Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang des Tarifvorbehaltes
Leitsatz (redaktionell)
Der Tarifvorbehalt nach § 77 Abs 3 BetrVG bezieht sich nicht nur auf "materielle Arbeitsbedingungen".
Sind Ausschlußfristen für die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis tarifvertraglich geregelt, so können durch Betriebsvereinbarung auch für die Geltendmachung von Akkordlohnansprüchen keine Ausschlußfristen geregelt werden, sofern nicht die tarifliche Regelung insoweit eine Öffnungsklausel enthält.
Orientierungssatz
Auslegung des § 25 (Ausschlußfristen) des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie vom 17. Mai 1979.
Verfahrensgang
LAG Hamm (Entscheidung vom 11.05.1990; Aktenzeichen 5 Sa 1658/89) |
ArbG Hamm (Entscheidung vom 22.08.1989; Aktenzeichen 1 Ca 1246/88) |
Tatbestand
Die Beklagte zu 1) betreibt eine Fabrik für Damenoberbekleidung (im folgenden nur Beklagte), die Beklagte zu 2) ist ihre persönlich haftende Gesellschafterin.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 1968 als Bügler beschäftigt und arbeitet regelmäßig - wie etwa 95 % der Arbeitnehmer - im Akkord.
Die Akkordentlohnung erfolgt in einem sog. " Bon-System ", das bei der Beklagten allgemein zur Anwendung kommt. Eine Betriebsvereinbarung darüber existiert nicht.
Nach diesem System ist den jeweils zu bearbeitenden Textilmengen eine Laufkarte beigeheftet, die bis zu 100 Bons enthält, die durchnumeriert sind. Der Arbeitnehmer, der diese Textilmenge im Akkord bearbeitet, schneidet sich davon den für den jeweiligen Arbeitsvorgang bestimmten Bon ab und klebt diesen zusammen mit weiteren im Laufe des Tages erarbeiteten Bons tageweise in ein sog. Bonheft ein, das monatlich zweimal, zumindest aber einmal abgerechnet wird. Ein einzelner Bon ist ein schmaler Papierstreifen, der z.B. folgende Zahlen enthält:
106 29,17 188/25
Dabei bedeutet die zweite Zahl den Geld- oder Zeitfaktor und die letzte Zahl hinter dem Schrägstrich die Stückzahl.
In der Vergangenheit war es vorgekommen, daß Arbeitnehmer die in einem Monat verdienten Bons nicht vollständig für diesen Monat in das Bonheft einklebten, sondern in spätere Monate übertrugen. Aus diesem Anlaß schloß die Beklagte mit dem Betriebsrat am 28. März 1984 eine Betriebsvereinbarung, die folgenden Wortlaut hat:
"Bekanntmachung/Vereinbarung
Aus gegebenem Anlaß wurde nach Rücksprache mit
dem Betriebsrat folgende Betriebsvereinbarung ge-
troffen:
a) Bei einer laufenden Lohnabrechnung werden
Bons vom "Vormonat" nur noch bis zu einer
Höhe von 120,-- DM verrechnet]
b) Beträge vom Vormonat, die über 120,-- DM
liegen, werden ggf. nur nach Vorsprache
bzw. Begründung im Lohnbüro anerkannt]
c) Bons der vorletzten Lohnperiode werden
nicht mehr berücksichtigt]
Diese Vereinbarung ist mit monatlicher Frist zum
Quartalsende von jeder Seite kündbar."
Der Kläger hat im April 1988 erarbeitete Bons im Wert von 331,94 DM erst für Mai 1988 in das Bonheft eingeklebt und im Mai 1988 erarbeitete Bons im Wert von 541,98 DM erst im Juni 1988 eingeklebt. Die Beklagte hat daher unter Berufung auf die Betriebsvereinbarung in den Lohnabrechnungen für Mai und Juni 1988 den Bruttoverdienst des Klägers um (331,24 - 120,-- =) 211,94 DM bzw. (541,98 - 120,-- =) 421,98 DM gekürzt.
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei nicht berechtigt, unter Berufung auf die Betriebsvereinbarung seinen verdienten Bruttolohn um die genannten Beträge zu kürzen. Die Betriebsvereinbarung sei den Mitarbeitern nicht zur Kenntnis gebracht worden. Sie sei nicht oder nur ganz kurzfristig ausgehängt worden. Zur Zeit des Abschlusses der Betriebsvereinbarung, nämlich in der Zeit vom 27. März bis 3. April 1984 sei er arbeitsunfähig krank gewesen, so daß er von einem etwaigen Aushang nicht habe Kenntnis nehmen können. Er habe von dieser Betriebsvereinbarung erstmals anläßlich der Kürzung seiner Abrechnung für Mai 1988 erfahren. Auch Betriebsratsmitgliedern sei die Betriebsvereinbarung nicht bekannt gewesen. Bis Mai 1988 sei die von ihm geübte Praxis von der Beklagten auch nicht beanstandet worden. Die in der Betriebsvereinbarung getroffene Regelung greife so weitgehend in die Verdienstmöglichkeiten der Arbeitnehmer ein, daß sie nur durch Einzelregelungen habe erfolgen können, zumindest hätte sie jedem Mitarbeiter bekanntgegeben werden müssen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung des
einbehaltenen Bruttolohnes und von 4 % Zinsen auf
die jeweiligen Nettobeträge zu verurteilen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie halten die getroffene Regelung für zulässig und wirksam. Die Betriebsvereinbarung sei ausgehängt worden und allen Arbeitnehmern bekannt gewesen. In der Vergangenheit hätten Stichproben stattgefunden, bei denen die gerügte Praxis auch bei anderen Arbeitnehmern aufgefallen sei. Denen sei der Verdienst ebenfalls entsprechend gekürzt worden, ohne daß diese dagegen Einwendungen erhoben hätten. Auch dem Kläger sei die Regelung bekannt gewesen. Bei einem Gespräch über die Lohnabrechnung für Mai 1988 zunächst mit dem Lohnbuchhalter und danach in Gegenwart von Betriebsratsmitgliedern habe der Kläger nicht behauptet, die Betriebsvereinbarung nicht zu kennen, vielmehr bestritten, Bons aus dem Vormonat in den nachfolgenden Monat übertragen zu haben.
Die in der Betriebsvereinbarung getroffene Regelung sei erforderlich geworden, weil verschiedene Arbeitnehmer im Hochlohnbereich, namentlich die Bügler, dazu übergegangen seien, Bons zu horten und so die Höhe ihrer monatlichen Verdienste zu steuern. Dies habe zu erheblichen Problemen bei der Lohnabrechnung geführt und eine geordnete Finanzplanung sei nicht mehr möglich gewesen. Auch lasse eine solche Praxis eine zeitnahe Überprüfung der Korrektheit der zur Abrechnung abgegebenen Bons nicht zu.
Das Arbeitsgericht hat nach Vernehmung des Betriebsratsvorsitzenden über das Zustandekommen und den Aushang der Betriebsvereinbarung die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht die Beklagten antragsgemäß verurteilt. Mit der zugelassenen Revision erstreben die Beklagten die Wiederherstellung der Entscheidung des Arbeitsgerichts, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.
Im für allgemeinverbindlich erklärten Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie vom 17. Mai 1979 heißt es - soweit hier von Interesse -:
"§ 14
Entlohnung, Einstufung und Lohnzahlung
...
10. Differenzen zwischen Abrechnung und über-
wiesenem oder ausgezahltem Betrag sind un-
verzüglich geltend zu machen.
Einsprüche gegen die rechnerische Richtig-
keit sind spätestens innerhalb von 14 Tagen
nach Erhalt der Lohnabrechnung geltend zu
machen.
Für sachliche Beanstandungen finden im üb-
rigen die Bestimmungen über Ausschlußfri-
sten nach § 25 Anwendung.
...
§ 15
Entlohnungsgrundsätze und Entlohnungsmethoden
1. Die Löhne sind entweder Zeitlöhne oder Lei-
stungslöhne. Leistungslöhne sind Akkord-
oder Prämienlöhne.
2. Die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen
(Zeitlohn, Akkordlohn, Prämienlohn) ist mit
dem Betriebsrat nach Maßgabe der Bestim-
mungen dieses Tarifvertrages schriftlich zu
vereinbaren.
...
§ 25
Ausschlußfristen
1. Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erlö-
schen bei bestehendem Arbeitsverhältnis für
beide Seiten, wenn sie nicht innerhalb von
drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich
geltend gemacht worden sind.
2. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ...
3. Differenzen der Lohnabrechnung werden nach
§ 14 Ziffer 10 Abs. 1 und 2 behandelt.
..."
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Beklagte hat die Bruttolöhne des Klägers zu Unrecht um die strittigen Beträge gekürzt.
I. Das Landesarbeitsgericht ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß die Betriebsvereinbarung vom 28. März 1984 eine Ausschlußfrist enthalte, weil sie einen entstandenen Lohnanspruch untergehen lasse, wenn die Geltendmachung eines 120,-- DM überschreitenden Lohnteils nicht innerhalb des Lohnabrechnungszeitraumes selbst durch Vorlage der Bons erfolgt. Die Frage, unter welchen Umständen und nach welchen Zeitabläufen einmal entstandene Lohnansprüche verfallen können, sei durch § 25 MTV tarifvertraglich geregelt. Die Betriebsvereinbarung sei daher nach § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam.
Auch wenn man davon ausgehe, daß die Normierung von Ausschlußfristen einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 BetrVG unterliege, entfalle dieses nach dem Eingangssatz zu § 87 Abs. 1 BetrVG doch im vorliegenden Fall, da hier mit § 25 MTV eine tarifliche Regelung bestehe, an die die Beklagte gebunden sei.
II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen.
1. Zutreffend ist zunächst die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Regelung in der Betriebsvereinbarung vom 28. März 1984 setze für die Geltendmachung von Akkordverdiensten eine Ausschlußfrist.
Der Akkordlohn wird mit Abschluß der jeweiligen Akkordarbeit verdient. Von diesem Augenblick an ist ein Anspruch des Arbeitnehmers auf den verdienten Akkordlohn entstanden, mag dieser auch erst zum Zeitpunkt der jeweiligen Lohnabrechnung fällig werden, die im Betrieb der Beklagten jeweils am 10. des Folgemonates für den Vormonat erfolgt. Wenn die Betriebsvereinbarung bestimmt, daß der verdiente Akkordlohn - bis auf einen Betrag von 120,-- DM - in der Akkordabrechnung grundsätzlich nicht berücksichtigt wird, wenn er nicht durch Einkleben der entsprechenden Bons in das Bonheft für den Monat geltend gemacht wird, in dem er verdient worden ist, so bedeutet das, daß der entstandene Lohnanspruch auf diesen Akkordverdienst erlischt, wenn die Bons nicht in das Bonheft für den entsprechenden Lohnabrechnungszeitraum eingeklebt, sondern - wie es der Kläger getan hat - "gehortet" und erst in einem späteren Monat eingeklebt und damit geltend gemacht wird.
2. Die Betriebspartner sind grundsätzlich befugt, in einer Betriebsvereinbarung Ausschlußfristen für die Geltendmachung von Ansprüchen zu normieren.
Das ergibt sich schon aus § 77 Abs. 4 Satz 4 BetrVG, wonach Ausschlußfristen für die Geltendmachung von Rechten, die den Arbeitnehmern durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumt werden, auch in einer Betriebsvereinbarung vereinbart werden können. Aus dieser Bestimmung folgt nicht, daß die Betriebspartner Ausschlußfristen nur für die Geltendmachung von Rechten aus einer Betriebsvereinbarung vereinbaren können. § 77 Abs. 4 Satz 2 und 3 BetrVG dient dem Schutz der durch Betriebsvereinbarung begründeten Ansprüche der Arbeitnehmer. Mit der Bestimmung in Satz 4 dieser Vorschrift wird lediglich ausgeschlossen, daß für die Geltendmachung solcher Ansprüche einzelvertraglich Ausschlußfristen vereinbart werden, ebenso wie der 2. Halbsatz von Satz 4 für solche Ansprüche die einzelvertragliche Abkürzung von Verjährungsvorschriften verbietet.
Die Befugnis zur Vereinbarung von Ausschlußfristen folgt darüber hinaus aus der grundsätzlich umfassenden Regelungskompetenz der Betriebspartner. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. grundlegend den Beschluß vom 18. August 1987, BAGE 56, 18 = AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972) steht den Betriebspartnern die gleiche Regelungsbefugnis zu wie den Tarifvertragsparteien. Auch Arbeitsentgelt und sonstige Arbeitsbedingungen können Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Nur wenn diese durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, wird dadurch die Regelungsbefugnis der Betriebspartner eingeschränkt.
3. Im vorliegenden Falle schließt § 25 MTV die Befugnis der Betriebspartner zur Vereinbarung von Ausschlußfristen aus. Diese Vorschrift regelt abschließend, innerhalb welcher Fristen entstandene Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis geltend gemacht werden müssen, wenn sie nicht mit Ablauf der Ausschlußfrist verfallen sollen.
Der Tarifvorbehalt in § 77 Abs. 3 BetrVG schränkt auch die Befugnis der Betriebspartner ein, in einer Betriebsvereinbarung Ausschlußfristen für die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis zu bestimmen. Auch Ausschlußfristen sind Arbeitsbedingungen, die nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können, wenn sie durch Tarifvertrag - wie hier - geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden.
Soweit im Schrifttum die Ansicht vertreten wird, § 77 Abs. 3 BetrVG betreffe nur materielle Arbeitsbedingungen (vgl. Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 188; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 75; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 77 Rz 73 und die weiteren Nachweise bei Kreutz, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 72), folgt der Senat dieser Ansicht nicht. Der Begriff "sonstige Arbeitsbedingungen" in § 77 Abs. 3 BetrVG wird nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht eingeschränkt. Aus der Voranstellung des Wortes "Arbeitsentgelte" kann eine solche Einschränkung allein nicht hergeleitet werden. Es hätte dann nahegelegen, wie in § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG, den Begriff "vergleichbare Arbeitsbedingungen" zu verwenden. Ohne eine solche Einschränkung sind unter Arbeitsbedingungen wie in § 1 Abs. 1 TVG Rechtsnormen zu verstehen, die den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ordnen.
Für dieses Verständnis spricht insbesondere der Zweck der Regelung in § 77 Abs. 3 BetrVG. Die Vorschrift bezweckt den Schutz der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie (Beschlüsse des Senats vom 22. Mai 1979 - 1 ABR 100/77 - AP Nr. 13 zu § 118 BetrVG 1972; vom 22. Januar 1980, BAGE 32, 350 = AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung; vom 27. Januar 1987, BAGE 54, 147 = AP Nr. 42 zu § 99 BetrVG 1972; vom 24. Februar 1987, BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972). Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie soll dadurch gewährleistet werden, daß den Tarifvertragsparteien ein Vorrang zur kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen eingeräumt wird mit der Folge, daß da, wo die Tarifvertragsparteien von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch gemacht haben, eine entsprechende Befugnis der Betriebspartner entfällt. Nur insoweit, als das Betriebsverfassungsgesetz dem Betriebsrat zum Schutz der Arbeitnehmer für die Regelung von Arbeitsbedingungen ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht eingeräumt hat, muß der Vorrang der Tarifvertragsparteien da zurücktreten, wo die tarifliche Regelung mangels Tarifbindung des Arbeitgebers nicht gilt und daher den Schutz der Arbeitnehmer nicht selbst bewirken kann (Beschluß des Senats vom 24. Februar 1987, BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972). Mit § 87 Abs. 1 BetrVG Eingangssatz und § 112 Abs. 1 BetrVG hat der Gesetzgeber abschließend entschieden, inwieweit die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien durch bestehende oder übliche tarifliche Regelungen nicht beschränkt werden soll. Den Tarifvorrang nach § 77 Abs. 3 BetrVG darüber hinaus nur auf sogenannte "materielle Arbeitsbedingungen" - gleichgültig, wie diese zu den sogenannten "formellen Arbeitsbedingungen" abzugrenzen sind - zu beschränken, ist damit ausgeschlossen. Für eine solche Beschränkung besteht auch kein Anlaß. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, auch im Bereich tariflich geregelter Arbeitsbedingungen deren Regelung durch die Betriebspartner zuzulassen, wenn sie eine betriebsnahe Regelung einzelner Arbeitsbedingungen für geboten oder jedenfalls angebracht halten.
Der Senat folgt damit der Ansicht im Schrifttum, die den Tarifvorbehalt in § 77 Abs. 3 BetrVG auch auf sogenannte formelle Arbeitsbedingungen bezieht (vgl. Kreutz, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 73 f., mit weiteren Nachweisen).
4. Weder § 25 MTV noch dessen Vorschriften in den §§ 14 bis 19 über die gesamte betriebliche Lohngestaltung, insbesondere über die verschiedenen Systeme der Leistungsentlohnung, enthalten eine Bestimmung, nach der den Betriebspartnern das Recht verbleiben soll, für die Geltendmachung verdienter Leistungslöhne von § 25 MTV abweichende Ausschlußfristen zu normieren. Die genannten Vorschriften bestimmen in einer Vielzahl von Fällen, welche Einzelheiten der jeweiligen Entlohnungssysteme durch Betriebsvereinbarung zu regeln sind. Hinsichtlich der Geltendmachung und Abrechnung von Leistungslöhnen findet sich eine solche Bestimmung nicht.
Damit ist die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis - so auch von Akkordlohnansprüchen - abschließend in § 25 MTV geregelt. Eine davon abweichende Regelung von Ausschlußfristen, wie sie die Betriebsvereinbarung vom 28. März 1984 enthält, ist daher nicht möglich. Die Betriebsvereinbarung vom 28. März 1984 ist damit unwirksam.
Dahingestellt bleiben kann, ob der Betriebsrat hinsichtlich von Regelungen über den Nachweis und die Geltendmachung von Leistungslohnansprüchen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 oder 11 BetrVG hat, wie es vom Landesarbeitsgericht und den Parteien erörtert worden ist. Auch bei Annahme eines solchen Mitbestimmungsrechts wäre dieses doch im vorliegenden Falle nach § 87 Abs. 1 BetrVG Eingangssatz ausgeschlossen, da - wie dargelegt - insoweit in § 25 MTV eine tarifliche Regelung besteht.
5. Der Senat verkennt nicht das Interesse der Beklagten an einer ordnungsgemäßen und rechtzeitigen Geltendmachung geleisteter Akkordarbeiten durch das Einkleben der Bons in das Bonheft desjenigen Monats, in dem die Bons erarbeitet wurden. Berechtigt ist insbesondere ihr Interesse zu verhindern, daß durch das "Horten" der Bons der abzurechnende Arbeitsverdienst der einzelnen Monate von den Arbeitnehmern - gleich aus welchen Gründen - gesteuert wird. Die Beklagte ist nicht gehindert, die Arbeitnehmer anzuweisen, die in einem Monat erarbeiteten Bons auch bis zur darauffolgenden Lohnabrechnung zur Abrechnung vorzulegen. Einer solchen Anweisung zu folgen, sind die Arbeitnehmer kraft ihres Arbeitsvertrages verpflichtet. Werden die in einem bestimmten Monat erarbeiteten Bons dahin gekennzeichnet, daß aus ihnen selbst ersichtlich ist, in welchem Monat sie erarbeitet wurden, läßt sich die Einhaltung dieser Anweisung ohne weiteres überprüfen. Es ist dann auch ausgeschlossen, daß "gehortete Bons" zu Unrecht berücksichtigt werden, wenn Lohnfortzahlungsansprüche der Höhe nach auf der Grundlage des Verdienstes in vergangenen Lohnabrechnungszeiträumen berechnet werden müssen. Unzulässig ist es allein, an die verspätete Vorlage der Bons den Verfall des Lohnanspruches ganz oder soweit er 120,-- DM übersteigt, zu knüpfen. Ein Anspruch auf den verdienten Akkordlohn verfällt vielmehr nach § 25 MTV nur dann, wenn die Bons nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit vorgelegt werden. Auch der Lohnanspruch für Akkordarbeiten, für die die Bons zunächst "gehortet" werden, wird zu dem Zeitpunkt fällig, zu dem er hätte abgerechnet werden müssen, und verfällt daher gegebenenfalls drei Monate nach diesem Zeitpunkt.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger die Bons jeweils nur bis zur nächsten Lohnabrechnung "gehortet". Sein Anspruch auf den Lohn für die entsprechende Akkordarbeit ist daher noch nicht verfallen. Die Beklagte war daher nicht berechtigt, den Lohnanspruch des Klägers wie geschehen zu kürzen. Damit erweist sich die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts als zutreffend, so daß die Revision der Beklagten zurückzuweisen war.
Die Kosten der Revision haben nach § 97 ZP0 die Beklagten zu tragen.
Dr. Kissel Matthes Dr. Weller
Rösch Schneider
Fundstellen
Haufe-Index 437287 |
BAGE 67, 377-385 (LT1) |
BAGE, 377 |
BB 1991, 2012 |
BB 1991, 2012-2013 (LT1) |
DB 1991, 1629-1631 (LT1) |
BetrVG, (15) (LT1) |
JR 1991, 440 |
JR 1991, 440 (S) |
NZA 1991, 734-736 (LT1) |
SAE 1992, 193-196 (LT1) |
AP § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt (LT1), Nr 1 |
AR-Blattei, Ausschlußfristen Entsch 135 (LT1) |
AR-Blattei, Betriebsverfassung XIVA Entsch 46 (LT1) |
AR-Blattei, ES 350 Nr 135 (LT1) |
AR-Blattei, ES 530.14.1 Nr 46 (LT1) |
EzA § 77 BetrVG 1972, Nr 39 (LT1) |
MDR 1992, 167-168 (LT1) |