Leitsatz (amtlich)
Im Rahmen der Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutz ist das Interesse des Versicherten an der Behandlung seiner eingeschränkten Fortbewegungsfähigkeit stärker zu gewichten, als das Interesse der Versichertengemeinschaft vor gg. im nachhinein zu Unrecht erbrachten Leistungen der Krankenversicherung geschützt zu werden.
Zur wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung bei eingeschränkter Mobilität.
Tenor
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 7.2.2013 wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache, längstens befristet bis zum 31.5.2014 verpflichtet, die Antragstellerin nach ärztlicher Verordnung mit Dronabinol zu versorgen.
II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist im einstweiligen Rechtsschutz streitig ein vorläufiger Anspruch der Antragstellerin auf Leistung von Rezepturarzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol.
Dronabinol ist der isolierte Hauptwirkstoff der Cannabispflanze. Das Arzneimittel wird zur Anwendung in Dragee- oder Tropfenform oder zur Inhalation von einer Apotheke nach ärztlicher Verordnung hergestellt. Dronabinol ist ein verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel nach dem Betäubungsmittelgesetz.
Die Antragstellerin, geboren 1969, ist an Multipler Sklerose erkrankt. Es besteht ein vorherrschend schubförmiger Verlauf. Die Antragstellerin ist aufgrund einer ausgeprägten spastischen Tetraparese mit Lähmungserscheinungen vor allem an den Beinen in ihrer Gehfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Längere Strecken kann die Antragstellerin nur noch mit dem Rollstuhl zurücklegen. Dabei bestehen zusätzliche Schwierigkeiten bei der Fortbewegung im Rollstuhl aufgrund einer zunehmenden schmerzhaften Spastik an der rechten Hand. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen "G", "aG" und "B" sind vom Zentrum Bayern Familie und Soziales, Versorgungsamt, festgestellt. Die Antragstellerin bezieht von der Deutschen Rentenversicherung Schwaben eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und erhält Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch das Jobcenter A-Stadt. Ein monatliches Pflegegeld wird für die bei der Antragstellerin festgestellte Pflegestufe I ausgezahlt.
Die Antragstellerin hatte zunächst bis Dezember 2011 Dronabinol auf Kassenrezept erhalten. Danach hat die Antragstellerin Dronabinol in den Monaten Februar bis Juni 2012 auf Privatrezept bezogen und die Kosten selbst getragen. Der behandelnde Facharzt für Neurologie Dr. A. hat nach Ende der Dronabinol-Therapie im Juni 2012 "wiederum extreme Zuckungen" protokolliert. Eine sich daran anschließende Behandlung mit dem Arzneimittel Sativex(r) wurde nach Schwindelanfällen und Gleichgewichtsstörungen bereits nach einem Monat beendet. Dr. A. dokumentierte daraufhin wieder eine "massive Spastik" und "massive Schmerzen". Unter dem Datum 13.12.2012 hat Dr. A. vermerkt, dass ohne Dronabinol-Verabreichung weiterhin stark einschießende und schmerzhafte Verkrampfungen besonders der Beinmuskulatur bestünden, dass andere Medikamente bis "zum Anschlag" austherapiert seien und bei weiteren Dosiserhöhungen nicht mehr erträgliche oder im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Antragstellerin gefährliche Nebenwirkungen aufträten. Längere Strecken seien von der Antragstellerin im Verlauf des Jahres 2012 nur noch mit einem Rollstuhl zu bewältigen gewesen. Es sei zu einer drastischen Gehverschlechterung gekommen. Die Nutzung des Rollstuhls sei wegen der zunehmenden schmerzhaften Spastik in der rechten Hand ebenfalls nur noch sehr eingeschränkt möglich gewesen. Im Dezember 2012 wurde der Antragstellerin ein Port eingesetzt zur Erleichterung von intravenösen Medikamentengaben. Auf den Inhalt des vom Sozialgericht Augsburg eingeholten Befundberichts von Dr. A. vom 23.12.2012, Bl. 79 ff der Akte S 12 KR 573/12, wird ausdrücklich Bezug genommen. Die praktische Ärztin Dr. L. hat in einem ebenfalls für das Sozialgericht Augsburg erstellten Befundbericht angegeben, die Antragstellerin habe unter der Therapie mit Dronabinol über "eine deutliche Verringerung der einschließenden Spastiken und der daraus resultierenden Schmerzen" berichtet. Das Gehen und die Bewältigung des Alltags seien deutlich besser gelungen. Auf den Inhalt des Befundberichts vom 20.12.2012, Bl. 71 f. der Akte S 12 KR 573/12 wird verwiesen.
Mit Schreiben vom 18.12.2011 hatte die Antragstellerin bereits bei der Antragsgegnerin eine Kostenübernahme für die Behandlung mit Dronabinol beantragt. Mit Schreiben vom 9.3.2012 lehnte die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf eine eingeholte Stellungnahme des MDK Bayern eine Kostenübernahme im Rahmen des Off-Label-Use ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 4.10.2012 wies die Antragsgegnerin den dagegen eingelegten Widerspruch als unbegründet zurück und sah eine Verordnungsfähigkeit von Dronabinol auf Kosten der gesetzlichen Krankenversiche...