Entscheidungsstichwort (Thema)
Ungekürzte Eintragung eines Freibetrages auf der Lohnsteuerkarte (Pendlerpauschale für die ersten 20 km)
Leitsatz (redaktionell)
- Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die Neuregelung der sog. Pendlerpauschale und die Nichtberücksichtigung von Wegekosten für die ersten 20 km der Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte verfassungsgemäß sind.
- Die Eintragung eines Freibetrages auf der Lohnsteuerkarte ist im Wege der Aussetzung der Vollziehung auch für die Aufwendungen der ersten 20 km zu bewilligen.
- Bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Rechtsnorm kann Rechtsschutz im Wege der Aussetzung der Vollziehung bewilligt werden, es sei denn, schwerwiegende öffentliche Interessen stehen dagegen.
- Die Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes ist nur dann anzunehmen, wenn Gemeinwohlbelange des Staates (etwa drohende staatliche Haushaltsnotlage) berührt sind. Das öffentliche Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltsführung erfordert nicht, dass der Staat ausschließlich von Lohnbeziehern Vorauszahlungen auf eine mit großer Wahrscheinlichkeit nicht entstehende Einkommensteuerschuld erhebt.
Normenkette
EStG § 9 Abs. 2; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Streitjahr(e)
2007
Tatbestand
Im Hauptsacheverfahren, das unter dem Az. 7 K ...../06 beim erkennenden Senat anhängig ist, streiten die Beteiligten darüber, ob bei der Ermittlung der Fahrtkosten des Antragstellers (Ast.) zwischen Wohnung und Arbeitsstätte die tatsächliche Entfernung von 61 km zugrundezulegen ist oder ob – so der Antragsgegner (Ag.) – die ab dem Veranlagungszeitraum 2007 geänderte Kürzung der so genannten „Pendlerpauschale” eingreift, so dass die ersten 20 km der Entfernung nicht zu berücksichtigen sind, also steuerlich nur 41 km anerkannt werden können.
Die Ast. sind Eheleute und beziehen Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit. Die Entfernung zwischen dem Wohnort und der Arbeitsstätte des Ast. beträgt 61 km. In ihrem Antrag auf Lohnsteuerermäßigung 2007 beantragten die Ast., die Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte unter Ansatz der tatsächlichen Entfernung als Werbungskosten im Wege des Freibetrages zu berücksichtigen. Der Ag. folgte dem nicht, sondern kürzte die zu berücksichtigende Entfernung um die ersten 20 km, wie dies nach der Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG ab 2007 vorgesehen ist.
Den gegen den – insoweit ablehnenden – Bescheid über die Lohnsteuerermäßigung 2007 eingelegten Einspruch wies der Ag. zurück. Dagegen haben die Ast. Klage erhoben. Sie halten die Neuregelung des steuerlichen Abzugs von Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für verfassungswidrig.
Den Antrag der Ast., den beantragten Freibetrag im Wege vorläufigen Rechtsschutzes (Aussetzung der Vollziehung) in voller Höhe einzutragen, lehnte der Ag. ab.
Die Ast. haben daraufhin beim FG einen Aussetzungsantrag gestellt.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
im Wege der Aussetzung der Vollziehung des Bescheids über die Lohnsteuerermäßigung 2007 auf der Lohnsteuerkarte des Ast. einen Freibetrag einzutragen, bei dessen Berechnung die gesamte Entfernung zugrunde gelegt wird.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er verweist auf die ab dem Veranlagungszeitraum geltende Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19. Juli 2006 (BGBl I S. 1652).
Entscheidungsgründe
Der Antrag hat Erfolg.
I. Die Aussetzung der Vollziehung soll gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz FGO erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
a) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung von Tatsachen bewirken (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BStBl II 1984, 454 und vom 30. Dezember 1996 I B 61/96, BStBl II 1997, 466).
Solche Umstände sind im vorliegenden Fall gegeben.
1. Der Antrag, den begehrten Freibetrag vorläufig auf der Lohnsteuerkarte einzutragen, war – zumal mit der Aussetzung der Vollziehung das Ergebnis der Hauptsache nicht vorweggenommen wird (BFH-Beschluss vom 24. Februar 1987 IX B 106/86, BFHE 148, 533, BStBl II 1987, 344) – statthaft. Nicht nur bei teilweiser Ablehnung der Eintragung eines Freibetrages auf der Lohnsteuerkarte ist vorläufiger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung zu gewähren (BFH-Beschluss in BFHE 148, 533, BStBl II 1987, 344; s. auch Beschluss vom 27. März 1991 I B 187/90, BFHE 164, 173, BStBl II 19...