Leitsatz (amtlich)
1) Durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019, Rs. C-55/18 [CCOO], Juris, wird die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert. Die vom Bundesarbeitsgericht bisher (vgl. BAG, Urteil vom 10.04.2013 – 5 AZR 122/12, Juris Rn. 21 und 22) geforderte – positive – Kenntnis als Voraussetzung für eine „Duldung” der Leistung etwaiger Überstunden und damit für eine Zurechenbarkeit bzw. arbeitgeberseitige Veranlassung ist infolge des genannten Urteils des EuGHs jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn die Arbeitgeberin sich die Kenntnis der Arbeitszeiten der Arbeitnehmerin durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Einführung, Überwachung und Kontrolle die Arbeitgeberin verpflichtet ist, hätte verschaffen können.
2) Dem Einwand, Folgerungen für vergütungsrechtliche Fragen könnten sich aus dem Urteil des EuGHs vom 14.05.2019, a. a. O., [CCOO] nicht ergeben, weil die Europäische Union in vergütungsrechtlichen Fragen keine Regelungskompetenz habe, ist nicht zu folgen (vgl. zu Einzelheiten EuGH, Urteile vom 15.4.2008 – C-268/06, „Impact”, Juris Rn. 121 bis 126, sowie vom 21.02.2018, C-518/15, „Matzak”, Rn. 24 bis 26).
3) Arbeitszeitaufzeichnungen, die (jedenfalls in erster Linie) den Zweck haben, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften zu dokumentieren und zu überwachen, können auch vergütungsrechtliche Bedeutung entfalten (vgl. BAG, Urteil vom 28.08.2019 – 5 AZR 425/18, Juris Rn. 16 bis 30).
4) Im Regelfall ist von einer Deckungsgleichheit der arbeitszeitrechtlich dokumentierten sowie der vergütungspflichtigen Arbeitszeit auszugehen. Die in Erfüllung arbeitszeitrechtlicher Vorgaben angefertigte Dokumentation von Arbeitszeiten wird, von besonders gelagerten und zu begründenden Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig ein aussagekräftiges Indiz dahingehend darstellen, dass während der dokumentierten Arbeitszeit auch tatsächlich gearbeitet worden ist.
5) Besteht nach dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019, C-55/18, [CCOO], aus Gründen des vom EuGH vielfach zitierten Gesundheitsschutzes eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten sowie der mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten Gerichte „sämtliche nationalen Rechtsnormen” „so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck” der Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG auszurichten, sind insbesondere die hier in Betracht kommenden §§ 241 Abs. 2, 242, 315, 618 Abs. 1 BGB durch die Arbeitsgerichte in einer Weise auszulegen, die den Vorgaben des EuGHs gerecht wird. Die genannten §§ 241 Abs. 2, 242, 315, 618 Abs. 1 BGB enthalten in hinreichendem Maße ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe und Generalklauseln, die einer unionsrechtskonformen- und nach Maßgabe von Art. 31 Abs. 2 GRC grundrechtskonformen Auslegung zugänglich sind.
6) Insbesondere aus § 618 Abs. 1 BGB folgt (in europarechtskonformer Auslegung) eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Hilfsweise besteht eine entsprechende vertragliche Nebenpflicht jedenfalls gemäß § 241 Abs. 2 BGB.
7) Die Vereinbarung sogenannter „Vertrauensarbeitszeit” schließt die arbeitgeberseitige „Veranlassung” in Form einer „Duldung” von Überstunden nicht aus. Auch schließt sie nicht die Abgeltung von Überstunden aus (vgl. BAG, Urteil vom 23.09.2015 – 5 AZR 767/13, Rn. 31 m. w. N.). Schließlich beseitigt eine solche Vereinbarung nicht die arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten. Eine Vereinbarung, die auf den Versuch hinausläuft, die in europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB hergeleitete Verpflichtung der Arbeitgeberin zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten zu beseitigen, ist gemäß § 619 BGB (in Verbindung mit § 134 BGB) nichtig.
8) Eine Verpflichtung der Arbeitgeberin zur Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG in Art. 17 Abs. 1 sowie der EuGH lediglich von einer „Messung” der Arbeitszeit sprechen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019, a. a. O. [CCOO] Rn. 51 ff., Rn. 71). Der vereinzelt vertretenen Auffassung, die Arbeitszeiten müssten nicht dokumentiert werden, ist nicht zu folgen. Würden Arbeitszeiten lediglich gemessen, ohne möglichst zeitnah aufgezeichnet zu werden, wäre eine „objektive und verlässliche Feststellung” der Einhaltung der Mindestruhezeiten nicht (mehr) möglich. Eine Kontrolle der Einhaltung von Höchstarbeits- und Ruhezeiten könnte im täglichen Geschäft nicht mit der hinreichenden Verlässlichkeit vorgenommen werden.
9) Da die Verpflichtung zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten über eine europarechtskonforme Auslegung des gemäß § 619 BGB zwingenden und unabdingbaren § 618 BGB begründbar ist, scheidet auch eine bloße – schwächere – Verpflichtung des Arbeitgebers zum „Ermöglichen” einer (für den Arbeitnehmer lediglich freiwilligen) Zeiterfassung, „so er denn will” aus.
10) Bei dem Urteil des EuGHs vom 14.05.2019, a. a. O. [CCOO] handelt es sich nicht um einen so genannte...