Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertrag zur Arbeitszeitverkürzung und betriebliche Mitbestimmung. Betriebliche Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung in der chemischen Industrie 1992/1993. kein tariflicher Ausschluss der Zuständigkeit der Einigungsstelle. Teilanfechtung eines Einigungsstellenspruchs. Änderung des Verfahrensgegenstands
Orientierungssatz
- Die Protokollnotiz II Abs. 3 des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 idF des Änderungstarifvertrags vom 16. Juni 2005 schließt die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zu einer Verteilung der tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden durch einen Spruch der betrieblichen Einigungsstelle nicht aus.
- Die auf einen Teil der Regelungen beschränkte Anfechtung des Spruchs einer Einigungsstelle kann nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig sein.
- Mit einer wesentlichen Änderung der entscheidungserheblichen rechtlichen Verhältnisse kann eine Änderung des Streit-/Verfahrensgegenstands verbunden sein, auch wenn sich weder Antragswortlaut noch Lebenssachverhalt geändert haben.
Normenkette
BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 2; ZPO § 256 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Beschluss vom 09.12.2004; Aktenzeichen 5/4 TaBV 105/04) |
ArbG Offenbach am Main (Beschluss vom 16.06.2004; Aktenzeichen 1/3 BV 18/03) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. Dezember 2004 – 5 TaBV 105/04 – wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs zu Fragen der Arbeitszeitverteilung.
Die Arbeitgeberin ist ein Chemieunternehmen. Sie ist kraft Verbandszugehörigkeit an die Tarifverträge der chemischen Industrie gebunden. Der beteiligte Betriebsrat ist die in ihrem Distributionszentrum D… gewählte Arbeitnehmervertretung.
Im Manteltarifvertrag vom 24. Juni 1992 vereinbarten die Tarifvertragsparteien mit Wirkung vom 1. April 1993 die Herabsetzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 auf 37,5 Stunden. In § 2 I Nr. 1 Abs. 4 des Manteltarifvertrags trafen sie dazu folgende Vereinbarung:
“Einigen sich Arbeitgeber und Betriebsrat bei der Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Wochenstunden nicht über die Verteilung, fallen je Arbeitswoche 1,5 Stunden unbezahlte Freizeit an, die im wöchentlichen Turnus für die einzelnen Arbeitnehmer der in Betracht kommenden Arbeitnehmergruppen bei Aufrechterhaltung der bisherigen Betriebsnutzungs- und Ansprechzeiten abwechselnd an den verschiedenen Wochenarbeitstagen, bei Fünf-Tage-Woche abwechselnd von Montag bis Freitag, zu gewähren ist. Fällt die Arbeit z.B. wegen Urlaub, Krankheit, Feiertag oder Freistellung von der Arbeit aus, verringert sich der Zeitausgleich je Fehltag um 18 Minuten.”
Zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung schlossen die Betriebsparteien im März 1993 einvernehmlich die “Betriebsvereinbarung Nr. 28/93”. Darin wurde die Arbeitszeit von 39 Stunden auf faktisch 38,5 Stunden herabgesetzt und zum Zeitausgleich ein auf einem entsprechenden Konto zu führendes Zeitguthaben vorgesehen. In der “Betriebsvereinbarung Nr. 36/97” vom 12. Juni 1997 (BV 36/97) wurden eine tatsächliche Wochenarbeitszeit von 38,75 Stunden und ein Ausgleichszeitraum von drei Monaten vereinbart, innerhalb dessen die tarifliche Wochenarbeitszeit im Durchschnitt nicht überschritten werden durfte.
Mit Schreiben vom 26. September 2002 kündigte die Arbeitgeberin die BV 36/97 zum 31. März 2003. Eine einvernehmliche Neuregelung kam nicht zustande. Auf Antrag der Arbeitgeberin wurde gerichtlich eine Einigungsstelle “Arbeitszeit Distributions-/Vertriebszentrum” eingesetzt. Diese beschloss am 15. März 2004 mit der Stimme des Vorsitzenden, die BV 36/97 mit bestimmten Änderungen wieder in Kraft zu setzen. Die Änderungen bestanden darin, dass der Ausgleichszeitraum von drei auf sechs Monate verlängert, die höchstzulässige Anzahl der Guthabenstunden von 31 auf 50, die der Minusstunden von 15,5 auf 25 erhöht und für die Monate September bis November eines jeden Jahres eine Nachtschicht eingeführt wurde; diese kann nur auf freiwilliger Basis oder durch Arbeitnehmer mit entsprechender vertraglicher Verpflichtung besetzt werden.
Der Spruch der Einigungsstelle wurde dem Betriebsrat am 22. März 2004 zugeleitet. Mit Schriftsatz vom 31. März 2004 hat er den Spruch angefochten. Er hat die Ansicht vertreten, im Bereich der Arbeitszeitverteilung sei eine Ersetzung seiner Zustimmung durch die betriebliche Einigungsstelle tariflich ausgeschlossen. Dies folge aus § 2 I Nr. 1 Abs. 4 bis 7 des Manteltarifvertrags vom 24. Juni 1992 idF vom 18. April 2002 (MTV 2002). Danach könne nur eine freiwillige Einigung der Betriebsparteien den Eintritt der tariflichen Auffangregelung verhindern. Im Übrigen habe die Einigungsstelle ihr Ermessen überschritten. Die von ihr getroffenen Regelungen über die Erweiterung des Ausgleichszeitraums und die Einrichtung einer Nachtschicht seien durch objektive betriebliche Bedürfnisse nicht gedeckt.
Mit Änderungstarifvertrag vom 16. Juni 2005 haben die Tarifvertragsparteien § 2 I Nr. 1 MTV 2002 mit Wirkung vom 1. Juli 2005 in einigen Punkten modifiziert. Die bisherigen Absätze 4 bis 6 entsprechen nunmehr der Protokollnotiz II Abs. 3 bis 5 des MTV in neuer Fassung (MTV 2005). In der Rechtsbeschwerdeinstanz hat der Betriebsrat sein Begehren dieser Änderung förmlich angepasst und zuletzt beantragt
1. festzustellen, dass der Spruch der betrieblichen Einigungsstelle vom 15. März 2004 zu Fragen der Arbeitszeit unwirksam ist;
2. festzustellen, dass die Regelung der Verteilung der Arbeitszeit gemäß den Absätzen 3 bis 5 der Protokollnotiz II und gemäß § 2 I Nr. 1 Abs. 5 des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 idF vom 16. Juni 2005 seiner freiwilligen Zustimmung bedarf, die nicht durch einen Spruch der Einigungsstelle ersetzt werden kann.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Dem haben die Vorinstanzen entsprochen. Mit der vom Senat (31. Mai 2005 – 1 ABN 4/05 –) zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat sein Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist unbegründet. Seine Feststellungsanträge sind zulässig, aber unbegründet. Der Spruch der Einigungsstelle vom 15. März 2004 ist wirksam. Die maßgeblichen tariflichen Regelungen schließen die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur betrieblichen Arbeitszeitverteilung durch einen Spruch der Einigungsstelle nicht aus. Der Spruch verstößt weder gegen Rechtsvorschriften noch ist er ermessensfehlerhaft.
I. Die Anträge sind zulässig.
1. Das gilt zunächst für den Antrag zu 1.
a) Der Antrag bedarf der Auslegung. Er ist darauf gerichtet, die Unwirksamkeit “des Spruchs” der Einigungsstelle festzustellen. Vom Wortlaut werden damit sämtliche Regelungen des Spruchs erfasst. Dies entspricht nicht dem wirklichen Willen des Betriebsrats. Dieser wehrt sich erkennbar nicht gegen den Spruch der Einigungsstelle insgesamt, sondern nur gegen diejenigen Regelungen, mit denen die Bestimmungen der gekündigten BV 36/97 geändert bzw. ergänzt worden sind. Soweit die Einigungsstelle die Regelungen der BV 36/97 wieder in Kraft gesetzt hat, stellt der Betriebsrat die Wirksamkeit des Spruchs vom 15. März 2004 nicht in Frage. Der Feststellungsantrag zu 1 ist deshalb als auf die betreffenden Änderungen begrenzte Teilanfechtung des Einigungsstellenspruchs zu verstehen. Der Betriebsrat hat die Richtigkeit dieses Verständnisses in der Anhörung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt.
b) Die entsprechende Teilanfechtung ist zulässig. Gegen die auf einen Teil der Regelungen beschränkte Anfechtung des Spruchs einer Einigungsstelle bestehen auch im Hinblick auf § 256 Abs. 1 ZPO jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sie sich auf ein selbständig feststellbares Teilrechtsverhältnis bezieht und die Betriebsparteien die übrigen Regelungen übereinstimmend gelten lassen wollen (BAG 24. Januar 2006 – 1 ABR 6/05 – zur Veröffentlichung vorgesehen ≪zVv.≫, zu B II 2 der Gründe). Das ist hier der Fall.
Allerdings ist im Streitfall die Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeitverteilung sachlich unvollständig und unpraktikabel, wenn sie nicht auch eine Regelung über den Ausgleichszeitraum für die Erreichung der durchschnittlichen tariflichen Wochenarbeitszeit und die zulässige Schwankungsbreite des Arbeitszeitkontos enthält; nur die Einführung einer Nachtschicht kann ersatzlos entfallen, ohne dass die übrigen Regelungen unvollständig werden. Das Vorbringen beider Beteiligten ist unter diesen Umständen dahin zu verstehen, dass im Fall der Unwirksamkeit der von der Einigungsstelle beschlossenen Änderungen der BV 36/97 nicht etwa gar keine Regelung greift, sondern auch insoweit der Rechtszustand nach der gekündigten BV 36/97 wieder eintreten soll.
c) Ein Feststellungsantrag ist die für das Begehren des Betriebsrats zutreffende Verfahrensart. Ein Spruch der betrieblichen Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Die Betriebsparteien streiten im Fall seiner Anfechtung um das (Nicht-)Bestehen eines betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses. Die begehrte gerichtliche Entscheidung hat deshalb feststellende, nicht rechtsgestaltende Wirkung. Dementsprechend ist die Feststellung der Unwirksamkeit des Spruchs zu beantragen und nicht seine Aufhebung (BAG 24. Januar 2006 – 1 ABR 6/05 – zVv., zu B II 2 der Gründe; 22. Juli 2003 – 1 ABR 28/02 – BAGE 107, 78, zu B II 1 der Gründe mwN).
2. Zulässig ist auch der Antrag zu 2. Die Anforderungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt. Der Antrag ist auf das (Nicht-)Bestehen eines betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses gerichtet. Das erforderliche besondere Feststellungsinteresse ist gegeben. Zwischen den Beteiligten besteht Streit über das Ausmaß des Mitbestimmungsrechts bei der Verteilung der tariflichen Arbeitszeit. Der Streit kann sich auch zukünftig jederzeit wiederholen. Er wird durch eine Entscheidung über den Antrag zu 1 und die Wirksamkeit des Spruchs der Einigungsstelle vom 15. März 2004 nicht notwendig beigelegt. Es ist nicht auszuschließen, dass auf die Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruchs aus Gründen zu erkennen ist, für die es auf den Umfang des Mitbestimmungsrechts nicht ankommt. Dann bliebe dieser Umfang ungeklärt. Das begründet ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis.
3. Beide Anträge sind nicht deshalb unzulässig, weil sie auf die aktuelle tarifliche Rechtslage abstellen. Auf Grund der Änderung von § 2 I Nr. 1 MTV 2002 und der Verschiebung der dortigen Absätze 4 bis 6 in die Protokollnotiz II des MTV 2005 ist keine unzulässige Antragsänderung im Rechtsbeschwerdeverfahren eingetreten.
Im Streitfall ist die Änderung der Rechtslage in der Rechtsbeschwerdeinstanz zu berücksichtigen. Für den Antrag zu 2 folgt dies daraus, dass er als gegenwarts- und zukunftsbezogener Antrag ohnehin auf eine Feststellung nach Maßgabe der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Rechtslage gerichtet ist. Für den Antrag zu 1 beruht dies darauf, dass auch Gegenstand eines Verfahrens über die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs regelmäßig die Frage ist, ob die in dem Spruch liegende Betriebsvereinbarung gegenwärtig eine gültige betriebliche Regelung darstellt. Verfahrensgegenstand ist dagegen nicht – zumindest nicht ausschließlich – die Frage, ob der betreffende Spruch im Zeitpunkt der Beschlussfassung der Einigungsstelle eine wirksame betriebliche Regelung war. Für die Annahme eines allein vergangenheitsbezogenen Feststellungsbegehrens bedürfte es einer entsprechenden zeitlichen Begrenzung durch den Antragsteller, an der es jedenfalls im Streitfall fehlt.
Mit einer wesentlichen Änderung der entscheidungserheblichen rechtlichen Verhältnisse kann allerdings eine Änderung des Verfahrensgegenstands und damit eine Antragsänderung verbunden sein, selbst wenn sich weder der Antragswortlaut noch der ihm zugrunde liegende tatsächliche Lebenssachverhalt geändert haben (BAG 25. Januar 2005 – 1 ABR 61/03 – AP BetrVG 1972 § 99 Einstellung Nr. 48 = EzA BetrVG 2001 § 99 Nr. 7, zu B I 1 der Gründe mwN). Eine solche Änderung der Rechtslage ist jedoch nicht eingetreten. Der MTV 2005 weist im hier interessierenden Zusammenhang keine sachlichen Abweichungen von den Regelungen des MTV 2002 auf. Es wurden lediglich die bislang in § 2 I Nr. 1 Abs. 4 bis 6 MTV 2002 enthaltenen Bestimmungen in die Protokollnotiz II MTV 2005 verschoben und § 2 I Nr. 1 MTV 2005 um zwei weitere – sachnahe – Regelungen ergänzt; der neue Abs. 5 entspricht dem früheren Abs. 7. Eine den Verfahrensgegenstand berührende wesentliche materielle Änderung der Rechtslage war damit nicht verbunden.
II. Der Antrag zu 1 ist unbegründet. Der Einigungsstellenspruch vom 15. März 2004 ist wirksam. Die Einigungsstelle war für die vom Betriebsrat angefochtenen Regelungen zuständig. Ihr Spruch hat Ermessensgrenzen nicht überschritten.
1. Gem. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei der Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen und der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage. Der Spruch der Einigungsstelle vom 15. März 2004 hält sich, soweit er angefochten wurde, in diesem Rahmen. Gemäß Nr. 1 des Spruchs wird der Zeitraum in Nr. 4.1 der BV 36/97, innerhalb dessen die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit eingehalten werden muss, von drei auf sechs Monate verlängert. Die Regelung betrifft Fragen der Lage und der Verteilung der Arbeitszeit im Sinne des gesetzlichen Mitbestimmungstatbestands. In Nr. 2 des Spruchs wird die zulässige Schwankungsbreite des Arbeitszeitkontos nach Nr. 4.3 BV 36/97 auf 50 Plus- und 25 Minusstunden erweitert. Auch dabei handelt es sich um eine Angelegenheit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Nach Nr. 3 des Spruchs wird für die Monate September bis November eines Jahres auf freiwilliger oder vertraglicher Basis eine Nachtschicht von 22.00 Uhr bis 6.15 Uhr eingerichtet. Das ist ebenfalls von § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG gedeckt.
2. Der Zuständigkeit der Einigungsstelle steht § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG nicht entgegen.
a) Nach dieser Regelung hat der Betriebsrat nicht nach § 87 Abs. 1 BetrVG mitzubestimmen, soweit die betreffende Angelegenheit tariflich geregelt ist. Der Ausschluss des Mitbestimmungsrechts setzt voraus, dass die Tarifvertragsparteien selbst über die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit eine zwingende und abschließende inhaltliche Regelung getroffen und damit dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts Genüge getan haben; die Tarifvertragsparteien können das Mitbestimmungsrecht nicht ausschließen oder einschränken, ohne die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst zu regeln (BAG 17. November 1998 – 1 ABR 12/98 – BAGE 90, 194, zu B II 2a aa der Gründe mwN). Unter dieser Voraussetzung können sie den Betriebsparteien auch die Möglichkeit eröffnen, von der tariflichen Regelung durch eine freiwillige, nicht durch Spruch der Einigungsstelle erzwingbare Regelung abzuweichen (BAG 9. Dezember 2003 – 1 ABR 49/02 – BAGE 109, 71, zu B II 1b aa der Gründe).
b) Derartige Regelungen haben die Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Gegenstände des angefochtenen Teils des Einigungsstellenspruchs nicht getroffen. Insoweit enthält der MTV 2005 lediglich bestimmte Rahmenvorgaben, deren konkrete Ausfüllung nicht vom einvernehmlichen Zustandekommen einer Betriebsvereinbarung abhängig ist.
aa) Der von der Einigungsstelle beschlossene Ausgleichszeitraum für die Einhaltung der tariflichen Wochenarbeitszeit hält sich im Rahmen der tariflichen Vorgaben. Gemäß § 2 I Nr. 1 Abs. 2 MTV 2005 kann er auf bis zu zwölf Monate verlängert werden. Für die Annahme, dass die dazu erforderliche Betriebsvereinbarung – anders als im Regelfall – nur eine freiwillige sein und nicht durch Spruch der Einigungsstelle herbeigeführt werden könne, bieten Wortlaut und Gesamtzusammenhang der Tarifvorschrift keinerlei Anhaltspunkte. Die Regelung in § 2 I Nr. 1 Abs. 3 MTV 2005 spricht für das Gegenteil. Dort heißt es, Arbeitgeber und Betriebsrat könnten den Verteilzeitraum “durch freiwillige Betriebsvereinbarung” auf bis zu 36 Monate verlängern. Der Vergleich der beiden Bestimmungen zeigt, dass die Tarifvertragsparteien im gegebenen Sachzusammenhang deutlich zum Ausdruck gebracht haben, wo sie das freiwillige Zustandekommen einer Betriebsvereinbarung verlangen.
bb) Über den zulässigen Umfang der Schwankungsbreite der Arbeitszeitkonten enthält der MTV 2005 keine Bestimmungen. Die in § 2 V Abs. 3 MTV 2005 vorgesehene Höchstgrenze von 16 Plus- oder Minusstunden gilt nur für Arbeitnehmer mit gleitender Arbeitszeit. Eine solche sehen der Spruch der Einigungsstelle und die BV 36/97 für die von ihnen erfassten Arbeitnehmer nicht vor.
cc) Für die Einrichtung einer Nachtschicht bedurfte es ebenfalls keiner freiwillig zustande gekommenen Betriebsvereinbarung. § 2 II MTV 2005 sieht allerdings vor, dass “Beginn und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit und der Pausen betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat geregelt werden”. Einvernehmen verlangt regelmäßig innere Zustimmung. Die Bestimmung schließt eine Regelungskompetenz der Einigungsstelle gleichwohl nicht aus. Tarifverträge sind im Zweifel so auszulegen, dass sich ihre Regelungen als gesetzeskonform erweisen (BAG 29. September 2004 – 1 ABR 29/03 – BAGE 112, 87, zu B III 2b aa der Gründe; für Betriebsvereinbarungen 24. Januar 2006 – 1 ABR 6/05 – zVv., zu B II 3c aa (1) der Gründe mwN). Danach liegt in § 2 II MTV 2005 allenfalls eine deklaratorische, die gesetzlichen Beteiligungsrechte des Betriebsrats nur wiederholende Regelung. Das gesetzliche Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird dagegen nicht tariflich auf einen durch die Einigungsstelle nicht zu ersetzenden Zustimmungsvorbehalt erweitert. Der Wortsinn schließt nicht gänzlich aus, auch eine durch die Einigungsstelle ersetzte Zustimmung als “Einvernehmen” zu verstehen. Dieses Verständnis ist geboten. Andernfalls wäre die Vorschrift gesetzeswidrig. In ihr läge zum Nachteil des Arbeitgebers ein Verstoß gegen § 87 Abs. 2 BetrVG. Da die Tarifvertragsparteien selbst Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit nicht festgelegt haben, würde ein in § 2 II MTV 2005 vorgesehener Freiwilligkeitsvorbehalt dazu führen, dass im Fall einer Nichteinigung der Betriebsparteien eine für den Betrieb geltende Regelung zur Lage der Arbeitszeit überhaupt nicht möglich wäre.
c) Entgegen der Ansicht des Betriebsrats folgt die Unzuständigkeit der Einigungsstelle auch nicht aus der mit § 2 I Nr. 1 Abs. 4 MTV 2002 inhaltsgleichen Protokollnotiz II Abs. 3 MTV 2005. Danach fallen, wenn sich Arbeitgeber und Betriebsrat bei der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Wochenstunden nicht über die Verteilung einigen, je Arbeitswoche 1,5 Stunden unbezahlter Freizeit an; sie ist bei Aufrechterhaltung der bisherigen Betriebsnutzungs- und Ansprechzeiten im wöchentlichen Turnus abwechselnd an den verschiedenen Wochenarbeitstagen zu gewähren. Aus dieser Vorschrift folgt nicht die Notwendigkeit einer freiwilligen betrieblichen Regelung und der Ausschluss eines Spruchs der Einigungsstelle über die Verteilung der tariflichen Wochenarbeitszeit und die mit ihr in Zusammenhang stehenden Fragen. Das ergibt die Auslegung.
aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags richtet sich nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei nicht eindeutigem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Verbleiben gleichwohl Zweifel, können die Gerichte weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags und die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und gesetzeskonformen Regelung führt (BAG 29. September 2004 – 1 ABR 29/03 – BAGE 112, 87, zu B III 2b aa der Gründe).
bb) Der Wortlaut der Protokollnotiz II Abs. 3 MTV 2005 schließt schon die Kompetenz der Einigungsstelle zur erstmaligen betrieblichen Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Stunden nicht aus. Das tarifliche Erfordernis einer Einigung der Betriebsparteien ist nicht dahin zu verstehen, dass nur eine freiwillig zustande gekommene betriebliche Regelung die Geltung der tariflichen Auffangregelung ausschließen kann. Die Vorschrift sieht ein Freiwilligkeitserfordernis weder ausdrücklich vor noch ist es mit dem Begriff “einigen” notwendig verbunden. In einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit ersetzt nach § 87 Abs. 2 BetrVG der Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Er führt sie damit ersatzweise herbei. Eine “Einigung” liegt deshalb auch dann vor, wenn eine betriebliche Regelung durch Spruch der Einigungsstelle getroffen wurde.
cc) Dies folgt auch aus Sinn und Zweck der Auffangregelung. Sie soll eine sofort wirksame Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitverkürzung in den einzelnen Betrieben gewährleisten. Die Tarifvertragsparteien mussten damit rechnen, dass die Zeit zwischen dem Abschluss des Manteltarifvertrags vom 24. Juni 1992 und dem In-Kraft-Treten der Arbeitszeitverkürzung am 1. April 1993 nicht ausreichen könnte, um überall betriebliche Arbeitszeitregelungen auf der Basis der neuen Wochenarbeitszeit herbeizuführen. Einen damit verbundenen Aufschub des praktischen Wirksamwerdens der Arbeitszeitverkürzung soll die Auffangregelung in § 2 I Nr. 1 Abs. 4 (zwischenzeitlich Abs. 3) des Manteltarifvertrags in seinen Fassungen der Jahre bis 2002 und in Protokollnotiz II Abs. 3 MTV 2005 vermeiden. Den Tarifvertragsparteien ging es dagegen nicht darum, den gesetzlichen Weg zur Herbeiführung einer entsprechenden betrieblichen Arbeitszeitregelung zu modifizieren und einzuschränken. Für einen solchen Willen gibt es angesichts des Tarifziels keinen Anhaltspunkt. Das tarifliche Ziel einer sofort wirksamen Arbeitszeitverkürzung ist auch dann erreicht, wenn der Spruch einer Einigungsstelle die betriebliche Arbeitszeitverteilung auf der Basis der 37,5-Stunden-Woche regelt. Es ist nicht erkennbar, warum die Tarifvertragsparteien den Nichteintritt der tariflichen Auffangregelung vom freiwilligen Zustandekommen einer solchen Regelung hätten abhängig machen sollen.
dd) Die Auslegung zeigt ferner, dass die Protokollnotiz II Abs. 3 MTV 2005 den Konflikt der Beteiligten nach ihrem Geltungsanspruch gar nicht erfasst.
Die Beteiligten streiten nicht über die Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitverkürzung des Jahres 1993. Dazu haben sie mit der Betriebsvereinbarung 28/93 schon vor deren In-Kraft-Treten eine – freiwillig zustande gekommene – Regelung getroffen. Schon bei Abschluss der BV 36/97 und erst recht bei ihrer modifizierten Wiedereinführung durch den Spruch der Einigungsstelle vom 15. März 2004 ging es demnach nicht mehr um die “Verteilung der Arbeitszeitverkürzung”. Die Beteiligten streiten vielmehr nach längst erfolgter betrieblicher Implementierung der 37,5-Stunden-Woche auf deren Grundlage über bestimmte sonstige Fragen der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung.
Dieser Konflikt wird vom Regelungsbereich der Protokollnotiz II Abs. 3 MTV 2005 nicht erfasst. Der Geltungsanspruch der Vorschrift ist schon nach dem Wortlaut auf den Fall der Nichteinigung “bei der Arbeitszeitverkürzung” beschränkt. Die in ihr vorgesehene Auffangregelung greift nur dann und nur solange ein, wie weder eine freiwillige Vereinbarung noch ein Spruch der Einigungsstelle die Umsetzung der Arbeitzeitverkürzung durch eine entsprechende Arbeitszeitverteilung regelt. Sobald dagegen die Arbeitszeitverkürzung einmal durch Übereinkunft der Betriebsparteien oder Spruch der Einigungsstelle betrieblich umgesetzt worden ist, ist die Regelung mit Blick auf den betreffenden Betrieb bedeutungslos geworden.
Dieses Verständnis wird dadurch bestärkt, dass die Tarifvertragsparteien die Bestimmung mittlerweile aus dem eigentlichen Vertragstext in eine Protokollnotiz verschoben haben. Dies wäre unverständlich, wenn der Regelung im Konfliktfall generelle Bedeutung für sämtliche Fragen der Arbeitszeitverteilung zukommen sollte. Ein anderes Verständnis würde überdies zu völlig sachwidrigen Ergebnissen führen. Es müsste dann bei einem Streit über die betriebliche Arbeitszeitverteilung ggf. auch noch nach Jahren zunächst die betriebliche Arbeitszeitregelung aus der Zeit vor der tariflichen Arbeitszeitverkürzung des Jahres 1993 wieder in Kraft treten, damit die Auffangregelung tatsächlich greifen könnte, obwohl im Betrieb eine mitbestimmte und nachwirkende Arbeitszeitregelung auf der Basis einer 37,5-Stunden-Woche bereits gilt. Das ist auch praktisch nicht durchführbar. Der Konflikt der Beteiligten unterfällt in Wirklichkeit den Regelungen des § 2 II MTV 2005 und nicht der Protokollnotiz II Abs. 3.
3. Der Spruch der Einigungsstelle überschreitet nicht die Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens iSv. § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG.
a) Die Frage, ob die der Einigungsstelle gezogenen Grenzen des Ermessens eingehalten sind, ist eine Rechtsfrage, die der uneingeschränkten Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht unterliegt. Es geht um die Wirksamkeit einer kollektiven Regelung, die von der Wahrung des der Einigungsstelle eingeräumten Gestaltungsrahmens abhängig ist. Insoweit gilt nichts anderes als für die gerichtliche Inhaltskontrolle von Betriebsvereinbarungen (BAG 6. Mai 2003 – 1 ABR 11/02 – BAGE 106, 95, zu B II 2e aa der Gründe).
Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung des von der Einigungsstelle ausgeübten Ermessens ist, ob die Regelung im Verhältnis zwischen den Betriebsparteien untereinander einen billigen Ausgleich der Interessen von Arbeitgeber und Betriebsrat als Sachwalter der Belegschaft darstellt. Die gerichtliche Beurteilung bezieht sich allein auf die getroffene Regelung. Eine Überschreitung der Grenzen des Ermessens iSv. § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG muss die Regelung selbst als Ergebnis des Abwägungsvorgangs betreffen, nicht die von der Einigungsstelle angestellten Erwägungen, sofern diese überhaupt bekannt gegeben worden sind. Ein rechtlich erheblicher Fehler iSv. § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG liegt demnach nur vor, wenn sich die von der Einigungsstelle getroffene Regelung nicht als angemessener Ausgleich der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer erweist. Dagegen ist ohne Bedeutung, ob die von der Einigungsstelle angenommenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zutreffen, ihre weiteren Überlegungen frei von Fehlern sind und eine erschöpfende Würdigung aller Umstände zum Inhalt haben (BAG 6. Mai 2003 – 1 ABR 11/02 – BAGE 106, 95, zu B II 2a der Gründe; 29. Januar 2002 – 1 ABR 18/01 – BAGE 100, 239, zu B I 2c bb der Gründe; Fitting 23. Aufl. § 76 Rn. 105 mwN).
b) Danach liegt hier eine Ermessensüberschreitung durch die Einigungsstelle nicht vor. Die von ihr getroffenen, die Bestimmungen der BV 36/97 modifizierenden Regelungen zur Dauer des Ausgleichszeitraums, zum Umfang der höchstzulässigen Schwankungsbreiten des Arbeitszeitkontos und zur Einführung einer dreimonatigen, nur auf freiwilliger oder vertraglicher Basis zu besetzenden Nachtschicht stellen keinen unangemessenen, die Belange der Belegschaft gänzlich vernachlässigenden Ausgleich widerstreitender Interessen dar. Es ist nicht einmal vom Ansatz her zu erkennen, worin eine unangemessene Bevorzugung der Interessen der Arbeitgeberin und die einseitige Zurücksetzung der Arbeitnehmerbelange liegen sollten. Die entsprechende Würdigung des Spruchs der Einigungsstelle durch das Landesarbeitgericht ist rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden.
III. Der Antrag zu 2 konnte aus den vorstehenden Gründen ebenfalls keinen Erfolg haben.
Unterschriften
Schmidt, Linsenmaier, Kreft, Wisskirchen, Peter Berg
Fundstellen
Haufe-Index 1603999 |
DB 2006, 2468 |