Konflikt mit dem Unionsrecht
Mit dem Urteil vom 11.9.2017 entschied der EuGH, dass die Rechtfertigungsnorm des § 9 AGG es Tendenzbetrieben zu leicht macht, aufgrund der Religion zu diskriminieren.
Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung
§ 9 Abs. 1 AGG: "Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften […] auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft […] im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht [Alt. 1] oder nach der Art der Tätigkeit [Alt. 2] eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt."
Alt. 1: Dem Wortlaut nach erlaubt § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG die Ungleichbehandlung aufgrund der Religion durch eine Religionsgemeinschaft, wenn die Ungleichbehandlung in Einklang mit deren Selbstverständnis steht. Für den EuGH bestand das Problem hierin, dass dadurch Tendenzbetriebe grundsätzlich Menschen nicht einstellen dürfen, wenn sie nicht der Religion des Tendenzbetriebs angehören. Ebenso erlaubt es die Norm ihrem Wortlaut nach, Mitarbeitern zu kündigen, wenn diese ihre Religion wechseln.
Alt. 2: Die zweite Rechtfertigungsmöglichkeit des § 9 Abs. 1 AGG ist auf Tätigkeiten beschränkt. Generell gesprochen erlaubt § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG im Einzelfall die Ungleichbehandlung wegen der Religion, wenn die Tätigkeit für den Tendenzbetrieb repräsentativ ist. Der EuGH entschied bezüglich dieser Variante, dass es mit dem Recht auf Diskriminierungsfreiheit des Arbeitnehmers nicht vereinbar ist, wenn einzelne Tätigkeiten generell exklusiv für Religionsmitglieder sind. Dabei ist es nicht per se unzulässig, wenn Tendenzbetriebe eine bestimmte Stelle nur an Religionsmitglieder vergeben, das müssen diese allerdings gut begründen. Es reicht nicht, pauschal darauf zu verweisen, dass die betreffende Tätigkeit repräsentativ ist für den Tendenzbetrieb. Der Tendenzbetrieb muss konkret darlegen, wie sich die Repräsentativität ergibt und darlegen, weshalb nur Religionsmitglieder die Stelle annehmen können, da ansonsten die religiöse Identität des Betriebs gefährdet würde.
Als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH haben die deutschen Arbeitsgerichte entschieden, dass sie § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG nicht unionsrechtskonform auslegen können und daher nicht anwenden. Unionsrechtskonform auslegen lässt sich hingegen § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG. Im Ergebnis haben Tendenzbetriebe weniger Spielraum, wenn es darum geht, einzelne Tätigkeiten exklusiv für Religionsmitglieder zu halten.
Anforderung der Religionszugehörigkeit: wesentlich, rechtmäßig und angemessen?
Mit Urteil vom 10.11.2022 entschied das LAG Niedersachsen, dass § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG nicht mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar ist und sich daher nicht anwenden lässt. Im selben Urteil stellte es zusätzliche Anforderungen an § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG, um eine unionsrechtskonforme Auslegung zu ermöglichen. In einem Telefonat zwischen dem Kläger und der verklagten Religionsgemeinschaft sprach die Personalerin mit dem Kläger und betonte die Wichtigkeit der Religionszugehörigkeit für eine Einstellung. Der Bewerber erhielt eine Absage.
Das LAG musste sich zunächst mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit der Kläger beweisen konnte, dass er die Absage wegen seiner fehlenden Religionszugehörigkeit bekam. Hier half dem Kläger die Regelung nach § 22 AGG. Das LAG Niedersachsen ging sogar so weit, nicht nur von einer Beweiserleichterung, sondern sogar von einer Beweislastumkehr zu sprechen.
Beweislastumkehr
Gemäß § 22 AGG können Hilfstatsachen genügen, um die Vermutung aufzustellen, dass der Arbeitgeber den Bewerber wegen des Merkmals der Religion ablehnte. Der beklagte Arbeitgeber muss dann beweisen, dass bei der Entscheidung, die Stelle nicht an den Bewerber zu geben, dessen Religion gänzlich unbeachtlich war. Das ist dem beklagten Arbeitgeber nicht gelungen.
Entsprechend thematisierte das entscheidende Gericht die Frage, ob die Rechtfertigungstatbestände des § 9 Abs. 1 AGG sich anwenden lassen und wenn ja, ob sie erfüllt sind. Nach der unionsrechtskonformen Auslegung muss die Religionszugehörigkeit für die Ausübung der Tätigkeit auch wesentlich, rechtmäßig und angemessen sein.
Begriff der "wesentlichen" Anforderung der Religionszugehörigkeit
"Wesentlich" heißt, dass die Religionszugehörigkeit notwendig sein muss. Das ist sie, wenn die betreffende Tätigkeit für die Bekundung der Prinzipien der Gemeinschaft eine hohe Bedeutung hat. Daher muss ein direkter Zusammenhang zwischen der verlangten Konfessionszugehörigkeit und der fraglichen Tätigkeit bestehen. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art der Tätigkeit ergeben oder aus den Umständen ihrer Ausübung. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Tätigkeit darin besteht, an der Bestimmung des Ethos der Gemeinschaft mitzuwirken oder darin, einen Beitrag dazu zu leisten, die B...