Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge
Leitsatz (amtlich)
Die Zwei-Wochen-Frist des § 78a Abs. 2 Satz 1 ArbGG beginnt mit der positiven Kenntnis des Beschwerdeführers von der Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Orientierungssatz
Art. 103 Abs. 1 GG schützt nicht davor, dass das Gericht dem Vortrag der Beteiligten in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht die aus deren Sicht richtige Bedeutung beimisst.
Normenkette
ArbGG § 78a
Verfahrensgang
Tenor
Tatbestand
A. Die Parteien haben über den zeitlichen Umfang der Arbeitspflicht gestritten. Das Arbeitsgericht hat der zunächst auf eine Verurteilung zur Beschäftigung im Umfang von 40 Stunden in der Woche gerichteten Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts zum Teil abgeändert und unter Klageabweisung im Übrigen die Beklagte verurteilt, die Klägerin 35 Stunden wöchentlich zu beschäftigen. Der Senat hat mit Urteil vom 7. Dezember 2005 (– 5 AZR 535/04 –) die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt wird, dass die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Klägerin jedenfalls seit dem 19. April 2003 35 Stunden beträgt und die Klägerin verpflichtet ist, auf Anforderung der Beklagten bis zu 40 Stunden wöchentlich regelmäßig zu arbeiten. Dagegen richtet sich die auf Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützte Rüge der Beklagten.
Entscheidungsgründe
B. Die Rüge ist unzulässig.
I. Die Rüge ist fristgerecht erhoben worden. Nach § 78a Abs. 2 Satz 1 ArbGG ist die Rüge innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Angesichts des klaren Wortlauts der Bestimmung ist die positive Kenntnis der Verletzung des rechtlichen Gehörs für den Fristbeginn maßgeblich und nicht das Kennenmüssen (ebenso GK-ArbGG/Dörner Stand September 2005 § 78a Rn. 21 sowie zu dem insoweit gleichlautenden § 321a Abs. 2 Satz 1 ZPO Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 64. Aufl. § 321a Rn. 23; im Grundsatz auch Düwell/Lipke/Treber ArbGG 2. Aufl. § 78a Rn. 39, der allerdings ein Kennenmüssen ausreichen lässt, wenn sich die Partei oder ihr Vertreter der Kenntnisnahme bewusst verschließt; aA Bepler RdA 2005, 65, 67; ErfK/Koch 6. Aufl. § 78a ArbGG Rn. 4, die ein Kennenmüssen ausreichen lassen). Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat durch Eidesstattliche Versicherung sowie durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht, erst am 27. März 2006 das am 17. März 2006 zugestellte Urteil zur Kenntnis genommen zu haben. Die am 10. April 2006 beim Bundesarbeitsgericht eingegangene Rüge ist damit fristgerecht.
II. Die Beklagte hat die Voraussetzungen des § 78a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ArbGG nicht dargelegt.
1. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei müssen die Parteien bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt erkennen können, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbevollmächtigter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und bei seinem Vortrag berücksichtigen. Stellt das Gericht seine Entscheidung ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt ab, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte, wird ihm rechtliches Gehör zu einer streitentscheidenden Frage versagt. Ansonsten ist das Gericht vor Schluss der mündlichen Verhandlung grundsätzlich nicht zur Offenlegung seiner Rechtsauffassung verpflichtet (Senat 31. August 2005 – 5 AZN 187/05 – AP ArbGG 1979 § 72a Rechtliches Gehör Nr. 7 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 104, zu II 1 der Gründe mit Nachw. aus der Rspr. des BVerfG). § 78a ArbGG eröffnet die Selbstkorrektur unanfechtbarer instanzbeendender Entscheidungen in bestimmten Fällen. Es handelt sich wie bei § 321a ZPO um den Sonderfall einer Verfahrensrüge. Die beschwerte Partei soll Gelegenheit erhalten aufzuzeigen, dass das Gericht bei seiner Entscheidung unter Verletzung des Anspruchs auf das rechtliche Gehör von einer fehlerhaften Tatsachengrundlage ausgegangen ist oder dass ihm unter Verletzung des Anspruchs auf das rechtliche Gehör sonstige Rechtsfehler unterlaufen sind. Die Rüge dient keinem Selbstzweck, sondern der Korrektur der Entscheidung. Sie muss nach der dargestellten Fassung des Gesetzes die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung darlegen, dh. begründen, inwiefern bei Wahrung des rechtlichen Gehörs eine günstigere Entscheidung ergangen wäre.
Wird mit der Rüge geltend gemacht, das Gericht habe einen rechtlichen Hinweis unterlassen, ist darzulegen, inwiefern darin eine Verletzung des Anspruchs auf das rechtliche Gehör liegt. Wird mit der Rüge geltend gemacht, das Gericht habe Ausführungen nicht berücksichtigt, ist dies im Einzelnen schlüssig darzutun. Die beschwerte Partei muss einen angeblich übergangenen Sachvortrag bezeichnen und darlegen, dass er entscheidungserheblich ist (GK-ArbGG/Dörner Stand September 2005 § 78a Rn. 28, 36). Hierzu gehört weiter eine Begründung dazu, dass die Tatsachen, die übergangen worden sein sollen, nach § 559 ZPO berücksichtigungsfähig waren (BAG 30. November 2005 – 2 AZR 622/05 (F) – NZA 2006, 452, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu II 2b der Gründe). Der Sachverhalt, der unter Wahrung des rechtlichen Gehörs zu beurteilen gewesen wäre, muss das Begehren der Partei rechtfertigen. Das ist nur bei einem schlüssigen bzw. erheblichen Vortrag der Fall. Art. 103 Abs. 1 GG schützt nicht davor, dass das Gericht dem Vortrag der Beteiligten in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht die aus deren Sicht richtige Bedeutung beimisst (BVerfG 4. August 2004 – 1 BvR 1557/01 – NVwZ 2005, 81, zu III 2b der Gründe).
2. Diesen Anforderungen genügt die Begründung der Rüge nicht.
a) Die Beklagte hat nicht schlüssig geltend macht, der Senat habe den zeitlichen Umfang der Arbeitspflicht überraschend nach der bisherigen tatsächlichen Vertragsdurchführung bestimmt. Sie übersieht, dass bereits das Landesarbeitsgericht hierauf abgestellt hatte. Dies entspricht auch der im Schrifttum hierzu vertretenen Auffassung (siehe die Nachweise auf Bl. 18 des Urteils vom 7. Dezember 2005 – 5 AZR 534/04 –). Auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, der in dem angefochtenen Berufungsurteil bereits behandelt worden ist, muss nicht nochmals nach § 139 ZPO hingewiesen werden. Hinzu kommt, dass auch nach Auffassung des Schrifttums bei einem Verstoß gegen § 12 TzBfG aus der tatsächlichen Vertragsdurchführung auf den mutmaßlichen Vertragswillen zu schließen ist. Bei Anwendung der von der Beklagten zu verlangenden Sorgfalt hätte die Beklagte erkennen können, dass die tatsächliche Vertragsdurchführung für die Bestimmung des zeitlichen Umfangs der Arbeitspflicht wesentlich ist.
b) Soweit die Beklagte in der Rügebegründung der Auffassung ist, der Senat habe “Tatsachenvortrag” aus der Revisionsbegründung vom 27. Januar 2005 übergangen, verkennt sie, dass nach § 559 Abs. 1 ZPO der Beurteilung des Revisionsgerichts nur dasjenige Parteivorbringen unterliegt, das aus dem Berufungsurteil oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist. Außerdem können nur die in § 551 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b ZPO erwähnten Tatsachen berücksichtigt werden. Neuer Tatsachenvortrag ist in der Revisionsinstanz nicht möglich. Gegen den vom Landesarbeitsgericht festgestellten mutmaßlichen Parteiwillen hat die Beklagte im Revisionsverfahren keine Verfahrensrügen erhoben.
C. Die Beklagte hat die Kosten des Rügeverfahrens zu tragen.
Unterschriften
Müller-Glöge, Mikosch, Linck
Fundstellen
Haufe-Index 1535204 |
BAGE 2007, 229 |
BB 2006, 2760 |
ArbRB 2006, 237 |