Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden
Leitsatz (redaktionell)
Es stellt einen einsichtigen, vernünftigen Grund dar, von der Sollvorschrift des § 26 Abs 1 Satz 2 BetrVG abzuweichen und den einzigen Angestelltenvertreter im Betriebsrat nicht zum stellvertretenden Vorsitzenden zu wählen, wenn dieser nicht zur Wahl vorgeschlagen ist und sich auch nicht selbst vorgeschlagen hat.
Normenkette
BetrVG § 26 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.07.1985; Aktenzeichen 3 TaBV 9/84) |
ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 30.08.1984; Aktenzeichen 2 BV 24/84) |
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Wahl eines stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden.
Im Betrieb L der Beteiligten zu 3), einem Unternehmen der Metallindustrie, wurde am 18. April 1984 von 204 Arbeitern und 29 Angestellten ein siebenköpfiger Betriebsrat (Antragsgegner) gewählt. Neben der Gruppe von sechs gewerblichen Arbeitnehmern gehört ihm ein Vertreter der Angestelltengruppe an (der Antragsteller).
In der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats am 27. April 1984 wurde der Arbeitnehmer O zum Vorsitzenden gewählt. O, als Meister in der Reparaturabteilung Angestellter, kandidierte jedoch bei der Betriebsratswahl für die Arbeitergruppe. Er gehörte dem Antragsgegner in der fünften Amtsperiode an und führte in den zurückliegenden beiden Wahlperioden den Vorsitz.
Nach der Wahl des Vorsitzenden und des Schriftführers folgte die Wahl des stellvertretenden Vorsitzenden. Im Protokoll heißt es dazu:
"Hier erklärte der Kollege Ol (Angestelltenvertreter),
daß er auf das Amt des zweiten
Vorsitzenden Anspruch erhebe gemäß § 26 BetrVG
und lehnte seine Wahlbeteiligung an der Wahl zum
zweiten Vorsitzenden ab."
Anschließend wählten die sechs gewerblichen Arbeitnehmer das Betriebsratsmitglied B mehrheitlich zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden.
Daraufhin leitete der Antragsteller am 10. Mai 1984 das vorliegende Beschlußverfahren ein. Er hat gemeint, die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden sei unwirksam, weil es keine einsichtigen und vernünftigen Gründe dafür gegeben habe, von der Vorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abzuweichen und ihn nicht zum stellvertretenden Vorsitzenden zu wählen. Nach seinem Eindruck sei alles vorbesprochen gewesen und so habe er schließlich seine Teilnahme an der Wahl verweigert. Er habe es für gesetzwidrig gehalten, wenn er nicht gewählt würde. Einen Verzicht habe er nicht erklärt.
Der Antragsteller hat beantragt,
die am 27. April 1984 durchgeführte Wahl des
Beteiligten zu 4) zum stellvertretenden Vorsitzenden
des Betriebsrats für ungültig zu erklären.
Der Antragsgegner und der Beteiligte zu 4) haben beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Der Antragsgegner hat die Auffassung vertreten, man habe bei der Wahl von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abweichen dürfen. Diese sei nicht willkürlich übergangen. Der Antrag des Antragstellers sei rechtsmißbräuchlich, weil er sich nicht zur Wahl gestellt habe.
Das Arbeitsgericht hat durch Beschluß vom 30. August 1984 die Wahl des stellvertretenden Vorsitzenden des Betriebsrats der Beteiligten zu 3) aufgehoben. Auf die Beschwerde des Antragsgegners hat das Landesarbeitsgericht diesen Beschluß abgeändert und den Antrag zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt der Antragsteller die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses, während der Antragsgegner um Zurückweisung der Rechtsbeschwerde bittet.
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
1. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Anfechtung des Antragstellers sei rechtsmißbräuchlich, weil er sich in der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats am 27. April 1984 als einziger Vertreter der Angestelltengruppe nicht zur Wahl gestellt habe. Nachdem er jedwede Beteiligung an der Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden abgelehnt habe, habe er von den anderen Betriebsratsmitgliedern zur Wahl gar nicht mehr vorgeschlagen werden können, sei auch nicht mehr vorgeschlagen worden und habe sich auch nicht selbst vorgeschlagen, was er hätte machen können. Ein solcher "Selbst"-Vorschlag sei - entgegen des subjektiven Eindrucks des Antragstellers - auch nicht von vornherein aussichtslos gewesen. Jedenfalls könne nicht ausgeschlossen werden, daß er auch gewählt worden wäre, wenn er sich selbst vorgeschlagen hätte. Wenn der Antragsteller aber einen ihm möglichen und zumutbaren Weg zur Durchsetzung des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG vorsätzlich ausschlage, stelle es ein widersprüchliches und damit objektiv rechtsmißbräuchliches Verhalten dar, die dann notwendigerweise ohne seine Beteiligung vorgenommene Wahl anzufechten. Mit der Wahl des Beteiligten zu 4) zum stellvertretenden Vorsitzenden sei zudem nicht in unzulässiger Weise von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 2 Satz 1 BetrVG abgewichen worden. Sachfremde oder willkürliche Gesichtspunkte seien hierfür nicht von entscheidender Bedeutung gewesen. Wenn der Antragsteller als der einzige Angestelltenvertreter nicht in das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden sei, so erscheine dies schon deshalb nicht willkürlich, weil er sich an der fraglichen Wahl gar nicht beteiligt habe. Bei der vom Betriebsrat unbeanstandet gewählten Verfahrensweise habe nur gewählt werden können, wer vorgeschlagen worden sei. Eine Verpflichtung der übrigen Betriebsratsmitglieder, den Antragsteller vorzuschlagen, sei nicht zu sehen, weil er sich selbst hätte vorschlagen und an der Wahl beteiligen können. Schon in der Nichtbeteiligung des einzigen Angestelltenvertreters an der Wahlhandlung liege daher ein hinreichender Anlaß, von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abzuweichen. Ein weiterer Grund liege in dem Umstand begründet, daß der Beteiligte zu 2) zu seinem Vorsitzenden mit dem Arbeitnehmer O bereits einen Angestellten im arbeitsrechtlichen Sinne zu seinem Vorsitzenden gewählt habe.
2. Dem Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis, nicht aber in allen Teilen der Begründung zuzustimmen.
a) Das Landesarbeitsgericht hat es versäumt, über den Beschwerdeantrag des zu Recht von den Vorinstanzen beteiligten stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden B zu entscheiden. Bereits in erster Instanz hatte sich B dem Antrag des Betriebsrats angeschlossen. Der Senat mißt diesen Anträgen allerdings lediglich unterstützenden Charakter bei (BAGE 26, 36 = AP Nr. 1 zu § 5 BetrVG 1972; 37, 31, 42 = AP Nr. 2 zu § 83 ArbGG 1979), so daß über sie durch den Beschluß des Landesarbeitsgerichts auch ohne ausdrückliche Erwähnung in Tenor und Gründen mitentschieden worden ist.
b) Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts über den Rechtsmißbrauch lassen nicht erkennen, von welchem Tatbestand des § 242 BGB es ausgeht. Es könnte an eine unzulässige Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) als auch an prozessuale und/oder materielle Verwirkung gedacht haben, was der Hinweis auf das Schrifttum zu § 4 Wahlordnung 1972 vermuten läßt (vgl. die Zusammenstellungen bei Palandt/Heinrichs, BGB, 45. Aufl., § 242 Anm. 4 C m. w. N.; MünchKomm-Roth, BGB, 2. Aufl., § 242 Rz 229 m. w. N.). Angesichts dieser Undeutlichkeiten ist nicht auszuschließen, daß das Landesarbeitsgericht von einem unrichtigen Begriff des Rechtsmißbrauchs ausgegangen ist. Das ist jedoch unschädlich, da sich die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aus anderen Gründen als richtig erweist.
c) Dem Landesarbeitsgericht ist allerdings im Ergebnis darin zuzustimmen, daß der Betriebsrat bei der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden nicht in unzulässiger Weise von der Vorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abgewichen ist. Nach dieser Bestimmung sollen der Vorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Gruppe angehören, wenn der Betriebsrat aus Vertretern beider Gruppen besteht. Dazu hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts (Beschluß vom 12. Oktober 1976 - 1 ABR 17/76 - BAGE 28, 219 = AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972) ausgeführt, die Wahl zum Betriebsratsvorsitzenden oder zu dessen Stellvertreter sei anfechtbar, wenn von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ohne einsichtige, vernünftige Gründe abgewichen wird (BAG, aaO, zu II 3 b der Gründe; vgl. auch die Rechtsprechung des BAG zu § 27 BetrVG 1952, BAG Beschluß vom 29. Januar 1965 - 1 ABR 8/64 - AP Nr. 8 zu § 27 BetrVG; herrschende Meinung im Schrifttum: Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 26 Rz 22; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 13; Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 26 Rz 22; Fitting/ Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., § 26 Rz 13). Soweit das Landesarbeitsgericht im Anschluß an Richardi (Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 11) ausführt, diese Auffassung des Bundesarbeitsgerichts finde im Gesetzeswortlaut keine Stütze und lasse sich aus der allgemeinen Struktur einer Vorschrift des pflichtgemäßen Ermessens nicht rechtfertigen, und stattdessen meint, § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG beschreibe den Ausschluß sachfremder oder willkürlicher Gesichtspunkte, kann dahingestellt bleiben, ob diese Kritik zutreffend ist oder nicht. Denn es stellt bereits einen einsichtigen, vernünftigen Grund für die wahlberechtigten und wahlwilligen Betriebsratsmitglieder dar, einen Kollegen nicht zu wählen, der von niemandem, auch nicht von sich selbst vorgeschlagen worden ist und der jegliche Mitwirkung am Wahlakt einschließlich der Ausübung des aktiven Wahlrechts verweigert (vgl. Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 26 Rz. 19). Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angeführt, eine Verpflichtung der einen Gruppe, den einzigen Vertreter der anderen Gruppe vorzuschlagen, sei weder aus der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG noch aus anderen Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes herzuleiten. Jedenfalls unter den vom Landesarbeitsgericht festgestellten Umständen bestand auch keine Pflicht des Wahlleiters, den Antragsteller zu einem Verzicht zu befragen oder die anderen Betriebsratsmitglieder über die Bedeutung des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG aufzuklären (so Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluß vom 23. November 1972 - 8 TaBV 26/72 - DB 1973, 433). Vielmehr war der Antragsteller gehalten, sich selbst vorzuschlagen, wenn er seine Auffassung durchsetzen wollte, gegebenenfalls mit einer Erklärung, im Falle der Wahl eines anderen Kollegen zum stellvertretenden Vorsitzenden das Ergebnis gerichtlich überprüfen zu lassen. Nur so konnte er den übrigen Mitgliedern des Betriebsrats überhaupt Gelegenheit geben, der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG Genüge zu tun. In einem sich dann gegebenenfalls anschließenden gerichtlichen Verfahren hätte überprüft werden können, ob die vom Landesarbeitsgericht gegebenen weiteren Begründungen es rechtfertigten, von der Ordnungsmäßigkeit der Wahl des stellvertretenden Vorsitzenden auszugehen. Angesichts des Verhaltens des Antragstellers kommt es jedoch nicht darauf an, ob die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG wegen der heutigen ökonomischen und sozialen Bedingungen des Gruppenprinzips enger interpretiert werden muß und ob die Wahl des Angestellten O zum Betriebsratsvorsitzenden, der von der Arbeitergruppe in den Betriebsrat gewählt worden ist, hinreichender Anlaß für eine Abweichung von der Bestimmung des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist oder nicht.
Dr. Röhsler Schneider Dörner
Dr. Gehrunger Oberhofer
Fundstellen
BB 1987, 1669 |
DB 1987, 2108-2108 (LT) |
BetrR 1987, 395-398 (LT) |
NZA 1988, 65-66 (LT) |
AP § 26 BetrVG 1972 (LT1), Nr 7 |
AR-Blattei, Betriebsverfassung VIII Entsch 16 (LT1) |
AR-Blattei, ES 530.8 Nr 16 (LT1) |
EzA § 26 BetrVG 1972, Nr 3 (LT) |