Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer
Leitsatz (redaktionell)
Keine Einbeziehung irrtümlicher Zahlungen in die Verdienstsicherung; Voraussetzungen einer betrieblichen Übung
Normenkette
TVG § 4 Verdienstsicherung, § 1 Tarifverträge: Metallindustrie; BGB § 242
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 14. September 1995 – 4 (9) Sa 1912/94 – aufgehoben.
2. Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob die dem Kläger früher gezahlte Schweißzulage unter die tarifliche Entgeltsicherung fällt.
Der am 24. April 1936 geborene Kläger war vom 1. Februar 1977 bis 30. April 1996 bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis waren die Tarifverträge der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen anzuwenden. § 18 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 29. Februar 1988 (MTV) schreibt eine Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer vor. Die Regelung lautet auszugsweise wie folgt:
„1. Anspruchsvoraussetzungen
Arbeitnehmer nach der
Vollendung des 53. Lebensjahres mit einer Betriebs-/Unternehmenszugehörigkeit von 12 Jahren,
…
haben auf Antrag Anspruch auf Entgeltsicherung, wenn sie wegen gesundheitsbedingter ständiger Minderung ihrer Leistungsfähigkeit auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr eingesetzt werden können und deshalb auf einem geringer bezahlten Arbeitsplatz beschäftigt werden.
…
2. Umfang der Entgeltsicherung
Die Entgeltsicherung beträgt 100 %.
Sie besteht in dem Ausgleich der jeweiligen Differenz zwischen dem oben genannten Prozentsatz des bisherigen Durchschnittsentgelts und dem am neuen Arbeitsplatz erzielten Durchschnittsentgelt, …
…
3. Berechnung des Durchschnittsentgelts
Für die Berechnung des bisherigen Durchschnittsentgelts gelten als Berechnungsgrundlage die letzten 12 abgerechneten Monate vor Antragstellung.
…
Dabei sind zugrunde zu legen:
Tariflohn, tariflicher Monatsgrundlohn, Akkord- und Prämienverdienst, Tarifgehalt, tarifliche Leistungszulagen, tarifliche Gruppenzulage und laufend zum Entgelt gewährte außertarifliche Zulagen;
… Erschwerniszulagen nach § 5 LRA, … bei Arbeitnehmern, die zuletzt in der Regel mindestens fünf Jahre ununterbrochen den jeweiligen Zuschlag erhalten haben.
…”
Der Kläger war zunächst als Schweißer tätig. Ab 1978 setzte sich seine Vergütung aus dem Tariflohn, einer außertariflichen Zulage in Höhe von 0,43 DM und einer sog. Schweißzulage in Höhe von 0,50 DM zusammen. Jedenfalls seit 1984/85 nahm die Schweißzulage an den Tariflohnerhöhungen teil. Zwischen den Parteien ist streitig, ob es sich dabei um eine tarifliche Erschwerniszulage handelte. § 5 des Lohnrahmenabkommens in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens (LRA) regelt die Erschwerniszulagen wie folgt:
„Für Arbeiten, die auszuführen sind unter hohen körperlichen Belastungen oder besonders starken Umgebungseinflüssen, die über die normalen Erschwernisse erheblich hinausgehen, wird für jede derartige Arbeitsstunde ein – nicht akkordfähiger – Zuschlag in Höhe von 6 % des Ecklohnes des Lohntarifvertrages gezahlt.
…”
Die Beklagte zahlte die Schweißzulage sämtlichen in der Schweißereiabteilung tätigen Arbeitnehmern, z. B. auch den dort eingesetzten Staplerfahrern.
Mit Schreiben vom 1. Mai 1989 beantragte der Kläger aus gesundheitlichen Gründen die Zuweisung einer anderen Tätigkeit und tarifliche Entgeltsicherung. Die Beklagte gewährte ihm ab Juli 1989 Entgeltsicherung und bezog die Schweißzulage zunächst ein.
Mit Aushang vom 1. Oktober 1993 wies die Beklagte die Arbeitnehmer darauf hin, daß die tariflichen Anforderungen des § 5 LRA für die Zahlung einer Erschwerniszulage nur an einzelnen Arbeitsplätzen in der Schweißerei erfüllt seien. Den übrigen in der Schweißerei tätigen Arbeitnehmern stehe die Zulage nicht zu. Ab Oktober 1993 werde die irrtümliche Zahlung eingestellt. Seither läßt die Beklagte auch bei der Berechnung der Verdienstsicherung des Klägers die Schweißzulage unberücksichtigt.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Schweißzulage sei bei der Berechnung der Entgeltsicherung nach wie vor zugrunde zu legen. Nach § 18 MTV komme es nicht darauf an, ob die tariflichen Voraussetzungen für eine Erschwerniszulage in den letzten fünf Jahren vorgelegen hätten. Die tatsächliche Zahlung reiche aus. Im übrigen habe es sich bei der Schweißzulage um keine Erschwerniszulage i.S.d. § 5 LRA, sondern um eine übertarifliche Zulage gehandelt. Die Beklagte habe sie unabhängig von den Anforderungen des § 5 LRA gewährt.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß die dem Kläger gewährte Erschwerniszulage bei der Berechnung der Verdienstsicherung gemäß § 18 des Manteltarifvertrages für die Metallindustrie über den 30. September 1993 zu berücksichtigen ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Entgeltsicherung erfasse nur das zu Recht bezogene Durchschnittsentgelt. Die Schweißzulage sei eine Erschwerniszulage i.S.d. § 5 LRA. Sie sei in der Vergangenheit irrtümlich gezahlt worden. Irrtümliche Leistungen könnten jederzeit eingestellt werden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Der Senat kann über den Anspruch des Klägers auf Einbeziehung der Schweißzulage in die Entgeltsicherung nicht abschließend entscheiden. Dazu sind weitere tatsächliche Feststellungen nötig.
I. Entgegen der Ansicht des Klägers ist die Schweißzulage nicht schon deshalb zu berücksichtigen, weil er sie in den letzten fünf Jahren vor Beantragung der Entgeltsicherung tatsächlich erhielt. Zahlungen, auf die Arbeitnehmer keinen Rechtsanspruch haben, sind nicht verdienstgesichert.
1. Nach § 18 Nr. 3 MTV müssen die Arbeitnehmer Erschwerniszulagen des § 5 LRA „mindestens fünf Jahre ununterbrochen … erhalten haben”. Dem Wort „erhalten” läßt sich nicht entnehmen, daß es allein auf die tatsächliche Gewährung ankommt und auch irrtümliche Zahlungen ausreichen. Dieses Wort darf nicht isoliert betrachtet werden. Der Halbsatz, in dem es steht, umschreibt lediglich die zeitliche Berechnungsgrundlage. Welche Zuschläge einzubeziehen sind, ist in diesem Halbsatz nicht angesprochen.
2. Die Entgeltsicherung erstreckt sich nach ihrem Sinn und Zweck nicht auf irrtümliche Zahlungen. Ältere Arbeitnehmer sollen davor geschützt werden, daß sie durch eine altersbedingte Leistungsabnahme Verdiensteinbußen erleiden (BAG Urteil vom 7. Februar 1995 – 3 AZR 402/94 – AP Nr. 6 zu § 4 TVG Verdienstsicherung, zu II 2 b der Gründe; BAG Urteil vom 16. Mai 1995 – 3 AZR 627/94 – AP Nr. 8 zu § 4 TVG Verdienstsicherung, zu 1 b der Gründe). Soweit der Arbeitnehmer bisher keinen Anspruch hatte, erlangt er ihn auch nicht durch die Entgeltsicherung. Die älteren Arbeitnehmer müssen eine Einstellung irrtümlicher Zahlungen ebenso hinnehmen wie alle anderen Arbeitnehmer.
II. Ob der Kläger einen Anspruch auf die Schweißzulage hatte oder diese Zulage irrtümlich gezahlt wurde, ist noch klärungsbedürftig. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Schweißzulage sei als tarifliche Erschwerniszulage gezahlt worden und die Voraussetzungen des § 5 LRA hätten vorgelegen. Für beide Annahmen fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen.
1. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Schweißzulage als tarifliche Erschwerniszulage nach § 5 LRA oder als eine von den tariflichen Voraussetzungen unabhängige Zulage anzusehen ist. Die Einordnung hängt davon ab, wie die Zahlungen aus der Sicht der Arbeitnehmer zu verstehen waren. Es kommt nicht auf die subjektiven Vorstellungen der Beklagten, sondern auf den zum Ausdruck gebrachten Zahlungszweck an. Das Landesarbeitsgericht hat sich damit nicht näher auseinandergesetzt. Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, ihren Sachvortrag zu ergänzen. Bei der Einordnung der Schweißzulage wird das Landesarbeitsgericht u. a. folgendes zu beachten haben:
a) Der Kläger hat zwar die Schweißzulage zunächst als Erschwerniszulage bezeichnet und die Feststellung beantragt, daß die ihm bisher „gewährte Erschwerniszulage bei der Berechnung der Verdienstsicherung … zu berücksichtigen ist”. Daraus allein ergibt sich noch nicht, daß die Beklagte nur eine tarifliche Erschwerniszulage nach § 5 LRA gewähren wollte und dieser Zahlungszweck für den Kläger auch erkennbar war. Das Schreiben des Klägers vom 4. Oktober 1993 und die vorliegende Klage sind Reaktionen auf den Aushang vom 1. Oktober 1993, in dem die Beklagte nicht mehr von Schweißzulage, sondern von Erschwerniszulage spricht. Der Kläger hat der Benennung der Zulage keine rechtliche Bedeutung beigemessen. Nach seiner Rechtsauffassung kam es nur auf die tatsächliche Zahlung an. Dies kann dazu geführt haben, daß er den Ausdruck der Beklagten unbesehen übernommen hat.
b) In den Lohnabrechnungen wird nicht von Erschwerniszulage, sondern von Schweißzulage gesprochen. In der Aufstellung der Lohnarten werden neben der „Erschwerniszul. Tarif” auch Schweiß- und Schmutzzulagen genannt. Dies deutet darauf hin, daß es sich um unterschiedliche Zulagen handelt. Die Schmutz- und Schweißzulagen werden zwar ebenso berechnet wie die tariflichen Erschwerniszulagen. Aus der gleichen Höhe der Zulagen kann aber noch nicht auf ihre Gleichartigkeit geschlossen werden. Selbst wenn beide Parteien die Schweißzulage als Erschwerniszulage ansahen, ist damit noch nicht gesagt, daß die Beklagte sie nur unter den tariflichen Voraussetzungen zahlen wollte. Soweit sich die Beklagte nicht um die Anforderungen des § 5 LRA kümmerte, sondern bewußt großzügiger verfuhr, liegt eine einzelvertragliche Zulage vor, obwohl sich deren Höhe nach § 5 LRA richtete.
c) Wenn die Voraussetzungen für eine Erschwerniszulage nach § 5 LRA offenkundig nicht mehr vorlagen und die Beklagte trotzdem über einen längeren Zeitraum hinweg weiter die Zulage zahlte, ist dies ein starkes Indiz dafür, daß die Beklagte nicht auf die tariflichen Anforderungen abstellen, sondern großzügiger verfahren wollte. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Beklagte allen in der Schweißerei arbeitenden Arbeitnehmern unabhängig von ihrer Tätigkeit die Schweißzulage zahlte. Keine der beiden Parteien hat bisher dargelegt, für welche konkreten Erschwernisse oder aus welchen sonstigen Gründen die Zulage gewährt wurde und inwiefern sich die maßgeblichen Verhältnisse geändert hatten und wann dies geschah.
2. Falls die Schweißzulage als Erschwerniszulage i.S.d. § 5 LRA anzusehen ist, kann eine irrtümliche Zahlung vorliegen. Das Landesarbeitsgericht hat die Voraussetzungen des § 5 LRA mit der Begründung bejaht, nach dem unwidersprochen gebliebenen Sachvortrag des Klägers seien im Betrieb der Beklagten zunächst kaum Entlüftungseinrichtungen vorhanden gewesen. Die in einem schlechten Zustand befindlichen Anlagen seien nach und nach durch bessere ersetzt worden. Diese Argumentation ist nicht stichhaltig. § 18 Nr. 3 MTV stellt darauf ab, ob der Arbeitnehmer in den letzten fünf Jahren vor Antragstellung ununterbrochen die Erschwerniszulage erhielt. Der Kläger hatte den Antrag mit Schreiben vom 1. Mai 1989 gestellt. Für den vorliegenden Rechtsstreit kommt es nicht darauf an, in welchem Zustand sich die Entlüftungsanlagen bei Beginn des Arbeitsverhältnisses im Jahre 1977 befanden. Nach dem vom Landesarbeitsgericht wiedergegebenen Vortrag des Klägers haben sich die Verhältnisse in der Folgezeit verbessert. Daraus läßt sich nicht entnehmen, daß auch noch in den maßgeblichen Jahren 1984 bis 1989 besonders starke Umgebungseinflüsse i.S.d. § 5 LRA vorlagen. Der Kläger hat in der Klageschrift sogar ausdrücklich „anerkannt”, daß zumindest in den letzten Jahren vor 1989 die Voraussetzungen für die Zahlung der Erschwerniszulage entsprechend § 5 LRA nicht mehr vorlagen.
III. Falls die Beklagte die Schweißzulage irrtümlich gezahlt hat, kann sich trotzdem ein Anspruch auf diese Zulage aus betrieblicher Übung ergeben. Eine betriebliche Übung setzt ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers voraus, aus dem die Arbeitnehmer schließen dürfen, ihnen werde die Leistung auch künftig gewährt (BAG Urteil vom 5. Februar 1971 – 3 AZR 28/70 – BAGE 23, 213, 218 f. = AP Nr. 10 zu § 242 BGB Betriebliche Übung, zu I 1 der Gründe; BAG Urteil vom 16. Juli 1996 – 3 AZR 352/95 – AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Betriebliche Übung, zu B I der Gründe, jeweils m.w.N.). Auf die subjektiven Vorstellungen des Arbeitgebers kommt es nicht an. Entscheidend ist, ob der Arbeitnehmer dem Verhalten des Arbeitgebers einen Verpflichtungswillen entnehmen kann. Eine irrtümliche Zahlung des Arbeitgebers verhindert nur dann das Entstehen einer Betriebsübung, wenn der Arbeitnehmer aus den Umständen den Irrtum erkennen kann (BAG Urteil vom 26. Mai 1993 – 4 AZR 130/93 – BAGE 73, 191, 199 f. = AP Nr. 3 zu § 12 AVR Diakonisches Werk, zu II 2 c der Gründe; BAG Urteil vom 28. Mai 1996 – 3 AZR 619/95 –, n.v., zu II 2 c bb der Gründe). Dabei ist u. a. zu berücksichtigen, wie deutlich die Beklagte ihre Vorstellungen zum Ausdruck gebracht hat und wie leicht das Fehlen der Anspruchsvoraussetzungen zu erkennen war. Je offensichtlicher die Anforderungen des § 5 LRA nicht erfüllt waren, desto weniger mußte der Kläger davon ausgehen, daß ein Irrtum vorlag.
Unterschriften
Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Martschin, Kaiser
Fundstellen