Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzforderung. Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Auszahlungsanspruch aus dem ERA-Anpassungsfonds. Zahlung aus ERA-Anpassungsfonds
Leitsatz (amtlich)
Rechtsgeschäfte, die zur Abwicklung der bereits für den Schuldner begründeten Verpflichtungen erforderlich sind und die keine Mehrung der Masse bewirken, stellen grundsätzlich keine Handlungen des Insolvenzverwalters iSv. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO dar und begründen daher grundsätzlich keine Masseverbindlichkeiten. Löst ein solches Rechtsgeschäft einen Anspruch aus, mit dem eine bereits vor Insolvenzeröffnung erbrachte Arbeitsleistung entgolten wird, liegt eine Insolvenzforderung iSv. § 38 InsO vor.
Orientierungssatz
1. Nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sind Masseverbindlichkeiten die Forderungen, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören. Kennzeichen einer solchen Masseverbindlichkeit ist das Äquivalenzprinzip. Der Insolvenzverwalter begründet Masseverbindlichkeiten, um dadurch eine Gegenleistung für die Masse zu erhalten und für diese nutzbar zu machen.
2. Fließt der Masse keine Gegenleistung zu, sondern handelt der Insolvenzverwalter allein zur Abwicklung von Arbeitsverhältnissen, die bereits vor der Verfahrenseröffnung vom Schuldner begründet waren, werden dadurch grundsätzlich keine Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO begründet.
3. Für das Vorliegen einer Insolvenzforderung nach § 38 InsO ist nicht erforderlich, dass die Forderung selbst im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schon entstanden oder fällig war. Es genügt, dass der „Schuldrechtsorganismus”, der die schuldrechtliche Grundlage des Anspruchs bildet, bereits vor Insolvenzeröffnung bestanden hat und damit der Rechtsgrund für die Forderung vor Eröffnung gelegt war.
4. Voraussetzung für einen individuellen Anspruch auf Auszahlung aus dem ERA-Anpassungsfonds ist nach § 4 Buchst. e TV ERA-APF, dass eine Betriebsvereinbarung geschlossen wird. Handelt auf Arbeitgeberseite der Insolvenzverwalter, nimmt dieser damit keine Handlung iSd. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor. Der Masse fließt dadurch keine Gegenleistung zu.
5. Ansprüche auf Auszahlung aus dem ERA-Anpassungsfonds sind Entgelt für in der Vergangenheit geleistete Arbeit und erfüllen eine in früheren Tarifperioden entstandene Verbindlichkeit des Schuldners. Der Abschluss der Betriebsvereinbarung ist lediglich ein tariflich vorgeschriebener Teil der Abwicklung der bereits für den Schuldner begründeten Verpflichtungen. Dadurch wird der individuelle Anspruch auf die Auszahlung des vor Insolvenzeröffnung erdienten und in die Strukturkomponenten geflossenen Entgelts ausgelöst. Der Auszahlungsanspruch ist darum eine Insolvenzforderung nach § 38 InsO.
6. Für eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO ist eine synallag-matische Verknüpfung zwischen dem Anspruch und der nach Insolvenzeröffnung erbrachten Arbeitsleistung erforderlich. Dafür genügt es nicht, dass Anspruchsvoraussetzung der Bestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der nach Insolvenzeröffnung erfolgenden Auszahlung ist. Erforderlich ist darüber hinaus, dass zumindest ein Teil der Forderung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nach der Insolvenzeröffnung zugeordnet werden kann.
Normenkette
InsO §§ 38, 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2; Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern und Südbaden (TV ERA-APF) vom 18. Dezember 2003 §§ 3-4; Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds Baden-Württemberg vom 11. November 2013 § 2
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.10.2016; Aktenzeichen 8 Sa 35/16) |
ArbG Stuttgart (Urteil vom 12.05.2016; Aktenzeichen 12 Ca 448/16) |
Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 4. Oktober 2016 – 8 Sa 35/16 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart – Kammern Ludwigsburg – vom 12. Mai 2016 – 12 Ca 448/16 – abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die insolvenzrechtliche Einordnung der Zahlung aus dem ERA-Anpassungsfonds.
Die Klägerin war als Sachbearbeiterin bei der Schuldnerin, über deren Vermögen am 1. Juli 2015 unter Bestellung des Beklagten zum Insolvenzverwalter das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg Anwendung. Die Schuldnerin hatte im Jahr 2007 die ERA-Tarifverträge eingeführt.
Im Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern und Südbaden vom 18. Dezember 2003 (TV ERA-APF) ist auszugsweise bestimmt:
Der ERA-Anpassungsfonds dient der Sicherstellung eines gleitenden Übergangs vom heutigen Tarifsystem auf das ERA-Entgeltsystem für alle Beteiligten. Insbesondere sollen durch die vorübergehende Einbehaltung nicht ausgezahlter ERA-Strukturkomponenten und deren spätere Verwendung entweder
spätere Verwerfungen bei der Umstellung vermieden werden.
§ 3 |
Aufbau und Verwendung des ERA-Anpassungsfonds |
In den Entgeltabkommen der Tarifgebiete (Nordwürttemberg/Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern, Südbaden) vom 15.05.2002 wurden die Erhöhungen des Tarifvolumens auf zwei Komponenten verteilt. Eine Komponente dient der dauerhaften Erhöhung der Tabellenwerte der jeweiligen Entgelte (Löhne und Gehälter, ‚lineares Volumen’). Die andere Komponente (‚restliches Erhöhungsvolumen’) fließt in ERA-Strukturkomponenten, die in der ersten Tarifperiode ausgezahlt, in den folgenden Tarifperioden jedoch noch nicht fällig werden.
…
§ 4 |
ERA-Strukturkomponente und ERA-Anpassungsfonds |
Die in den Entgeltabkommen, dort jeweils § 2.1 a.E., vereinbarten ERA-Strukturkomponenten werden wie folgt ermittelt und verwendet:
a) |
Erstmalige Auszahlung von ERA-Strukturkomponenten |
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In der Tarifperiode, in der sie erstmals entstehen, werden die jeweiligen ERA-Strukturkomponenten individuell nach den Grundsätzen des Entgeltabkommens vom 15. Mai 2002 (siehe dort § 4.2) als Teil der Vergütung ermittelt und zu den dort genannten sowie weiteren, für die künftigen ERA-Strukturkomponenten tariflich noch festzulegenden Stichtagen zur Auszahlung an die Beschäftigten fällig. |
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… |
b) |
In den jeweils folgenden Tarifperioden nach ihrer erstmaligen Begründung/Entstehung werden die jeweiligen ERA-Strukturkomponenten aus den vorhergehenden Tarifperioden zwar ebenfalls als Teil der Vergütung ermittelt, aber nicht ausgezahlt, sondern zunächst einbehalten und dem ERA-Anpassungsfonds zugeführt. Die bei der betrieblichen ERA-Einführung in den ERA-Anpassungsfonds befindlichen Beträge müssen entweder zur Deckung betrieblicher Mehrkosten aus der ERA-Einführung oder zur Auszahlung an die Beschäftigten verwendet werden. |
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… |
d) |
Ermittlung und ‚Führung’ der einbehaltenen und nicht ausgezahlten ERA-Strukturkomponenten |
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In den der Auszahlungstarifperiode folgenden Tarifperioden werden die ERA-Strukturkomponenten pauschal (d.h. nicht individuell) zunächst wie folgt ermittelt: |
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Das Volumen der im vorangegangenen Geschäftsjahr einbehaltenen und nicht ausgezahlten ERA-Strukturkomponenten wird berechnet, indem der Teil der Bruttolohn- und -gehaltssumme, der bei der Berechnung der letzten ausgezahlten ERA-Strukturkomponente vor dem Zuführungsmonat zugrunde gelegt wurde (Bezugsbasis), mit den folgenden Faktoren multipliziert wird: |
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… |
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Der so ermittelte Betrag wird am Ende des Geschäftsjahrs auf das betriebliche ERA-Konto gebucht. |
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… |
e) |
Spätere Verwendung der Mittel aus dem ERA-Anpassungsfonds |
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Die auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge sind eine Verbindlichkeit des Arbeitgebers aus tariflichen Entgelten, die in früheren Tarifperioden entstanden sind, aber nicht ausgezahlt wurden. Die Beträge dürfen nach diesen verbindlichen Vereinbarungen nur für die in § 2 genannten Zwecke verwendet werden. |
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… |
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Im Einzelnen gilt Folgendes: |
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Die Auszahlung ist in einer Betriebsvereinbarung zu regeln. |
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Eine Auszahlung (auch von Teilbeträgen) vor der betrieblichen ERA-Einführung ist unzulässig. |
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Zu Anspruchsberechtigten können nur diejenigen Beschäftigten bestimmt werden, die zum Aufbau des ERA-Anpassungsfonds beigetragen haben und zum Zeitpunkt der späteren Auszahlung in einem Arbeitsverhältnis im Betrieb stehen. |
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Individuelle Ansprüche auf Beträge aus dem ERA-Anpassungsfonds bestehen vor In-Kraft-Treten dieser Betriebsvereinbarung nicht. Individuelle Konten werden nicht geführt. |
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Es ist die Auszahlung des Volumens an ERA-Strukturkomponenten zu vereinbaren, das sich zum Stichtag nach den obigen Berechnungen auf dem ERA-Konto befindet. …” |
Am 11. November 2013 wurde für das Land Baden-Württemberg ein neuer TV ERA-APF mit Wirkung zum 1. März 2014 vereinbart (im Folgenden TV ERA-APF 2013). Nach dessen § 2 gelten die §§ 2 und 4 des TV ERA-APF vom 18. Dezember 2003 weiter.
Am 29. Oktober 2015 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat der Schuldnerin eine Betriebsvereinbarung über die Auszahlung des ERA-Anpassungsfonds. Danach sind die nicht verbrauchten Mittel des ERA-Anpassungsfonds von 76.407,00 Euro zu gleichen Teilen an die 36 Mitarbeiter auszuzahlen, die die Voraussetzungen des § 4 Buchst. e TV ERA-APF erfüllten. Zu diesem Personenkreis gehört auch die Klägerin.
Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom 10. Dezember 2015 begehrt die Klägerin die Auszahlung des auf sie entfallenden Anteils am ERA-Anpassungsfonds. Auf das Entgeltvolumen im Anpassungsfonds habe noch kein individueller Anspruch der einzelnen Arbeitnehmer bestanden. Der Auszahlungsanspruch sei erst mit Abschluss der Betriebsvereinbarung entstanden und darum eine Masseverbindlichkeit.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 2.122,42 Euro brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30. Oktober 2015 zu zahlen.
Der Beklagte hat zur Begründung seines Antrags auf Abweisung der Klage vorgetragen, Rechtsgrund für die streitbefangene Forderung sei die tarifliche Regelung im TV ERA-APF und die tatsächliche, von der Klägerin vor Insolvenzeröffnung erbrachte Arbeitsleistung. Soweit die Tarifvertragsparteien festgelegt hätten, dass vor Abschluss einer Betriebsvereinbarung keine individuellen Ansprüche entstünden, diene das nur der Vermeidung von Leistungsklagen einzelner Arbeitnehmer. Der Auszahlungsanspruch der Klägerin sei daher eine Insolvenzforderung.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte weiterhin Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Anspruch der Klägerin nach § 4 Buchst. e TV ERA-APF auf Auszahlung des auf sie entfallenden Anteils der am 29. Oktober 2015 auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen eine Insolvenzforderung. Die Klage ist darum unbegründet.
I. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts ist der Auszahlungsanspruch der Klägerin aus dem ERA-Anpassungsfonds keine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO. Er ist nicht durch eine Handlung des Beklagten begründet worden. Der Abschluss der Betriebsvereinbarung vom 29. Oktober 2015 durch den Beklagten war zwar Voraussetzung für den individuellen Auszahlungsanspruch der Klägerin. Die Betriebsvereinbarung löste den Zahlungsanspruch, dessen Rechtsgrund bereits durch den TV ERA-APF gelegt war, jedoch nur noch aus. Nach der tariflichen Ausgestaltung war die Betriebsvereinbarung lediglich Teil der Abwicklung der bereits vor Verfahrenseröffnung für die Schuldnerin begründeten Verpflichtungen. Verbindlichkeiten der Masse entstanden daraus nicht.
1. Eine Insolvenzforderung (§ 38 InsO) liegt vor, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand schon vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen ist. Das ist insolvenzrechtlich betrachtet der Fall, wenn das Schuldverhältnis bereits vor Verfahrenseröffnung bestand, selbst wenn sich eine Forderung daraus erst nach Verfahrenseröffnung ergibt (BAG 12. September 2013 – 6 AZR 980/11 – Rn. 35, BAGE 146, 64; BGH 15. September 2016 – IX ZR 250/15 – Rn. 17). Unerheblich ist daher, ob die Forderung selbst im Zeitpunkt der Eröffnung schon entstanden oder fällig war. Es genügt, dass die schuldrechtliche Grundlage des Anspruchs vor Eröffnung entstanden ist (BGH 22. September 2011 – IX ZB 121/11 – Rn. 3), also ihr Rechtsgrund bei Eröffnung gelegt war (BVerwG 26. Februar 2015 – 3 C 8.14 – Rn. 14, BVerwGE 151, 302; MüKoInsO/ Ehricke 3. Aufl. § 38 Rn. 16; Uhlenbruck/Sinz 14. Aufl. § 38 InsO Rn. 30). Bildhaft ausgedrückt muss der „Schuldrechtsorganismus”, der die Grundlage des Anspruchs bildet, bereits bestanden haben (vgl. BAG 24. September 2003 – 10 AZR 640/02 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 108, 1; BVerwG 26. Februar 2015 – 3 C 8.14 – aaO; BFH 2. November 2010 – I E 8/10 – Rn. 14; BSG 18. Dezember 2003 – B 11 AL 37/03 R – zu 3.2 der Gründe, BSGE 92, 82; MüKoInsO/Ehricke aaO). Dagegen fallen erst künftig entstehende Ansprüche nicht unter § 38 InsO (BGH 13. Oktober 2011 – IX ZB 80/10 – Rn. 7).
2. Nach diesem Maßstab war die Auszahlung aus dem ERA-Anpassungsfonds im Zeitpunkt der Eröffnung der Insolvenz nicht nur in Aussicht genommen und damit kein erst künftig entstehender Anspruch (vgl. dazu Henckel in Jaeger InsO § 38 Rn. 89). Der Abschluss der Betriebsvereinbarung war Teil der Abwicklung der für die Schuldnerin begründeten Verpflichtungen durch den Beklagten. Er löste den Anspruch auf die Auszahlung aus dem Fonds, der nach der tariflichen Ausgestaltung bereits mit dem Einbehalt eines Teils der tariflichen Vergütung und der Zuführung an den ERA-Anpassungsfonds iSv. § 38 InsO begründet war, nur noch aus.
a) Der Abschluss der in § 4 Buchst. e TV ERA-APF vorgesehenen Betriebsvereinbarung war zwar im schuldrechtlichen Sinn anspruchsbegründend für den Anspruch auf Auszahlung der auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge (vgl. für den inhaltsgleichen TV ERA-APF Saarland BAG 14. November 2012 – 5 AZR 778/11 – Rn. 17). Vor Abschluss einer solchen Betriebsvereinbarung bestanden keine individuellen Entgeltansprüche der Arbeitnehmer iSv. § 194 BGB. Eine Stundung lag nicht vor (vgl. für den inhaltsgleichen TV ERA-APF Küste BAG 27. Juni 2012 – 5 AZR 317/11 – Rn. 14). Die schuldrechtliche Grundlage für diesen Anspruch war jedoch aufgrund der Regelungen des TV ERA-APF bereits vor Insolvenzeröffnung durch den Einbehalt eines Teils der tariflichen Vergütung entstanden.
aa) Um nach der Einführung des einheitlichen Entgeltsystems für Arbeiter und Angestellte durch das Entgeltrahmenabkommen (ERA) Kostenneutralität zu erreichen, wurden die tariflichen Entgelterhöhungen seit 2002 in einen tabellenwirksamen Teil (lineares Volumen, § 3 Satz 2 TV ERA-APF) und einen nicht tabellenwirksam werdenden Zahlbetrag (restliches Erhöhungsvolumen, § 3 Satz 3 TV ERA-APF) aufgespalten (vgl. BAG 14. November 2012 – 5 AZR 778/11 – Rn. 16 f.). Das „restliche Erhöhungsvolumen” floss in sog. Strukturkomponenten. Diese wurden gemäß § 4 Buchst. d TV ERA-APF nicht individuell, sondern pauschal mit einem tariflich festgesetzten Faktor der Bruttolohn- und -gehaltssumme berechnet (vgl. dazu BAG 27. Juni 2012 – 5 AZR 317/11 – Rn. 14). Gleichwohl wurden sie gemäß § 4 Buchst. b TV ERA-APF als Teil der Vergütung ermittelt. Jede ERA-Strukturkomponente war integraler Bestandteil der Tariflohnerhöhung. Die nicht ausgezahlten Beträge waren Teil der tariflichen Vergütung (vgl. BAG 14. November 2012 – 5 AZR 778/11 – Rn. 16; 9. November 2005 – 5 AZR 105/05 – Rn. 20).
bb) Dieser Vergütungsbestandteil war jedoch mit Ausnahme des ersten Jahres seiner Entstehung gemäß § 3 Satz 3 TV ERA-APF noch nicht fällig, sondern wurde zunächst einbehalten und gemäß § 4 Buchst. b TV ERA-APF dem ERA-Anpassungsfonds zugeführt. Die auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge sind darum gemäß § 4 Buchst. e TV ERA-APF eine Verbindlichkeit des Arbeitgebers aus tariflichen Entgelten, die in früheren Tarifperioden entstanden sind, aber nicht ausgezahlt wurden. Bleiben die durch die ERA-Einführung entstandenen Mehrkosten innerhalb des tariflich vorausgesetzten Rahmens, müssen die auf dem ERA-Konto verbliebenen Beträge gemäß § 4 Buchst. e TV ERA-APF an die Beschäftigten ausgezahlt werden, die zum Aufbau des Fonds beigetragen haben und die im Zeitpunkt der Auszahlung noch in einem Arbeitsverhältnis zum Betrieb stehen (zum ERA-System vgl. Herzig/Bohn BB 2006, 1551; Frey BB 2005, 1044). Dabei ist eine Auszahlung von Teilbeträgen des Fonds vor der ERA-Einführung unzulässig. Individuelle Konten werden nicht geführt. Die Auszahlung ist in einer Betriebsvereinbarung zu regeln. Vor Inkrafttreten einer solchen Betriebsvereinbarung besteht kein individueller Anspruch auf Beträge aus dem Fonds.
b) Nach dieser tariflichen Ausgestaltung war die für die Entstehung des schuldrechtlichen Anspruchs auf die Auszahlung aus dem TV ERA-APF erforderliche Betriebsvereinbarung lediglich ein tariflich vorgeschriebener Teil der Abwicklung der bereits für die Schuldnerin begründeten Verpflichtungen. Nach dem Zweck des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO war der Abschluss der Betriebsvereinbarung vom 29. Oktober 2015 deshalb keine Handlung des Beklagten, die zur Begründung einer Masseverbindlichkeit führte.
aa) Die Eingehung von Masseverbindlichkeiten dient der ordnungsgemäßen Verfahrensabwicklung und der Verteilung der Masse. Der Gesetzgeber hat ihren Kreis bewusst eng gefasst (BGH 2. Februar 2006 – IX ZR 46/05 – Rn. 14). Gemäß § 1 Satz 1 InsO ist es Ziel des Insolvenzverfahrens, alle Gläubiger des Schuldners im Regelfall gemeinschaftlich zu befriedigen. Wäre der Verwalter aber nicht in der Lage, Verträge zu erfüllen, die er zur Erhaltung, Vermehrung und Verwertung der Masse schließt oder fortsetzt, wäre die Verwaltung und Verwertung des Schuldnervermögens zum Zweck der Befriedigung der Insolvenzgläubiger nicht möglich. Darum sind Masseverbindlichkeiten vor den quotal zu befriedigenden Insolvenzgläubigern in voller Höhe aus der Masse zu begleichen (Henckel in Jaeger InsO § 55 Rn. 5; MüKoInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 55 Rn. 1; Berscheid jurisPR-InsR 8/2011 Anm. 5 zu C 2.1.1). Daraus folgt, dass die Annahme einer Insolvenzforderung die Regel ist, die Begründung einer Masseverbindlichkeit jedoch die Ausnahme (vgl. BAG 27. Juli 2017 – 6 AZR 801/16 – Rn. 28).
bb) Ausgehend von diesem Zweck sind Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO grundsätzlich nur dann anzuerkennen, wenn der Insolvenzverwalter mit dem Ziel handelt, der Masse etwas zuzuführen. Kennzeichen der Masseverbindlichkeit ist, dass die von der Masse aufzubringende Leistung das Äquivalent für die ihr zufließende Gegenleistung darstellt. Rechtsgeschäfte, die lediglich zur Abwicklung der bereits für den Schuldner begründeten Verpflichtungen erforderlich sind und die keine Mehrung der Masse bewirken, stellen daher grundsätzlich keine Handlungen des Insolvenzverwalters iSv. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO dar (BSG 30. November 2011 – B 11 AL 22/10 R – Rn. 13; MüKoInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 55 Rn. 14, 18; Berscheid jurisPR-InsR 8/2011 Anm. 5 zu C 2.1.1).
cc) Durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung und die dadurch ausgelösten Ansprüche auf die Auszahlung der auf dem ERA-Konto befindlichen Beträge floss der Masse keine Gegenleistung zu.
(1) Die Tarifvertragsparteien haben im TV ERA-APF die Verfügungsmacht des Arbeitgebers über die dem ERA-Konto zuzuführenden Beträge nicht eingeschränkt. Sie haben in § 4 Buchst. d TV ERA-APF lediglich festgelegt, dass diese Beträge auf das „betriebliche ERA-Konto” zu buchen sind. Die auf diesem Konto separierten Beträge, dessen Inhaberin allein die Schuldnerin war, gehörten zur Insolvenzmasse (vgl. BAG 24. September 2003 – 10 AZR 640/02 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 108, 1).
(2) Leistungsvoraussetzungen und -inhalt der Auszahlungsansprüche sind bereits durch die Tarifvertragsparteien bestimmt worden. Danach sind Leistungen aus dem ERA-Anpassungsfonds Entgelt für bereits geleistete Arbeit (BAG 16. August 2011 – 1 AZR 314/10 – Rn. 17). Dabei handelt es sich um eine in früheren Tarifperioden entstandene Verbindlichkeit des Arbeitgebers. Das stellt der erste Unterabsatz des § 4 Buchst. e TV ERA-APF ausdrücklich klar. Der nicht zur Deckung von Mehrkosten aus der ERA-Einführung verbrauchte Betrag auf dem ERA-Konto muss gemäß § 4 Buchst. e TV ERA-APF an die anspruchsberechtigten Beschäftigten ausgezahlt werden. Der Anspruchsgrund ist damit von den Tarifvertragsparteien gelegt. Die Betriebsparteien haben nach dieser tariflichen Ausgestaltung nur noch die Aufgabe, nach Maßgabe der tariflich vorgegebenen Voraussetzungen die Auszahlung des auf dem ERA-Konto verbliebenen Volumens an ERA-Strukturkomponenten zu vereinbaren (BAG 16. August 2011 – 1 AZR 314/10 – Rn. 16, 18). Der dafür erforderliche Abschluss der Betriebsvereinbarung ist nur ein – tariflich vorgeschriebener – Teil der Abwicklung der bereits bei Verfahrenseröffnung bestehenden Verpflichtungen, den ohne die Insolvenz die Schuldnerin selbst hätte vornehmen müssen (vgl. BAG 13. Dezember 1978 – GS 1/77 – zu Teil III B 2 a der Erwägungen des Großen Senats, BAGE 31, 176). Der Beklagte hat dadurch entgegen der Ansicht der Vorinstanzen keine Masseverbindlichkeit begründet, sondern nur den Anspruch auf die Auszahlung des vor Insolvenzeröffnung erdienten, aber einbehaltenen Entgelts ausgelöst. Dieser Anspruch ist daher eine Insolvenzforderung. Insoweit gilt nichts anderes als für eine vom Insolvenzverwalter erklärte Kündigung, die den tariflichen Anspruch auf eine Abfindung (BAG 27. April 2006 – 6 AZR 364/05 – Rn. 15, BAGE 118, 115) oder den Anspruch auf die Rückzahlung eines Eingliederungszuschusses (BSG 30. November 2011 – B 11 AL 22/10 R – Rn. 12 ff.) auslöst.
c) Der Einordnung als Insolvenzforderung steht nicht entgegen, dass der zur Auszahlung gelangende Entgeltbestandteil bis zum Abschluss der Betriebsvereinbarung vom 29. Oktober 2015 seiner Höhe nach nicht bestimmbar war (vgl. Henckel in Jaeger InsO § 38 Rn. 89). Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts folgt auch daraus, dass gemäß § 4 Buchst. e TV ERA-APF vor Abschluss der Betriebsvereinbarung kein individueller Anspruch auf Beträge aus dem ERA-Anpassungsfonds besteht, nicht, dass es sich bei dem Auszahlungsanspruch um eine erst nach der Eröffnung entstandene Forderung handelt. Damit wollen die Tarifvertragsparteien offenkundig lediglich sicherstellen, dass nicht einzelne Beschäftigte, insbesondere solche, die aus dem Betrieb ausscheiden wollen, ihren Anteil aus dem Anpassungsfonds verlangen und ggf. einklagen können, bevor die ERA-Einführung abgeschlossen ist. Nur so lässt sich der tarifliche Leistungszweck erreichen, mit den Beträgen auf dem ERA-Konto vorrangig die Kosten zu decken, die künftig durch die ERA-Einführung entstehen (vgl. BAG 27. Juni 2012 – 5 AZR 317/11 – Rn. 14).
d) Entgegen der Ansicht der Klägerin kann die insolvenzrechtliche Behandlung von Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsansprüchen zur Einordnung der streitbefangenen Forderung nicht herangezogen werden. Dabei handelt es sich um Masseverbindlichkeiten, weil der Urlaub keine Gegenleistung für eine bestimmte Arbeitsleistung ist und sich darauf richtet, von der Arbeitspflicht freigestellt zu werden. Sie können deshalb keinem bestimmten insolvenzrechtlichen Zeitraum zugeordnet werden (BAG 15. Februar 2005 – 9 AZR 78/04 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 113, 371; 18. November 2003 – 9 AZR 95/03 – zu B II 2 b der Gründe, BAGE 108, 357).
II. Der streitbefangene Auszahlungsanspruch ist auch keine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO. Voraussetzung dafür ist nach ständiger Rechtsprechung, dass eine Leistung mit Entgeltcharakter vorliegt, die im weitesten Sinn „für die Zeit” nach Insolvenzeröffnung geschuldet ist. Der Anspruch muss also in einem zumindest teilweise synallagmatischen Verhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung stehen (zuletzt BAG 12. September 2013 – 6 AZR 980/11 – Rn. 32, BAGE 146, 64). Zwar ist der Anspruch auf die Auszahlung nach § 4 Buchst. e TV ERA-APF davon abhängig, dass das Arbeitsverhältnis noch im Zeitpunkt der Auszahlung besteht. Das allein genügt für die erforderliche synallagmatische Verknüpfung jedoch nicht. Es fehlt an der erforderlichen Zuordnung zumindest eines Teils des am 29. Oktober 2015 auf dem ERA-Konto befindlichen Betrags zur Arbeitsleistung, die die Klägerin nach der am 1. Juli 2015 erfolgten Insolvenzeröffnung erbrachte (vgl. BAG 19. Juli 2007 – 6 AZR 1087/06 – Rn. 25, BAGE 123, 269). Spätestens seit dem 1. März 2014 wurde der ERA-Anpassungsfonds nicht mehr aufgebaut. Der TV ERA-APF 2013 erklärt nur § 2 und § 4 des TV ERA-APF vom 18. Dezember 2003 für weiterhin anwendbar, nicht aber § 3, in dem der Aufbau des Fonds geregelt war.
III. Auch der Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit spricht dafür, die streitbefangene Forderung als Insolvenzforderung anzusehen. Anderenfalls könnten der Schuldner bzw. die Betriebsparteien durch die Wahl des Zeitpunkts, in dem die zur Fälligkeit des Auszahlungsanspruchs nach § 4 Buchst. e TV ERA-APF erforderliche Betriebsvereinbarung geschlossen wird, den insolvenzrechtlichen Rang des Auszahlungsanspruchs beeinflussen. Sie könnten damit die Masse zum Nachteil der übrigen Insolvenzgläubiger schmälern (vgl. BAG 27. April 2006 – 6 AZR 364/05 – Rn. 23, BAGE 118, 115).
IV. Die Einordnung des Auszahlungsanspruchs aus dem ERA-Anpassungsfonds steht im Einklang mit der steuerrechtlichen Behandlung der Beträge des ERA-Anpassungsfonds. Danach sind wegen der Verpflichtungen zur Auszahlung aus dem Anpassungsfonds Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden, weil diese Verpflichtungen wirtschaftlich vor dem Bilanzstichtag verursacht worden sind. Diese Verpflichtungen finden ihren wesentlichen wirtschaftlichen Bezugspunkt im TV ERA-APF und knüpfen an Vergangenes, nämlich die Tarifvereinbarung, an und gelten Vergangenes, nämlich die am Bilanzstichtag nicht ausgezahlten Entgelterhöhungen, ab (Schreiben des BMF vom 2. April 2007 – IV B 2 – S 2137/07/0003 BB 2007, 937; Herzig/Bohn BB 2006, 1551, 1559).
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Fischermeier, Spelge, Krumbiegel, Sieberts, C. Klar
Fundstellen
Haufe-Index 11571754 |
BAGE 2018, 368 |
BB 2018, 755 |
DB 2018, 6 |