Orientierungssatz

Betriebsratswahl - Beteiligung des Arbeitgebers bei Anfechtung)

1. Im Verfahren über die Wirksamkeit der Betriebsratswahl ist der Arbeitgeber stets zu beteiligen.

2. Ist der Arbeitgeber in den Vorinstanzen nicht beteiligt worden, haben Fristen, insbesondere die Frist zur Begründung eines Rechtsmittels, für ihn nicht zu laufen begonnen.

3. Verstöße gegen § 26 Abs 2 und § 12 Abs 5 BetrVGDV 1 sind für sich allein noch nicht geeignet, bereits die Nichtigkeit einer Wahl zu begründen.

 

Normenkette

BetrVG § 19; ArbGG § 83 Abs. 3; BetrVGDV § 26 Abs. 3, 2, § 12 Abs. 5; BetrVGDV 1 § 12 Abs. 5, § 26 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Entscheidung vom 16.09.1987; Aktenzeichen 7 TaBV 13/87)

ArbG Köln (Entscheidung vom 10.12.1986; Aktenzeichen 7 BV 125/86)

 

Gründe

A. Die Beteiligten streiten darüber, ob die im Sommer 1986 bei der weiteren Beteiligten (Arbeitgeberin) erstmals durchgeführte Wahl des Betriebsrates nichtig oder zumindest anfechtbar ist.

Die Arbeitgeberin betreibt ein Gebäudereinigungsunternehmen und beschäftigt etwa 1.400 Arbeitnehmer. Sie werden außer in der Verwaltung in sogenannten Objekten (Kaufhäusern, Banken, Versicherungen, Bürogebäuden pp.) als Reinigungskräfte eingesetzt; ein geringer Teil arbeitet auch als Pförtner. Die Arbeitszeit beträgt bei vielen Arbeitnehmern täglich nur zwei bis drei Stunden.

In der Zeit vom 15. August 1986 bis 21. August 1986 fand bei der weiteren Beteiligten erstmals die Wahl eines Betriebsrates statt. Es waren 1.427 Arbeiter und 17 Angestellte wahlberechtigt. Nach dem Wahlausschreiben war in der für den 18. bis 21. August vorgesehenen Wahl ein 15-köpfiger Betriebsrat zu wählen, nämlich 14 Arbeiter und ein Angestellter; für "Objekte unter 20 Beschäftigten" war die schriftliche Stimmabgabe beschlossen worden. Die Wahl wurde in getrennten Wahlgängen durchgeführt.

Für die Gruppe der Arbeiter gab es zwei Vorschlagslisten. Nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses für die Gruppe der Arbeiter vom 2. September 1986 entfielen bei den Arbeitern auf die Vorschlagsliste "I" 1.159 Stimmen, auf die Vorschlagsliste "II" 68 Stimmen. Aus der Vorschlagsliste "I" sind 14 Betriebsratsmitglieder gewählt worden. Für die Wahl des Betriebsratsmitgliedes der Angestellten fand ein gesonderter Wahlgang statt. Für die Gruppe der Arbeiter wurde die Wahl in der Weise durchgeführt, daß ein Wahlvorstandsmitglied mit einer Wahlurne und Stimmzetteln mit seinem Auto zu den einzelnen Objekten fuhr, in denen die Arbeiter und Arbeiterinnen arbeiteten, dort während deren Arbeitszeit die Stimmzettel verteilte und die Stimmzettel in die Urne einwerfen ließ. Insgesamt waren vier Urnen im Einsatz. Sie wurden nach der Stimmabgabe in den Objekten nicht versiegelt und bis zur Auszählung am 22. August 1986 unversiegelt in einem verschlossenen Raum verwahrt. Aus der Wahl ist der Antragsgegner (Betriebsrat) hervorgegangen.

Mit ihrem am 23. September 1986 beim Arbeitsgericht eingereichten Antrag will die antragstellende Gewerkschaft, die auch die Vorschlagsliste "II" für die Gruppe der Arbeiter angeregt hat, feststellen lassen, daß die Wahl nichtig, zumindest aber anfechtbar sei. In der Antragsschrift sind außer der Antragstellerin noch sieben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als Antragsteller aufgeführt. Sie haben jedoch im Laufe des Verfahrens erklärt, nicht Antragsteller zu sein bzw. ihren Antrag zurückgenommen und sind aus dem Verfahren ausgeschieden.

Die Antragstellerin hat geltend gemacht, die Wahl habe derart gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen, daß sie nichtig sei. So sei entgegen der Vorschrift des § 26 Abs. 2 BetrVGDV 1 (WahlO 1972) Urnenwahl anstelle von Briefwahl durchgeführt worden. Auch sei gegen § 12 Abs. 5 WahlO 1972 dadurch verstoßen worden, daß die Urnen nicht versiegelt worden seien.

Sie hat ferner u. a. behauptet, der Objektleiter im Objekt G habe Stützungsunterschriften für die Wahlvorschlagsliste I von der deutschen Sprache nicht mächtigen Mitarbeitern dadurch eingeholt, daß er ihnen erzählt habe, man brauche ihre Unterschrift wegen der Auszahlung von Weihnachtsgeld. Im Objekt D habe das Wahlvorstandsmitglied K massiv versucht, Wahlbeeinflussung zu betreiben, indem es die Mitarbeiterin W aufgefordert habe, Liste I zu wählen. Im Objekt L habe der Wahlvorstandsvorsitzende K die Wahl allein durchgeführt. Er sei ohne Wahlurne erschienen und habe nur lose Zettel und die Umschläge bei sich gehabt. Den zusammengerufenen Arbeitnehmerinnen habe er Stimmzettel und Umschläge ausgehändigt; sie hätten dann neben ihm den Stimmzettel ausfüllen müssen. Er habe beim konkreten Wahlvorgang zugeschaut und versucht, die Arbeitnehmerinnen bei ihrer Wahl zu beeinflussen. Aus diesen und weiteren von der Antragstellerin gerügten Verstößen gegen Wahlvorschriften folge, daß die Wahl nichtig sei. Zumindest sei sie aber anfechtbar. Die Anfechtungsfrist sei gewahrt, weil das Wahlergebnis erst am 12. September 1986 bekanntgegeben worden sei.

Die Antragstellerin hat beantragt

festzustellen, daß die in der Zeit vom

15. bis 21. August 1986 abgehaltene

Betriebsratswahl unwirksam bzw. nichtig

ist.

Der Antragsgegner hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Er hält die durchgeführte Wahl weder für nichtig noch für anfechtbar und hat behauptet:

Die Anfechtungsfrist sei nicht gewahrt, denn das Wahlergebnis sei nicht erst am 12. September 1986 bekanntgegeben worden. Die Antragstellerin habe ihr Recht auch verwirkt, denn alle Schritte der Wahl seien unter Beachtung aller Formalitäten und entsprechend einer vorherigen Abstimmung mit der Antragstellerin durchgeführt worden. Die Vorziehung des Wahltermins im Objekt Ka auf den 15. August 1986 sei im ausdrücklichen Einvernehmen aller dort Beteiligten und nach Abstimmung mit der Antragstellerin sowie entsprechender Beschlußfassung im Wahlvorstand vorgenommen worden. Bei der Durchführung der Wahl sei neben dem Wahlvorstandsvorsitzenden K stets eine Wahlhelferin entsprechend dem Beschluß des Wahlvorstandes eingesetzt gewesen, in aller Regel in der Person der sogenannten Objektleiterin. Die Wahl sei auch geheim durchgeführt worden. Die Wähler hätten ihre Stimmzettel in der üblichen Weise mit einem Kreuz gekennzeichnet und die in einen Umschlag gesteckten Zettel in die Urne geworfen. Wahlbeeinflussung habe es nicht gegeben. Ebenso sei nicht richtig, daß Stützungsunterschriften in der von der Antragstellerin beschriebenen Art und Weise eingeholt worden seien. Es treffe allerdings zu, daß bei der Wahl in der Frühschicht im Objekt L das Wahlvorstandsmitglied K die Wahlurne aus seinem Fahrzeug nicht mitgenommen habe, sondern die Wahlumschläge mit den Stimmzetteln im Wahllokal entgegengenommen, diese - soweit nicht bereits geschehen - zugeklebt, die Wahlscheine sodann im Beisein der Frau Kr zu seinem Fahrzeug gebracht und in deren Gegenwart in die Wahlurne geworfen sowie die Wähler auf der Wählerliste abgehakt habe. Die Stimmzettel seien vom Wahlvorstand in einem abgeschlossenen Raum in den Wahlurnen bis zur Auszählung aufbewahrt worden; den Schlüssel hierzu habe der Wahlvorstandsvorsitzende K gehabt. Die Bekanntmachung des Wahlergebnisses sei unter dem 2. September 1986 erfolgt; der Aushang sei wegen Urlaubsabwesenheit eines der Unterzeichner aber erst "wenige Tage später" vorgenommen worden.

Das Arbeitsgericht hat die Nichtigkeit der Wahl festgestellt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners ist vom Landesarbeitsgericht unter Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen worden. In den Vorinstanzen ist die Arbeitgeberin nicht beteiligt worden.

Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Antragsgegner die Abweisung des Antrages, während die Antragstellerin beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberin ist im dritten Rechtszug erstmals am Verfahren beteiligt worden. Sie rügt ihre Nichtbeteiligung in den Vorinstanzen und meint, die Wahl sei weder nichtig noch anfechtbar; die Anfechtungsfrist sei nicht gewahrt.

B. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

Sie führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.

I. Diese Entscheidung ist bereits deswegen erforderlich, weil das Landesarbeitsgericht wie schon zuvor das Arbeitsgericht die Arbeitgeberin am Verfahren nicht beteiligt hat.

1. Werden im Beschlußverfahren Personen oder Stellen, die nach materiellem Recht Beteiligte des Verfahrens sind, vom Gericht nicht beteiligt, so liegt darin ein Verfahrensfehler (vgl. statt vieler: BAG Beschluß vom 20. Februar 1986 - 6 ABR 25/85 - AP Nr. 1 zu § 63 BetrVG 1972). Dieser Fehler kann nur dadurch beseitigt werden, daß die betreffende Person oder Stelle vor endgültiger Entscheidung beteiligt wird. Hierzu bedarf es nicht irgendeines förmlichen Antrages eines Beteiligten, sondern dem Beteiligten ist Gelegenheit zu geben, zum bisherigen Verfahren Stellung zu nehmen. In allen Rechtszügen, auch noch in der Rechtsbeschwerdeinstanz, ist von Amts wegen zu prüfen, wer Beteiligter des Verfahrens ist. Eine vor dem Landesarbeitsgericht unterbliebene Hinzuziehung eines Beteiligten ist in der Rechtsbeschwerdeinstanz vom Bundesarbeitsgericht jedenfalls auf eine ordnungsgemäße Rüge hin zu berücksichtigen (vgl. BAGE 31, 58 = AP Nr. 3 zu § 47 BetrVG 1972). Einer Auseinandersetzung mit der Ansicht von Grunsky, wonach nur der bislang nicht Beteiligte eine derartige Verfahrensrüge soll erheben können (ArbGG, 5. Aufl., § 83 Rz 21), bedarf es im vorliegenden Fall nicht, weil hier sowohl der bislang beteiligte Betriebsrat als auch die erstmals im Rechtsbeschwerdeverfahren beteiligte Arbeitgeberin eine derartige Verfahrensrüge erhoben haben. Die ordnungsgemäße Rüge mangelnder Beteiligung hat die Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts und die Zurückverweisung der Sache zur Folge, wenn die Entscheidung auf diesem Verfahrensfehler beruht. Dies ist anzunehmen, wenn die Anhörung des bislang nicht Beteiligten zu einer weiteren Sachaufklärung und damit gegebenenfalls zu einer anderen Entscheidung hätte führen können. Hierfür spricht indessen dann nichts, wenn der bislang nicht Beteiligte keinen weiteren Sachvortrag ankündigt (vgl. BAGE 27, 33 = AP Nr. 9 zu § 5 BetrVG 1972; BAGE 39, 259 = AP Nr. 5 zu § 83 ArbGG 1979; siehe auch Grunsky, aaO, § 83 Rz 20).

2. Nach § 83 Abs. 3 ArbGG sind im Beschlußverfahren der Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und die Stellen zu hören, die nach materiellem Recht beteiligt sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist Beteiligter in einem arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren, wer von der zu erwartenden Entscheidung in seinem betriebsverfassungsrechtlichen Recht oder Rechtsverhältnis unmittelbar betroffen oder berührt wird (vgl. statt vieler: BAGE 53, 385 = AP Nr. 13 zu § 19 BetrVG 1972 m. w. N.). Im Verfahren über die Wirksamkeit der Betriebsratswahl ist der Arbeitgeber stets zu beteiligen. Dabei ist rechtlich unerheblich, ob die Nichtigkeit der Wahl festgestellt werden soll oder nur deren Unwirksamkeit infolge Anfechtung. In beiden Fällen wird nämlich entschieden, ob das zwischen dem Arbeitgeber und dem gewählten Betriebsrat bestehende betriebsverfassungsrechtliche Rechtsverhältnis Bestand hat oder nicht (vgl. BAGE 48, 96 = AP Nr. 27 zu § 76 BetrVG 1952; BAGE 53, 385, aaO, m. w. N.).

3. Die Arbeitgeberin hat ordnungsgemäß gerügt, daß sie in den Vorinstanzen nicht beteiligt worden ist. Die Rüge ist nicht verspätet vorgebracht worden. Weil die Arbeitgeberin in den Vorinstanzen nicht beteiligt worden ist, haben Fristen, insbesondere die Frist zur Begründung eines Rechtsmittels, für sie nicht zu laufen begonnen.

Die Rüge greift durch. In der Nichtbeteiligung der Arbeitgeberin liegt ein Verfahrensmangel. Der Betriebsrat und die Arbeitgeberin haben auch dargetan, daß die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann. Sie haben neuen bzw. näheren Sachvortrag zu den Tatsachen angekündigt, aus denen die Antragstellerin die Nichtigkeit bzw. Anfechtbarkeit der Wahl folgert und aus denen der angefochtene Beschluß zur Feststellung der Nichtigkeit der Wahl gelangt ist.

II. Bereits dies führt zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanz und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Der Senat ist an einer Entscheidung in der Sache selbst schon aus diesen Verfahrensgründen gehindert.

1. Unter Verfahrensgesichtspunkten ist auch im künftigen Verfahren des vorliegenden Rechtsstreits die Arbeitgeberin zu beteiligen.

Ferner wird das Landesarbeitsgericht zu klären haben, worauf sich der Antrag der Antragstellerin bezieht, nämlich auf die Feststellung der Nichtigkeit bzw. der Unwirksamkeit der Wahl des Antragsgegners insgesamt oder lediglich auf den Teil seiner Mitglieder, der auf die Wahl der Arbeiter entfällt.

2. In der Sache selbst wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, daß seine bisherigen tatsächlichen Feststellungen für sich allein seine Entscheidung, daß die Wahl (insgesamt) nichtig ist, nicht zu tragen vermögen.

a) Das Landesarbeitsgericht hat unter II der Gründe die Entscheidung des Arbeitsgerichts, wonach die Wahl nichtig sei, im Ergebnis als richtig erachtet und dazu ausgeführt, die Wahl habe einen grundsätzlichen Mangel, weil sie gegen § 26 Abs. 1 der Wahlordnung verstoßen habe. Hierbei scheint es sich - wie die nachfolgenden Ausführungen des Landesarbeitsgerichts ergeben - um einen Bezeichnungsfehler zu handeln. Tatsächlich stellt das Landesarbeitsgericht mit diesen Ausführungen unter II 1 seiner Gründe auf einen Verstoß gegen § 26 Abs. 2 WahlO 1972 ab, indem es meint, die 1.427 wahlberechtigten Arbeiter, die im Unternehmen z. Zt. der Wahl beschäftigt gewesen seien, seien Außenarbeiter gewesen mit der Folge, daß Briefwahl zwingend erforderlich gewesen sei.

Ferner hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, bei der Wahl sei gegen § 12 Abs. 5 WahlO 1972 dadurch verstoßen worden, daß die Wahlurnen nicht versiegelt worden seien, sondern unversiegelt in die Personenkraftwagen der Wahlvorstandsmitglieder gelangt und dort transportiert worden seien. Dieser Verstoß sei besonders kraß, weil die Transporteure der Wahlurnen die Möglichkeit gehabt hätten, eingeworfene Stimmzettel herauszunehmen und durch andere, selbst ausgefüllte zu ersetzen.

b) Die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vermögen weder für sich allein noch insgesamt die Nichtigkeit der Betriebsratswahl zu begründen, selbst wenn das Landesarbeitsgericht im künftigen Verfahren insoweit wiederum zu denselben tatsächlichen Feststellungen gelangt.

Die Nichtigkeit einer Wahl kann ohne zeitliche Begrenzung zu jeder Zeit und in jeder Form geltend gemacht werden (vgl. BAGE 29, 392, 395 = AP Nr. 6 zu § 19 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe). Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist indessen nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzunehmen, in denen gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl in so hohem Maße verstoßen worden ist, daß auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr vorliegt (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. statt vieler: BAGE 29, 392 = AP Nr. 6 zu § 19 BetrVG 1972 sowie BAG Urteil vom 27. April 1976 - 1 AZR 482/75 - AP Nr. 4 zu § 19 BetrVG 1972, jeweils m. w. N.). Von dem Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl im Sinne des § 19 BetrVG kann dann nicht mehr gesprochen werden, wenn bei der Durchführung der Wahl in großer Zahl gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen worden ist. Eine solche Wahl ist vielmehr nichtig, d. h. von Anfang an rechtsunwirksam. Dies gilt auch dann, wenn der einzelne Verstoß für sich betrachtet unter Umständen nur die Anfechtbarkeit der Wahl begründen könnte. Entscheidend ist, ob insgesamt gesehen die Verstöße gegen die Vorschriften des Wahlverfahrens so offensichtlich und schwerwiegend sind, daß auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht. Bei mehreren Verstößen gegen das Wahlverfahren ist daher eine Gesamtwürdigung der einzelnen Verstöße vorzunehmen. Dabei ist der gesamte in Betracht kommende Verfahrensstoff zu berücksichtigen (vgl. BAG Urteil vom 27. April 1976 - 1 AZR 482/75 -, aaO).

Inwieweit noch gegen weitere - wesentliche - Wahlvorschriften bei der Durchführung der Betriebsratswahl verstoßen worden ist, läßt sich noch nicht abschließend beurteilen. Auch insoweit bedarf es noch weiterer Sachverhaltsfeststellungen und -würdigungen durch das Landesarbeitsgericht.

3. Sollte das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangen, daß sich die Betriebsratswahl nicht als von Anfang an unwirksam, d. h. als nichtig, erweist, so wird es zu prüfen haben, ob die Betriebsratswahl wirksam angefochten worden ist. Der Sachantrag der Antragstellerin umfaßt beide Möglichkeiten.

a) Dabei wird das Landesarbeitsgericht zunächst festzustellen haben, ob mit dem am 23. September 1986 eingereichten Antrag die Anfechtungsfrist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG gewahrt ist. Nach dieser Vorschrift ist eine Wahlanfechtung nur binnen einer Frist von zwei Wochen zulässig. Nach Ablauf der Frist kann die Wahl nicht mehr wirksam angefochten werden, es erlischt das Anfechtungsrecht (ständige Rechtsprechung, vgl. BAGE 16, 1, 8 = AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG, zu B 3 b der Gründe). Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses im Sinne von § 18 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Der Zeitpunkt der Übersendung einer Abschrift der Wahlniederschrift an den Arbeitgeber oder an die im Betrieb vertretene Gewerkschaft ist insoweit rechtlich ohne Bedeutung. Wird das Wahlergebnis entsprechend dem Wahlausschreiben an mehreren Stellen durch Aushänge bekanntgemacht, so ist für den Beginn der Anfechtungsfrist der Zeitpunkt des letzten Aushanges maßgeblich (vgl. Kreutz, GK-BetrVG, 4. Aufl. 1987, Bd. I, § 18 Rz 39; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl. 1987, § 19 WahlO 1972 Rz 2; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl. 1981, Bd. 1, § 19 Rz 35).

b) Kommt das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis, daß die Anfechtungsfrist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG gewahrt ist, so wird es ferner festzustellen haben, inwieweit gegen welche wesentlichen Vorschriften im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrVG verstoßen worden ist und eine Berichtigung nicht erfolgt ist. Schließlich wird es festzustellen haben, ob die festgestellten und nicht berichtigten Verstöße so gelagert sind, daß durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflußt werden konnte.

Verstöße gegen § 26 Abs. 2 WahlO 1972 und § 12 Abs. 5 WahlO 1972 sind für sich allein noch nicht geeignet, bereits die Nichtigkeit der Wahl zu begründen. In beiden Fällen handelt es sich zwar um wesentliche Wahlvorschriften, die zur Begründung einer Wahlanfechtung im Sinne des § 19 BetrVG herangezogen werden können. Dies gilt - wie das Landesarbeitsgericht im Ansatz richtig erkannt hat - insbesondere für die Vorschrift des § 12 Abs. 5 WahlO 1972. Die Anordnung, daß Wahlurnen zu versiegeln sind, wenn sich die Stimmauszählung nicht unmittelbar anschließt, ist erfolgt, um sicherzustellen, daß der Inhalt einer Wahlurne gesichert bleibt und er so einer äußerlich spurenlosen Manipulation nicht ausgesetzt wird. Die Anordnung in § 26 Abs. 2 WahlO 1972 soll sicherstellen, daß alle Wahlberechtigten in die Lage versetzt werden, an der Betriebsratswahl teilzunehmen, und zwar gerade auch die Wahlberechtigten, die im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden.

Dem Landesarbeitsgericht kann indessen nicht ohne nähere Tatsachenfeststellungen in seiner Ansicht gefolgt werden, daß die Durchführung der Urnenwahl in einem Teil der "Objekte" einen Verstoß gegen § 26 Abs. 2 WahlO 1972 darstelle, weil es sich bei "allen 1427 wahlberechtigten Arbeitern um Außenarbeiter i. S. jener Vorschrift handele". Es hat die Möglichkeit, daß nicht nur der sogenannte Verwaltungssitz der Arbeitgeberin den Betrieb bildet, außer Betracht gelassen. Denkbar ist, daß sich der Betrieb über den Verwaltungssitz hinaus auch auf alle oder einen Teil der sogenannten Objekte erstreckt und daß diese Objekte zumindest zum Teil Betriebsteile i. S. des § 26 Abs. 3 WahlO 1972 sind. Soweit diese Möglichkeiten zutreffen, greift die Vorschrift des § 26 Abs. 2 WahlO 1972 für dort eingesetzte Arbeiter nur ein, wenn sie außerhalb des Wahlzeitpunktes arbeiten. Daneben wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, wie die Verhältnisse bei kleineren Objekten liegen, insbesondere, inwieweit die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 WahlO 1972 bei "Objekten unter 20 Beschäftigten" erfüllt sind.

Hinsichtlich der Frage, ob ein Verstoß gegen § 12 Abs. 5 WahlO 1972 (Versiegelung der Wahlurne nach Abschluß der Stimmabgabe) vorliegt, der seinerseits die Anfechtbarkeit der Wahl zur Folge haben kann, wird das Landesarbeitsgericht festzustellen haben, wann die Stimmabgabe i. S. des § 12 Abs. 5 WahlO 1972 abgeschlossen war.

Dr. Seidensticker Dr. Steckhan Schliemann

Dr. Gentz Dr. Klebe

 

Fundstellen

Dokument-Index HI441037

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