Entscheidungsstichwort (Thema)
Masseunzulänglichkeit. Neumasseverbindlichkeit. vorzeitige Kündigung. Auswirkungen der Unwirksamkeit von Kündigungen auf den insolvenzrechtlichen Rang von Annahmeverzugsansprüchen. Verhältnis von § 209 Abs. 2 Nr. 2 zu § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO. unwirksame vorzeitige Kündigung
Leitsatz (amtlich)
Erweist sich eine Kündigung, die das Arbeitsverhältnis spätestens zum ersten Termin beenden würde, zu dem der Verwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, als rechtsunwirksam, gelten die Ansprüche aus Annahmeverzug für die Zeit nach diesem Termin gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten.
Orientierungssatz
1. Stellt der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung frei, sind die Annahmeverzugsansprüche, die bis zum ersten Termin entstehen, zu dem der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, Altmasseverbindlichkeiten. Kündigt der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht zu dem erstmöglichen Termin oder erweist sich die Kündigung als unwirksam, werden dadurch die für die Zeit nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten.
2. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt den Termin fest, bis zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis spätestens beendet haben muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Ist das Arbeitsverhältnis bereits vor der Anzeige der Masseunzulänglichkeit zum selben oder einem früheren Beendigungszeitpunkt gekündigt worden, zu dem es nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit frühestmöglich hätte beendet werden können (vorzeitige Kündigung), so ist der Anwendungsbereich des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO nicht eröffnet, wenn die Kündigung sich als wirksam erweist. Das Arbeitsverhältnis ist in diesem Fall bereits beendet, bevor Neumasseverbindlichkeiten entstehen können.
3. Ist die vorzeitige Kündigung dagegen unwirksam, sind die Annahmeverzugsansprüche, die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehen, Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und sich diese Kündigung als unwirksam erweist.
4. Der Insolvenzverwalter kann das Risiko, durch eine unwirksame Kündigung Neumasseverbindlichkeiten zu begründen, nicht dadurch ausschalten, dass er den Arbeitnehmer freistellt. Anderenfalls wäre § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO überflüssig.
Normenkette
BGB §§ 611, 615; InsO § 208 Abs. 3, § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nrn. 2-3
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Juli 2016 – 6 Sa 23/16 – wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die insolvenzrechtliche Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen.
Die Klägerin war seit 1996 bei dem späteren Schuldner, der bundesweit zahlreiche Drogeriegeschäfte betrieb, zuletzt als Filialleiterin zu einem Bruttomonatsentgelt von 2.680,60 Euro beschäftigt. Über das Vermögen des Schuldners wurde am 28. März 2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser stellte die Klägerin spätestens am 1. Juli 2012 von der Arbeitsleistung frei.
Der Beklagte zeigte am 31. August 2012 die drohende Masseunzulänglichkeit an. Bereits zuvor hatte er das Arbeitsverhältnis der Klägerin ordentlich mit Schreiben vom 28. März zum 30. Juni 2012 und ein weiteres Mal mit Schreiben vom 23. August zum 30. November 2012 gekündigt. Diese Kündigungen wurden ebenso wie eine noch vom Schuldner erklärte Kündigung vom 25. November 2011 zum 31. Mai 2012 rechtskräftig für unwirksam erklärt. Die Rechtskraft der die Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 betreffenden Urteile trat nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ein. Das Arbeitsverhältnis endete am 31. August 2013 nach einer weiteren, am 16. Mai zum 31. August 2013 erklärten Kündigung des Beklagten aufgrund eines im dagegen angestrengten Kündigungsschutzprozess geschlossenen Vergleichs.
Mit ihrer am 1. Juni 2015 erhobenen Klage verlangt die Klägerin Vergütung wegen Annahmeverzugs für die Zeit vom 1. Januar bis 31. August 2013 abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds in rechnerisch unstreitiger Höhe.
Sie hat die Ansicht vertreten, der Beklagte sei rechtlich nicht gehindert gewesen, nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bis Mitte September 2012 die formalen Voraussetzungen für eine wirksame Kündigung, die zum 31. Dezember 2012 hätte erklärt werden können, herbeizuführen. Er habe diese Möglichkeit versäumt, so dass die vom 1. Januar 2013 an bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstandenen Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO seien.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 21.444,80 Euro brutto abzüglich auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener Ansprüche iHv. 8.620,80 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags geltend gemacht, § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO zwinge den Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nur, ein zum erstmöglichen Termin nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige noch nicht gekündigtes Arbeitsverhältnis zu diesem Termin zu kündigen. Eine rechtzeitige Kündigung könne bereits vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit erfolgen. Es bestehe dann kein ungekündigtes Arbeitsverhältnis mehr. Auf die Wirksamkeit dieser Kündigung könne sich der Insolvenzverwalter verlassen.
Die Vorinstanzen haben der Zahlungsklage stattgegeben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Beklagte unter Vertiefung seiner rechtlichen Argumentation weiterhin Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben mit Recht angenommen, dass die geltend gemachten Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO zu berichtigen sind.
I. Die Klage ist zulässig. Ihr liegt die Annahme zugrunde, die streitbefangenen Ansprüche seien Neumasseverbindlichkeiten iSv. §§ 53, 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, die nicht den Vollstreckungsverboten des § 210 InsO und des § 123 Abs. 3 Satz 2 InsO unterfallen. Ergibt die rechtliche Prüfung, dass die erhobene Forderung tatsächlich im Rang einer Altmasseverbindlichkeit steht, ist die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet (zuletzt BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 13 mwN, BAGE 158, 376). Auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis besteht. Der Beklagte hat den Einwand der Neumasseunzulänglichkeit, bei dem auch die Neumassegläubiger ihre Ansprüche nur noch im Weg der Feststellungsklage verfolgen können, nicht erhoben (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – aaO).
II. Die Klage ist begründet. Die streitbefangenen, rechnerisch unstreitigen Ansprüche auf Zahlung des Entgelts vom 1. Januar bis 31. August 2013 aus §§ 611, 615 BGB sind für die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 als dem ersten Termin, zu dem der Beklagte nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, entstanden. Sie sind daher so zu behandeln, als wären sie vom Beklagten nach der Anzeige neu begründet worden. Unerheblich ist, dass der Beklagte mit den Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 vergeblich versucht hat, das Arbeitsverhältnis vor dem Ablauf des 31. Dezember 2012 zu beenden. Diese Kündigungen waren zwar rechtzeitig iSv. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO erklärt. Gleichwohl gelten die Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach diesem Termin bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstanden sind, gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO, weil die Kündigungen unwirksam waren.
1. Ungeachtet der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat der Insolvenzverwalter gemäß § 208 Abs. 3 InsO die noch vorhandene Masse weiter zu verwalten und zu verwerten. Er muss darum die Möglichkeit haben, Ansprüche von Gläubigern, deren Leistung für die Fortführung des Verfahrens unerlässlich ist, auch dann in vollem Umfang zu erfüllen, wenn diese Ansprüche von ihm erst nach der Anzeige begründet worden sind. Anderenfalls würden diese Geschäfte nicht zustande kommen. Die Masse dient darum nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit vorrangig der Befriedigung der vom Insolvenzverwalter eingegangenen neuen Verbindlichkeiten (MüKoInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 209 Rn. 3), die er benötigt, um die Masse weiter zu verwalten. Darum hat sich der Gesetzgeber für die Einführung einer in Alt- und Neumasseverbindlichkeit „gespaltenen” Rangordnung entschieden (KPB/Pape InsO Stand März 2004 § 209 Rn. 3a; MüKoInsO/Hefermehl aaO). Die Anzeige führt danach zu einer Neuordnung der insolvenzrechtlichen Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Die bereits vor der Anzeige begründeten, „drängenden” Masseverbindlichkeiten werden auf den Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO zurückgestuft. Dem Verwalter wird so der Handlungsspielraum gegeben, den er benötigt, um die Verwertung auch bei Masseunzulänglichkeit zum Abschluss zu bringen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 23, 37, BAGE 158, 376).
2. Nach der Grundregel des § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO sind Neumasseverbindlichkeiten die Verbindlichkeiten, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, aber nicht zu den Kosten des Verfahrens gehören. Es handelt sich dabei um Ansprüche, die dem Verwalter nicht aufgezwungen (oktroyiert) worden sind (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 37, BAGE 158, 376), sondern die die Fortführung der Verwaltung der Masse mit sich bringt und zu denen sich der Verwalter deshalb noch nach der Anzeige „bekannt” hat (vgl. Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 34; HK-InsO/Landfermann 8. Aufl. § 209 Rn. 16). Für Dauerschuldverhältnisse wie das Arbeitsverhältnis, bei denen keine Erfüllungswahl nach § 103 InsO möglich ist, sondern die nach § 108 InsO zu Lasten der Masse fortbestehen und die zu ihrer Beendigung einer Kündigung bedürfen, präzisieren und konkretisieren § 209 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 InsO die Abgrenzung zwischen Alt- und Neumasseverbindlichkeiten (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 220; Windel aaO Rn. 35): Leistet der Gläubiger zur Neumasse, weil der Insolvenzverwalter ihn zur Leistung herangezogen hat, sind die dadurch entstandenen, vom Insolvenzverwalter begründeten Entgeltansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO. Unterbleibt die Gegenleistung, zB weil ein Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter freigestellt worden ist, bestimmt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO, welche Verbindlichkeiten aus dem ohne Gegenleistung fortbestehenden Dauerschuldverhältnis im Rang einer Altmasseverbindlichkeit und welche im Rang einer Neumasseverbindlichkeit stehen. Aus dem Dauerschuldverhältnis entstehende Verbindlichkeiten sollen nach dem Willen des Gesetzgebers den vom Insolvenzverwalter nach der Anzeige neu begründeten Verbindlichkeiten nur und so lange gleichstehen, wie er das Dauerschuldverhältnis trotz der erkannten und angezeigten Masseunzulänglichkeit aufrechterhält. Ist wie vorliegend im Arbeitsverhältnis monatliche Entgeltzahlung vereinbart und kündigt der Insolvenzverwalter rechtzeitig, dh. zum ersten Termin, zu dem er nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte”, ist das Entgelt für die Monate bis zum Ablauf der Kündigungsfrist Altmasseverbindlichkeit. Kündigt er nicht rechtzeitig, sind die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten. Der Insolvenzverwalter hat die rechtliche Möglichkeit nicht genutzt, durch eine rechtzeitige Kündigung diese Ansprüche zu verhindern. Sie sind deshalb wie von ihm neu begründete Ansprüche zu behandeln (BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 12, BAGE 118, 222; 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 115, 225; BT-Drs. 12/2443 S. 220).
3. Die Revision nimmt im Ausgangspunkt zutreffend an, dass nach diesen Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO (zu dieser Begrifflichkeit Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 50) der Insolvenzverwalter nicht gezwungen ist, zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten stets auch dann nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit noch eine weitere (vorsorgliche) Kündigung zum erstmöglichen Kündigungstermin zu erklären, wenn er oder der Schuldner das Arbeitsverhältnis bereits vor der Anzeige zum selben oder einem früheren Beendigungszeitpunkt gekündigt hat (vorzeitige Kündigung). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die frühere Kündigung bereits rechtskräftig für wirksam erklärt worden ist, ob die Frist des § 4 KSchG bereits verstrichen ist oder ob kein Bestandsschutz besteht. In den letztgenannten Fällen wird der Insolvenzverwalter allerdings schon im Interesse der Masseschonung idR von einer erneuten Kündigung absehen müssen. Auch wenn wie hier materieller Kündigungsschutz nach § 1 KSchG oder formeller Bestandsschutz, etwa nach § 102 BetrVG oder § 168 SGB IX, besteht und ein Kündigungsschutzprozess noch möglich oder bereits rechtshängig ist, kann der Insolvenzverwalter von einer weiteren Kündigung absehen, wenn er davon ausgeht, die bereits erklärte Kündigung werde das Arbeitsverhältnis zum selben oder einem früheren Zeitpunkt beenden, als es eine nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erstmögliche Kündigung könnte.
4. Die Revision berücksichtigt jedoch nicht, dass der Insolvenzverwalter bei einem solchen Vorgehen das Risiko trägt, dass die vorzeitige Kündigung unwirksam ist. Dann sind die Annahmeverzugsansprüche, die nach Ablauf der Kündigungsfrist der erstmöglichen Kündigung entstanden sind, die nach der Anzeige hätte erklärt werden können, Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO. Dieses Risiko hat sich vorliegend verwirklicht.
a) § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt nur den Termin fest, bis zu dem das Arbeitsverhältnis spätestens beendet worden sein muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Dieser Termin berechnet sich nach dem fiktiven Ablauf der Frist der erstmöglichen Kündigung nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit. Nach dieser gesetzlichen Ausgestaltung ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigt. Ist bereits eine wirksame vorzeitige Kündigung erklärt worden, kommen die Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO nicht zum Tragen, weil diese Kündigung das Arbeitsverhältnis spätestens zum Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist einer rechtzeitig nach der Anzeige erklärten Kündigung beendet. Der Anwendungsbereich des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist in dieser Konstellation nicht eröffnet. Die bis zum fiktiven Ablauf der Kündigungsfrist entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind nach der Verteilungsordnung des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO Altmasseverbindlichkeiten (vgl. ohne weitere Problematisierung für den Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsentgelt BAG 15. Juni 2004 – 9 AZR 431/03 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 111, 80; für die Kündigung eines gewerblichen Mietverhältnisses BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – zu III 1 c der Gründe, BGHZ 154, 358). Gleiches gilt, wenn ein befristetes Arbeitsverhältnis vor oder mit dem Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist ausläuft. Der Insolvenzverwalter ist durch § 90 Abs. 2 Nr. 2 InsO bzw. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur gehalten, Dauerschuldverhältnisse, die bereits vor der Eröffnung bzw. Anzeige der Masseunzulänglichkeit gekündigt worden sind, ein weiteres Mal zu kündigen, wenn dies wegen der kurzen Kündigungsfrist des § 113 InsO eine frühere Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Folge hat (vgl. Breitenbücher in Graf-Schlicker InsO 4. Aufl. § 90 Rn. 2).
b) Ist die vorzeitige Kündigung dagegen unwirksam, sind nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem Termin entstehen, zu dem das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit frühestmöglich hätte beendet werden können, Neumasseverbindlichkeiten. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und diese Kündigung unwirksam ist. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO fingiert für Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem ersten Termin entstehen, zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte”, den Rang einer Neumasseverbindlichkeit. Aus dieser gesetzlichen Formulierung folgt, dass der Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten Dauerschuldverhältnisse, die er für die weitere Verwertung und Verwaltung der Masse nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht mehr benötigt, frühestmöglich beenden muss (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (1) der Gründe). Zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügt es darum nicht, dass eine Kündigung zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erklärt wird. Die Kündigung muss auch wirksam sein. Das Arbeitsverhältnis muss spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin tatsächlich beendet sein (Ries NZI 2002, 521, 523; Ries/Berscheid ZInsO 2008, 1233, 1238 f.; Uhlenbruck/Ries 14. Aufl. § 209 InsO Rn. 24, 32).
aa) Der Gesetzgeber hat bereits dadurch, dass er eine Kündigung verlangt, sobald der Insolvenzverwalter kündigen „kann”, deutlich gemacht, dass Neumasseverbindlichkeiten nur ausgeschlossen sind, wenn das Dauerschuldverhältnis spätestens zum ersten Termin, zu dem der Insolvenzverwalter nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige kündigen konnte, rechtswirksam beendet worden ist.
(1) Mit dem Begriff des „Könnens” stellt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO auf das rechtliche Können ab (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (2) der Gründe). Der Insolvenzverwalter darf – und muss – deshalb zunächst die formellen Voraussetzungen für die Kündigungserklärung schaffen. Vorher „kann” er nicht kündigen. Insbesondere darf er rechtliche Hindernisse, die wie das Erfordernis der Anhörung des Betriebsrats (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – aaO) oder eine erforderliche behördliche Zustimmung (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13) einer wirksamen Kündigung entgegenstehen, beseitigen. Der dafür erforderliche Zeitaufwand hindert ihn rechtlich an der Kündigung des Arbeitsverhältnisses und schiebt den Termin der erstmöglichen Kündigung hinaus.
(2) Dagegen begründet der Insolvenzverwalter nach der gesetzgeberischen Wertung des § 209 InsO Neumasseverbindlichkeiten, wenn er nach der Beseitigung der formalen Hindernisse noch keine Kündigung erklärt, weil er die Voraussetzungen für eine materiell-rechtlich wirksame Kündigung noch nicht geschaffen hat. Der von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegte Termin wird dadurch nicht hinausgeschoben. Verhandelt er zum Beispiel noch mit einem potentiellen Betriebserwerber und sieht vorerst von einer Kündigung ab, weil es noch an einem Kündigungsgrund nach § 1 KSchG fehlt, besteht kein originär rechtliches Hindernis für die Kündigung mehr. Der Umstand, dass noch keine materiell-rechtlich wirksame Kündigung möglich ist, ist allein Folge des Willens des Insolvenzverwalters, noch nicht zu entscheiden, ob er auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers endgültig verzichten will. In einem solchen Schwebezustand kann er Neumasseverbindlichkeiten nicht vermeiden. Nach der gesetzlichen Wertung des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO hätte er kündigen „können” (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13). Tut er das nicht, entstehen Neumasseverbindlichkeiten, weil er nicht gekündigt hat. Kündigt er, wird eine dagegen erhobene Kündigungsschutzklage regelmäßig Erfolg haben. Die dann für die Zeit nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind Neumasseverbindlichkeiten (BAG 31. März 2004 – 10 AZR 253/03 – zu B III 1 d cc der Gründe, BAGE 110, 135).
(3) Der Insolvenzverwalter begründet auch dann Neumasseverbindlichkeiten, wenn sich seine Einschätzung, er habe die formellen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die wirksame Kündigung eines von der Masse nicht mehr benötigten Arbeitsverhältnisses herbeigeführt, im Kündigungsschutzprozess als unzutreffend erweist. Das Arbeitsverhältnis besteht dann über den ersten Termin, zu dem es der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hätte kündigen „können”, fort. Damit sind die für die Zeit nach diesem Termin entstehenden Annahmeverzugsansprüche nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Neumasseverbindlichkeiten. Konsequenz der gesetzlichen Verteilungsordnung ist es, dass der Insolvenzverwalter, der kündigen „kann”, auch dafür zu sorgen hat, dies rechtswirksam zu tun. Es fällt in seinen Verantwortungsbereich, für eine wirksame Umsetzung der Vorgaben des gesetzlichen Kündigungsschutzes zu sorgen (vgl. BAG 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 e der Gründe, BAGE 115, 225). Die Neumasse trägt das Risiko, dass ihm das nicht gelingt.
bb) Der Gesetzgeber hat darüber hinaus für die Abgrenzung von Alt- und Neumasseverbindlichkeiten an die „Kündigung” des Dauerschuldverhältnisses angeknüpft. Auch damit hat er deutlich gemacht, dass eine wirksame Kündigung Voraussetzung ist, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden.
(1) Nach dem juristischen Sprachgebrauch ist die Kündigung eine einseitige rechtsgeschäftliche empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die ein Dauerschuldverhältnis nach dem Willen des Kündigenden mit Wirkung für die Zukunft beendet wird (Staudinger/Oetker (2016) Vorbem zu §§ 620 ff. Rn. 100; MüKoBGB/Hesse 7. Aufl. Vor § 620 Rn. 1; Tilch/Arloth Deutsches Rechts-Lexikon 3. Aufl. Stichwort: Kündigung eines Arbeitsverhältnisses; für das Arbeitsverhältnis: BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 709/14 – Rn. 31, BAGE 154, 40; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 123 Rn. 1; KR/Griebeling/Rachor 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 151). Die Kündigung hat rechtsvernichtenden Charakter (BAG 21. März 2013 – 6 AZR 618/11 – Rn. 15; APS/Preis 5. Aufl. Grundlagen D. Rn. 3). Dieses Begriffsverständnis deckt sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, wonach die Kündigung die Lösung eines Vertrags ist (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort: Kündigung).
(2) Nach dem Wortsinn des Begriffs der „Kündigung” und der Gesetzessystematik genügt es zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nicht, nur eine Kündigung zu erklären. Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten ist vielmehr auch der Erfolg dieser Kündigungserklärung und damit die Beendigung des Dauerschuldverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin. Der Insolvenzverwalter muss sich deshalb nicht nur entscheiden, ob er das Dauerschuldverhältnis mit Wirkung für die Neumasse fortsetzen will. Es muss ihm auch gelingen, diese Entscheidung durch eine wirksame Kündigung oder einen anderen Beendigungstatbestand spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Termin umzusetzen. Anderenfalls tritt die von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorausgesetzte Beendigung des Dauerschuldverhältnisses nicht ein. Das hat die Begründung von Neumasseverbindlichkeiten zur Folge.
(a) Bei Dauerschuldverhältnissen, die wie zum Beispiel Mietverhältnisse über Gewerberäume (vgl. dazu BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – BGHZ 154, 358) keinen Bestandsschutz aufweisen, hat die Kündigung regelhaft den vom Gesetzgeber vorausgesetzten Beendigungserfolg.
(b) Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO dem Begriff der Kündigung für bestandsgeschützte Dauerschuldverhältnisse, wie es das Arbeitsverhältnis ist, einen von dieser Grundregel abweichenden Bedeutungsgehalt geben und den durch die Kündigungserklärung dokumentierten bloßen Beendigungswillen zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügen lassen wollte. Im Gegenteil hat er in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO jegliche Differenzierung nach der Art der Dauerschuldverhältnisse unterlassen, obwohl er den besonderen arbeitsrechtlichen Bestandsschutz erkannt hat und diesem in §§ 113 und 125 ff. InsO Rechnung getragen hat (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13).
cc) Dieses Auslegungsergebnis wird dadurch bestätigt, dass sich die Rechtsfolgen einer Kündigung, die der Insolvenzverwalter zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit unterlassen, also nicht erklärt hat, und einer von ihm zum erstmöglichen Termin erklärten, aber unwirksamen Kündigung nicht unterscheiden. In beiden Fällen besteht das Arbeitsverhältnis aufgrund eines Verhaltens des Insolvenzverwalters über den erstmöglichen Kündigungstermin hinaus zu Lasten der Neumasse fort (vgl. Ries NZI 2002, 521, 523). Sie hat daher in beiden Fällen gleichermaßen für die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche einzustehen.
c) Nach dem Willen des Gesetzgebers ist damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Beendigungstermin Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten. Eine Kündigung, die nach § 1 KSchG oder nach § 134 BGB unwirksam ist, verhindert auch im Fall ihrer Rechtzeitigkeit die Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen für die Zeit nach diesem Beendigungstermin als Neumasseverbindlichkeiten nicht.
5. Der Beklagte hätte deshalb das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis spätestens zum 31. Dezember 2012 wirksam kündigen müssen, um zu vermeiden, dass für die Folgezeit Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO entstehen. Dies ist ihm nicht gelungen. Die Unwirksamkeit der Kündigungen vom 25. November 2011, 28. März und 23. August 2012 ist rechtskräftig festgestellt. Ob das Urteil vom 7. März 2013 (– 4 Ca 1304/12 –), mit dem das Arbeitsgericht Trier die Kündigung vom 23. August 2012 für unwirksam erklärt hat, inhaltlich grob falsch ist, wie der Beklagte vorgetragen hat, ist für die insolvenzrechtliche Verteilungsordnung in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ebenso unerheblich wie der Umstand, dass dieses Urteil rechtskräftig geworden ist, weil der Beklagte die Berufungsfrist versäumt hat.
6. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht die Freistellung der Klägerin der Einordnung der streitbefangenen Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nicht entgegen. Hat wie hier der Insolvenzverwalter nicht rechtzeitig (wirksam) gekündigt, gelten die Annahmeverzugsansprüche aus der Zeit nach dem ersten möglichen Kündigungstermin auch dann als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, wenn der Verwalter den Arbeitnehmer freigestellt hat. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO wäre überflüssig, wenn Neumasseverbindlichkeiten in einem Dauerschuldverhältnis nur entstehen sollten, soweit der Verwalter gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO die Gegenleistung in Anspruch nimmt (BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Fischermeier, Spelge, Heinkel, D. Knauß, Augat
Fundstellen
Haufe-Index 11658961 |
BAGE 2019, 58 |
BB 2018, 1011 |
DB 2018, 1157 |
DB 2018, 21 |
DB 2018, 7 |
DStR 2018, 10 |
DStR 2018, 11 |