Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung. Verfassungsbeschwerde. Annahmeverzugsprozess. Kündigungsschutzverfahren
Orientierungssatz
1. Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung in einem Kündigungsschutzprozess hemmt den Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung über die Kündigung nicht. Es bleibt offen, ob in einem solchen Fall die Verfassungsbeschwerde als vorgreiflicher Rechtsstreit iSv. § 148 ZPO anzusehen ist und eine Aussetzung des Rechtsstreits über Vergütungsansprüche (§ 615 BGB) in entsprechender Anwendung dieser Norm in Betracht kommt.
2. Führen Parteien einen Rechtsstreit über Entgeltansprüche, die von der Wirksamkeit einer Kündigung abhängen, verbietet der arbeitsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 ArbGG) regelmäßig eine Aussetzung nach § 148 ZPO bis zum Eintritt der Rechtskraft im Bestandsschutzverfahren. Etwas anderes kann nur bei Vorliegen besonderer Umstände gelten, die ausnahmsweise das schützenswerte Interesse des Arbeitnehmers an einer auch vorläufigen Existenzsicherung überwiegen.
Normenkette
ZPO §§ 148, 580 Nr. 6; ArbGG § 9; BVerfGG § 95 Abs. 2
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Beschluss vom 29.01.2014; Aktenzeichen 4 Ta 248/13 (9)) |
ArbG Dresden (Beschluss vom 27.09.2013; Aktenzeichen 8 Ca 1359/13) |
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 29. Januar 2014 – 4 Ta 248/13 (9) – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 8.137,02 Euro festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Parteien streiten im Ausgangsverfahren über Annahmeverzugsansprüche der Klägerin für die Monate Juni 2012 bis Mai 2013 in Höhe von 60.000,00 Euro brutto abzüglich gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 19.314,90 Euro.
Die Beklagte hatte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch ordentliche verhaltensbedingte Kündigung vom 23. April 2012 zum 31. Mai 2012 gekündigt. Mit Urteil vom 5. Dezember 2012 hat das Arbeitsgericht Dresden der hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die von der Beklagten eingelegte Berufung ist durch das Sächsische Landesarbeitsgericht durch Beschluss vom 5. April 2013 (– 6 Sa 13/13 –) ohne Zulassung der Revisionsbeschwerde als unzulässig verworfen worden. Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Sächsische Landesarbeitsgericht mit Beschluss vom 11. Juni 2013 (– 6 Sa 265/13 –) zurück. Die Beklagte erhob daraufhin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts und die Beschlüsse des Sächsischen Landesarbeitsgerichts beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde (– 1 BvR 1954/13 –), über die noch nicht entschieden ist.
Mit Beschluss vom 27. September 2013 hat das Arbeitsgericht Dresden den Rechtsstreit auf Antrag der Beklagten gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin hat das Sächsische Landesarbeitsgericht durch Beschluss vom 29. Januar 2014 diese Entscheidung aufgehoben und den Aussetzungsantrag zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht nimmt im Ergebnis zutreffend an, dass eine Aussetzung des Rechtsstreits im Hinblick auf die erhobene Verfassungsbeschwerde nicht in Betracht kommt.
1. Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Das Gesetz stellt die Aussetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts. Eine Aussetzung muss nur dann erfolgen, wenn sich das Ermessen des Gerichts auf null reduziert hat (BAG 17. Juni 2003 – 2 AZR 245/02 – zu B II 2 a der Gründe, BAGE 106, 293). Gegenüber dem vorrangigen Zweck einer Aussetzung – einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern – sind insbesondere die Nachteile einer langen Verfahrensdauer und die dabei entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen (BAG 17. Juni 2003 – 2 AZR 245/02 – zu B II 2 c der Gründe, aaO). Dabei ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG ebenso zu berücksichtigen wie die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer (§ 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff. GVG).
2. Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des Landesarbeitsgerichts zutrifft, wonach es wegen der rechtskräftigen Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden über die Kündigung bereits an einem vorgreiflichen Rechtsverhältnis, das Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits ist, fehlt.
a) Das Landesarbeitsgericht nimmt insoweit zutreffend an, dass die Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden nach Verwerfung der Berufung der Beklagten als unzulässig (§ 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG iVm. § 522 Abs. 1 ZPO) und (spätestens) nach der Entscheidung über deren Anhörungsrüge (§ 78a ArbGG) rechtskräftig geworden ist. Hieran ändert die erhobene Verfassungsbeschwerde nichts. Bei ihr handelt es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt und die Pflicht des Unterlegenen, das Urteil zu befolgen, nicht beseitigt (BVerfG 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 – zu C III 2 a aa der Gründe, BVerfGE 107, 395; 18. Januar 1996 – 1 BvR2116/94 – zu B der Gründe, BVerfGE 93, 381). Damit steht (zunächst) rechtskräftig fest, dass die Kündigung vom 23. April 2012 unwirksam war.
b) Kommt allerdings das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der erhobenen Verfassungsbeschwerde zu dem Ergebnis, dass das Recht der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt wurde und hebt es die Beschlüsse des Landesarbeitsgerichts gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG auf, stünde die Wirksamkeit der Kündigung erneut im Streit. Deshalb spricht manches dafür, dass trotz des anderen Streitgegenstandes der Verfassungsbeschwerde (vgl. dazu Zuck Das Recht der Verfassungsbeschwerde 4. Aufl. Rn. 19) die Annahme des Bestehens eines vorgreiflichen Rechtsstreits und eine entsprechende Anwendung des § 148 ZPO im Einzelfall nicht ausgeschlossen sind (vgl. zu dieser Möglichkeit: BVerfG 11. Januar 2000 – 1 BvR 1392/99 – zu II 2 der Gründe; BAG 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – zu II 3 a der Gründe; BGH 17. Juli 2013 – IV ZR 150/12 – [jeweils zu anhängigen Verfassungsbeschwerden über ein entscheidungserhebliches Gesetz]; BAG 27. Januar 1998 – 3 AZR 430/96 – zu A der Gründe [zu Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen in Parallelfällen]).
3. Unabhängig hiervon ist die angegriffene Entscheidung nicht zu beanstanden. Das Arbeitsgericht durfte den Rechtsstreit über die von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsansprüche (§ 615 BGB) nicht aussetzen. Auch unter Berücksichtigung der – was die Ermessensausübung angeht – eingeschränkten Überprüfungskompetenz im Beschwerderechtszug (vgl. dazu BAG 26. Oktober 2009 – 3 AZB 24/09 – Rn. 7 ff.; BGH 12. Dezember 2005 – II ZB 30/04 – Rn. 6) hält die Entscheidung des Arbeitsgerichts einer Überprüfung nicht stand. Es hat die Grenzen seines Ermessens deutlich überschritten und wesentliche Aspekte verkannt.
a) Die Vorgreiflichkeit eines Rechtsstreits ist kein Ermessenskriterium, sondern eine Voraussetzung des § 148 ZPO, die erfüllt sein muss, damit das Ermessen des Gerichts überhaupt eröffnet ist (BVerfG 22. September 2008 – 1 BvR 1707/08 – Rn. 19, BVerfGK 14, 270).
b) Führen Parteien einen Rechtsstreit über Entgeltansprüche, die von der Wirksamkeit einer Kündigung abhängen, über die bereits eine (nicht rechtskräftige) Entscheidung zugunsten des Arbeitnehmers vorliegt, kommt eine Aussetzung dieses Rechtsstreits regelmäßig nicht in Betracht. Dem steht der Umstand entgegen, dass der Arbeitnehmer typischerweise auf seine Vergütung angewiesen ist und sich nicht auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweisen lassen muss, wenn ein Vergütungsanspruch gegen den Arbeitgeber besteht. Der arbeitsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 ArbGG) verbietet in solchen Fällen regelmäßig, eine Aussetzung vorzunehmen (vgl. zB LAG Köln 19. Juni 2006 – 3 Ta 60/06 –; LAG Schleswig-Holstein 24. November 2006 – 2 Ta 268/06 –; Hessisches LAG 3. Juli 2002 – 12 Ta 213/02 –; Thüringer LAG 27. Juni 2001 – 6/9 Ta 160/00 –; Düwell/Lipke/Kloppenburg ArbGG 3. Aufl. § 55 Rn. 25; GK-ArbGG/Schütz Stand Dezember 2013 § 55 Rn. 48; GMP/Germelmann ArbGG 8. Aufl. § 55 Rn. 29; Schwab/Weth/Korinth ArbGG 3. Aufl. § 55 Rn. 43; vgl. auch BVerfG 22. September 2008 – 1 BvR 1707/08 – Rn. 20, BVerfGK 14, 270). Für eine ermessensfehlerfreie Aussetzungsentscheidung müssen in einem solchen Fall besondere Gründe des Einzelfalls vorliegen, die das schützenswerte Interesse des Arbeitnehmers an einer auch vorläufigen Existenzsicherung ausnahmsweise überwiegen (LAG Köln 14. Dezember 1992 – 11 Ta 234/92 –). Der Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit, nämlich den Rechtsstreit über die Vergütung ggf. deutlich zu vereinfachen, kann dabei keine Rolle spielen. Diese Erwägungen gelten erst recht, wenn das zunächst vorgreifliche Verfahren über die Wirksamkeit einer Kündigung rechtskräftig abgeschlossen und lediglich ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt ist. Solche besonderen Gründe hat das Arbeitsgericht weder erwogen noch hat die Beklagte diese vorgetragen. Sie hat sich vielmehr ausschließlich auf die Vorgreiflichkeit ihrer Verfassungsbeschwerde berufen. Allein die Gefahr widersprechender Entscheidungen bei einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde und einem Erfolg der Beklagten im dann fortzusetzenden Kündigungsschutzprozess führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Arbeitgeberin bleibt auch im Fall einer Ablehnung der Aussetzung nicht schutzlos. Sollte es nach einem Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde im Ergebnis zur Abweisung der Kündigungsschutzklage kommen, stünde ihr, falls der Vergütungsklage rechtskräftig stattgegeben worden ist, die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO zur Verfügung (vgl. BAG 7. November 2002 – 2 AZR 297/01 – zu B I 6 der Gründe, BAGE 103, 290; vgl. auch BGH 23. November 2006 – IX ZR 141/04 – zu I 2 b der Gründe). Ob in Fällen, in denen erkennbar eine Überschreitung der 5-Jahres-Frist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO droht, etwas anderes gilt, kann dahinstehen. Dafür gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Mikosch, Schmitz-Scholemann, W. Reinfelder
Fundstellen