuten entgegen. Bei seiner Erwägung, für Wege, die den überwiegenden Teil der Pause in Anspruch nehmen, den Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit nicht mehr als wesentlich zu erachten, stellte der 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 26. April 1977 (8 RU 76/76 - SozR 2200 § 550 Nr 28 S 68) auf den Zweck der Pause ab. Der Begriff der Ruhepause findet sich mittlerweile im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6. Juni 1994 (BGBl I 1170), das aber in § 4 Satz 1 ArbZG den Begriff voraus. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sind Ruhepausen im Sinne des Arbeitszeitrechts Unterbrechungen der Arbeitszeit von bestimmter Dauer, die der Erholung dienen, in denen der Arbeitnehmer weder Arbeit zu leisten noch sich dafür bereitzuhalten hat und frei darüber entscheiden kann, wo und wie er diese Zeit verbringen will. Entscheidendes Merkmal der Ruhepause ist, dass der Arbeitnehmer von jeder Arbeitsverpflichtung und auch von jeder Verpflichtung, sich zur Arbeit bereitzuhalten, freigestellt ist (BAGE 103, 197, 201 mwN). Der Bundesgesetzgeber hat sich demzufolge dafür entschieden, die mit dem ArbZG verbundenen Zwecke allein dadurch zu erreichen, dass die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebende Hauptpflicht des Arbeitnehmers für die Zeit der Ruhepause suspendiert wird; dem Arbeitnehmer werden hingegen keine Vorgaben gemacht, durch bestimmte Verhaltensweisen hierbei mitzuwirken.
Bei einer Fahrzeit von 18 Minuten und einer für die Essenseinnahme zur Verfügung stehenden Zeit von zwölf Minuten führt jedenfalls ein Verhältnis von drei Fünftel (Fahrzeit) zu zwei Fünftel (Essenseinnahme) nicht zwingend dazu, dass die durch die Beschäftigung bedingte und den sachlichen Zusammenhang begründende Handlungstendenz in den Hintergrund tritt.
Die Kostenentscheidung beurteilt sich nach den §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2347465 |
DB 2010, 18 |
DStR 2010, 1794 |
SGb 2010, 414 |
AUR 2010, 274 |
RdW 2010, 576 |
FuBW 2010, 966 |